JudikaturJustizBsw24768/06

Bsw24768/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. November 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Perdigao gegen Portugal, Urteil vom 16.11.2010, Bsw. 24768/06.

Spruch

Art. 1 1. Prot. EMRK - Gerichtsgebühren höher als Enteignungsentschädigung.

Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (14:3 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 190.000,– für materiellen und immateriellen Schaden (14:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Ein ursprünglich im Eigentum der Bf. stehendes Grundstück in der Größe von 128.619 m² wurde 1995 zugunsten eines staatlichen Straßenbauunternehmens enteignet, um darauf eine Autobahn zu errichten. Da bezüglich der Entschädigung keine Einigung erreicht werden konnte, sprach eine Schlichtungsstelle dem Ehepaar für die Enteignung des Landes eine Summe von € 177.987,17 zu. Die Bf. legten gegen diese Entscheidung beim Gericht in Evora Berufung ein und forderten mehr als 20 Millionen Euro, da sie über den Wert des Grundstückes hinaus auch die Möglichkeit verloren hätten, die Erträge aus einem darauf gelegenen Steinbruch zu verwerten.

Nach unterschiedlichen Bewertungen des Grundstückes durch Experten einer weiteren Schlichtungskommission beauftragte das zuständige erstinstanzliche Gericht von Amts wegen eine neue Expertengruppe mit der Schätzung des Wertes des Steinbruchs. Diese kam zum Ergebnis, die Nutzung des Steinbruchs würde Erträge von maximal rund 9 Millionen Euro einbringen.

Am 30.6.2000 entschied das Gericht schließlich, der potentielle Gewinn aus dem Steinbruch sei nicht relevant, und setzte die Entschädigung auf € 197.236,25 fest. Alle eingelegten Rechtsmittel gegen diese Entscheidung blieben erfolglos.

Im April 2005 wurde die Höhe der von den Bf. zu zahlenden Gerichtsgebühren auf ca. € 309.052,71 festgelegt. Nach Abzug der Entschädigungssumme schuldeten die Bf. daher dem Staat insgesamt € 111.816,46. Die Berufung gegen diese Entscheidung wurde abgewiesen.

Die Bf. erhoben Verfassungsbeschwerde, in der sie die Vereinbarkeit der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Gerichtsgebührengesetzes mit dem Prinzip der gerechten Entschädigung und dem Recht auf Zugang zu einem Gericht anzweifelten. Im November 2007 erklärte das Verfassungsgericht die einschlägige Bestimmung des Gerichtsgebührengesetzes in der Auslegung durch das erstinstanzliche Gericht für verfassungswidrig, da die von den Bf. zu zahlende Summe hoch genug sei, um in deren Recht auf Zugang zu einem Gericht einzugreifen. Der Fall wurde an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen, welches am 4.1.2008, ohne eine Begründung anzugeben, entschied, die Gerichtsgebühren sollten die Enteignungsentschädigung um nicht mehr als € 15.000,– übersteigen. Die Bf. bezahlten die ausstehenden € 15.000,– im Februar 2008.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), da die ihnen zugesprochene Enteignungsentschädigung gänzlich durch die an den Staat zu zahlenden Gerichtsgebühren absorbiert wurde.

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 1 1. Prot. EMRK

Der GH hat hier zwar nicht die Enteignung an sich zu beurteilen, es ist jedoch Tatsache, dass der der Beschwerde zugrunde liegende Streit über die Gerichtsgebühren durch die staatliche Enteignung des Grundstücks ausgelöst wurde. Gemäß der Rechtsprechung des GH hat der Staat bei im Allgemeininteresse gelegenen Enteignungen eine im Verhältnis zum Wert des enteigneten Guts angemessene Entschädigung zu leisten.

Es kann nicht bestritten werden, dass die Beschwerde die Anwendung der die Gerichtsgebühren regelnden Gesetzesbestimmungen zum Gegenstand hat. Die Einhebung von Gerichtsgebühren bezweckt unter anderem auch die Finanzierung der Justiz und die Erhöhung des Staatshaushalts. Die Verpflichtung, diese Gebühren zu zahlen, ist in Portugal fiskaler Natur, wie es auch in anderen Konventionsstaaten der Fall ist. Sie sind daher als »Abgaben« iSv. Art. 1 Abs. 2 1. Prot. EMRK zu verstehen. Es gilt zu klären, ob und in welchem Umfang die Anordnung des Gerichts, die Gebühren zu bezahlen, einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Eigentums darstellte, da die Summe die zugesprochene Enteignungsentschädigung – die als Eigentumsanspruch der Bf. gilt – absorbierte. Dabei ist Art. 1 1. Prot. EMRK als Ganzes heranzuziehen, da die im zweiten Satz des ersten Absatzes und im zweiten Absatz angesprochenen Situationen nur als besondere Beispiele für einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Eigentums zu verstehen sind, wie es durch den ersten Satz der Bestimmung gewährleistet wird.

2. Zur Vereinbarkeit mit Art. 1 1. Prot. EMRK

Um mit Art. 1 1. Prot. EMRK vereinbar zu sein, muss eine Maßnahme gesetzlich vorgesehen und darf nicht willkürlich sein. Des Weiteren ist ein fairer Ausgleich zwischen den Anforderungen des Allgemeininteresses und jenen des Schutzes der Rechte des Einzelnen zu schaffen. Dies bedeutet, dass die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel zum verfolgten Ziel gewahrt werden muss. Grundsätzlich genießen die Staaten zwar einen weiten Ermessensspielraum bezüglich der Wahl der Mittel und der Rechtfertigung der Folgen einer Maßnahme, die im Allgemeininteresse liegt. Hat ein betroffenes Individuum, verglichen mit den Interessen der Allgemeinheit, einen übermäßigen Nachteil zu tragen, wurde ein fairer Ausgleich allerdings nicht erreicht.

Bei einem Entzug des Eigentums, wie im vorliegenden Fall, erfordert ein fairer Ausgleich, dass den Betroffenen eine angemessene Entschädigung zugesprochen wird. Die Bf. erhielten jedoch im Ergebnis nichts als Entschädigung. Sie mussten vielmehr – in Folge der durch die Enteignung ausgelösten Verfahren – noch weitere € 15.000,– an den Staat zahlen.

Es ist nicht Aufgabe des GH, die Methode der Berechnung der Gerichtsgebühren in Portugal abstrakt zu beurteilen. Die Staaten genießen hier einen weiten Ermessensspielraum. Zu beurteilen ist, wie die Methode vorliegend angewandt wurde: Das von Art. 1 1. Prot. EMRK bezweckte Ergebnis, nämlich der Schutz des Eigentums der enteigneten Personen, wurde hier klar nicht erreicht.

Der GH akzeptiert zwar, dass der rechtliche Zweck der Verpflichtung des Staates, eine Enteignungsentschädigung zu bezahlen, sