JudikaturJustizBsw26922/14

Bsw26922/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. November 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Toranzo Gomez gg. Spanien, Urteil vom 20.11.2018, Bsw. 26922/14.

Spruch

Art. 10 EMRK - Verurteilung wegen Verleumdung nach öffentlicher Bezeichnung polizeilicher Maßnahmen als "Folter".

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.200,– für materiellen Schaden; € 4.000,– für immateriellen Schaden; € 3.025,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Beim Bf. handelt es sich um das Mitglied einer Gruppe von Aktivisten, die das Sozialzentrum Casas Viejas in Sevilla besetzt hatten.

Am 29.11.2007 betrat die Polizei das Gebäude, um eine gerichtliche Räumungsanordnung zu vollziehen. Ein Teil der Besetzer weigerte sich allerdings, es zu verlassen. Aus Protest gegen die Räumung begaben sich der Bf. und ein Mitstreiter in einen Tunnel, den die Besetzer unter der Erde gegraben hatten. Die Polizei verhandelte mit ihnen während des ganzen Tages über eine Aufgabe. Um herauszufinden, ob die beiden sich im Tunnel am Boden festgemacht hatten, befestigten Polizisten schließlich an der Taille bzw. am Handgelenk der Bf. ein Seil und versuchten, sie aus dem Tunnel zu ziehen. Das gelang ihnen jedoch nicht.

Am 30.11.2007 wurden der Bf. und der andere im Tunnel befindliche Mann mit Stricken fixiert, nachdem sie gedroht hatten, von der Feuerwehr im Tunnel installierte Stabilisierungspfosten umzustürzen. Am Abend des 30.11. gaben die beiden aufgrund des durch die Fixierung verursachten Leidens ihren Widerstand auf. Sie wurden sofort festgenommen.

Am 1.12.2007 nahm der Bf. an einer Pressekonferenz teil, bei der er die Räumung und die dabei von der Polizei und Feuerwehr eingesetzten Techniken kommentierte. Er schilderte die von der Polizei gesetzten Maßnahmen im Detail und bezeichnete sie mehrfach als psychische und körperliche »Folter«.

Aufgrund dieser Äußerungen wurde der Bf. am 6.7.2011 strafrechtlich wegen Verleumdung verurteilt und zur Zahlung einer Entschädigung an zwei Polizisten verpflichtet. Das Gericht befand, dass die Polizei verhältnismäßig vorgegangen sei, vom Bf. aber fälschlich der Begehung einer Straftat, nämlich Folter, bezichtigt worden wäre. Insbesondere hätte das Verhalten der Polizisten nicht alle Elemente umfasst, die in der rechtlichen Definition von Folter in Art. 174 StGB enthalten waren.

Die Audiencia Provincial von Sevilla bestätigte das erstinstanzliche Urteil am 28.6.2013 im Wesentlichen. Das Verfassungsgericht erklärte die vom Bf. gegen dieses Urteil erhobene Beschwerde am 21.10.2013 für unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch seine Verurteilung wegen Verleumdung.

Zulässigkeit

(33) [...] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(46) Es steht zwischen den Parteien außer Streit, dass die angefochtenen innerstaatlichen Entscheidungen einen Eingriff in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung [...] begründeten.

(47) Es ist [ebenso] unbestritten, dass die angefochtene Maßnahme in den Art. 205 und 206 [...] StGB eine Grundlage fand. Auch verfolgte der Eingriff das legitime Ziel des Schutzes »des guten Rufes oder der Rechte anderer«.

(53) Im vorliegenden Fall sieht sich der GH der Notwendigkeit gegenüber, einen Ausgleich zwischen zwei Konventionsrechten zu schaffen: Dem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK und dem Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK. [...]

Natur der Äußerungen des Bf.

(54) Es ist nicht erforderlich zu entscheiden, ob der Bf. Folter unterworfen wurde. Die relevante Frage ist vielmehr, ob die Äußerungen des Bf. ihrer Art nach Schutz unter Art. 10 EMRK genossen [...].

(55) Um das Gewicht des Interesses des Bf. an der Ausübung seines Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit zu beurteilen, muss der GH zunächst die Natur der Äußerungen des Bf. prüfen, mit denen er zwei Polizeibeamte beschuldigte, Foltertechniken verwendet zu haben. [...] Der GH hält vorweg fest, dass die von der Polizei verwendeten Methoden gemäß den Urteilen des Strafgerichts und der Audiencia Provincial nicht nur aus Verhandlungen bestanden, sondern auch das Festbinden der Taille des Bf. mit einem Seil und den vehementen Versuch ihn herauszuziehen umfassten. Dabei wurde ihm mit dem Einsatz von Gas gedroht und er gewarnt, dass das ganze Gebäude sofort zusammenbrechen könnte. Ebenso wurde seine Hand für eine lange Zeitspanne in einer schmerzhaften Position an seinem Knöchel festgemacht.

(56) Auch wenn der GH zugestehen würde, dass der vom Bf. verwendete Stil ein gewisses Maß an Übertreibung miteinschloss, rügte dieser die Behandlung der Behörden während seiner Einschließung, die ihm unabhängig von dem Umstand, dass er sich selbst in diese Situation gebracht hatte, ein gewisses Maß an Qual, Angst sowie psychischem und physischem Leid bereitet haben musste.

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Kontext des Eingriffs und die von den spanischen Gerichten verwendete Methode, um die Verurteilung des Bf. zu rechtfertigen

(57) Zusätzlich bemerkt der GH, dass die Äußerungen des Bf. im Kontext gesehen werden müssen. Im vorliegenden Fall bezogen sie sich nicht auf einen Aspekt des Privatlebens der Polizeibeamten als solches, sondern mehr auf ihr offizielles Verhalten. Es gibt keinen Zweifel daran, dass das Verhalten von Behördenvertretern in der Ausübung ihrer staatlichen Gewalt und die möglichen Auswirkungen auf den Bf. und Dritte Angelegenheiten von öffentlichem Interesse sind.

(58) Nachdem der Bf. aus der Haft entlassen wurde, hielt er eine Pressekonferenz mit dem Ziel ab, seine Ansicht zu den von der Polizei verwendeten Methoden und zum Verhalten der Feuerwehrmänner kundzutun. Der GH beobachtet, dass der Bf. die von der Polizei und den Feuerwehrmännern eingesetzten Methoden sorgfältig beschrieb. Dies entsprach dem, was auch vor dem innerstaatlichen Gericht im Rahmen des Strafverfahrens belegt wurde. Zusätzlich bemerkt der GH, dass der Bf. durch die gründliche Beschreibung dieser Methoden keinen Raum für eine öffentliche Meinung ließ, sich etwas anderes vorzustellen, als das, was passiert war. Tatsächlich weist nichts in dem Fall darauf hin, dass die Behauptungen des Bf. nicht in gutem Glauben und in Verfolgung des legitimen Zieles aufgestellt wurden, eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse zu diskutieren.

(59) Der einzige nicht übereinstimmende Punkt liegt deshalb in der Charakterisierung dieser Fakten. Der GH befindet, dass der vom Bf. verwendete Ausdruck »Folter« nur als Werturteil ausgelegt werden kann, dessen Wahrheitsgehalt nicht beweisbar ist. Solche Werturteile können bei Fehlen einer Tatsachengrundlage exzessiv sein, angesichts der vorgenannten Elemente scheint dies vorliegend aber nicht der Fall gewesen zu sein. Die fragliche Tatsachengrundlage ist in den Urteilen des Strafgerichts und der Audiencia Provincial zu finden, welche die Polizeimethoden eindeutig beschrieben. Die Darstellung der Fakten [...] entspricht im Wesentlichen der Beschreibung des Bf. Der GH erwägt, dass der Bf. das Wort »Folter« auf eine umgangssprachliche Weise verwendete, um die polizeilichen Methoden und den seiner Ansicht nach exzessiven und unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch die Polizei sowie die Misshandlung anzuprangern, die ihm von Seiten der Polizei und der Feuerwehrmänner zuteil geworden seien.

Ausmaß, zu dem die einzelnen Polizisten und die Feuerwehrmänner betroffen waren

(60) Der GH stellt ebenso fest, dass nicht berücksichtigt wurde, ob die Äußerungen den Einsatz von Gewalt befürworteten oder ob zur Reaktion auf die Behauptungen andere Mittel zur Verfügung standen, bevor auf ein Strafverfahren zurückgegriffen wurde. Die Berücksichtigung dieser Elemente hat der GH [in seiner Rechtsprechung] als wesentlich erachtet. Tatsächlich gibt es weder in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte noch in der Stellungnahme der Regierung einen Verweis darauf, ob die Äußerungen des Bf. tatsächlich negative Konsequenzen für die Polizeibeamten hatten.

Schwere des Eingriffs

(62) Was die verhängte Strafe angeht, ist es absolut legitim, dass die staatlichen Institutionen als Garanten der institutionellen öffentlichen Ordnung von den zuständigen Behörden geschützt werden. Allerdings verlangt die dominante Position dieser Institutionen, dass die Behörden beim Rückgriff auf Strafverfahren Zurückhaltung an den Tag legen. [...] Die Natur und Schwere der verhängten Strafen sind ebenso bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu berücksichtigende Faktoren.

(63) Der GH hält fest, dass die innerstaatlichen Gerichte gegenüber dem Bf. angeordnet haben, für zwölf Monate eine Geldstrafe mit einem Tagessatz von € 10,– sowie eine Entschädigung von insgesamt €1.200,– zu bezahlen. Zusätzlich sollte der Bf., wenn er die Geldstrafe nicht freiwillig bezahlte, einem Tag Gefängnis pro zwei unbezahlter Tage Geldstrafe unterworfen werden. Außerdem wurde der Bf. auch verpflichtet, das Urteil auf seine eigenen Kosten in den Medien zu veröffentlichen, die von der Pressekonferenz berichtet hatten.

(64) Nach Ansicht des GH konnte die oben genannte Sanktion eine abschreckende Wirkung auf die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit durch den Bf. haben, da sie ihn entmutigen konnte, die Handlungen von Amtspersonen zu kritisieren.

Abwägung des Rechts des Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit gegen das Recht der Polizisten auf Achtung ihres Privatlebens

(65) Zuletzt bemerkt der GH, dass die Beschränkung des Rechts des Bf., die Handlungen der öffentlichen Gewalt zu kritisieren, indem ihm eine Verpflichtung auferlegt wurde, die rechtliche Definition von Folter im StGB präzise zu achten, ihm (wie auch einem Durchschnittsbürger) eine schwere Bürde auferlegte. Dadurch wird sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit und öffentliche Kritik an seiner Ansicht nach unverhältnismäßigen Handlungen der Polizei und Misshandlungen von Seiten der Feuerwehr unverhältnismäßig untergraben.

(66) Angesichts der oben dargelegten Faktoren ist der GH der Ansicht, dass es der dem Bf. auferlegten Sanktion an einer angemessenen Rechtfertigung fehlte und dass die von den innerstaatlichen Gerichten angewendeten Standards es verabsäumten, einen gerechten Ausgleich zwischen den betreffenden Rechten und damit verbundenen Interessen sicherzustellen.

(67) Daher war der gerügte Eingriff nicht »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« iSd. Art. 10 EMRK.

(68) Es erfolgte deshalb eine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 1.200,– für materiellen Schaden; € 4.000,– für immateriellen Schaden; € 3.025,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Castells/E v. 23.4.1992 = NL 1992/3, 17 = ÖJZ 1992, 803

Cumpana and Mazare/RO v. 17.12.2004 (GK)

Animal Defenders International/GB v. 22.4.2013 (GK) = NLMR 2013, 128

Perinçek/CH v. 15.10.2015 (GK) = NLMR 2015, 435

Bédat/CH v. 29.3.2016 (GK) = NLMR 2016, 152

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.11.2018, Bsw. 26922/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 537) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abrufbar: http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-187736

Rechtssätze
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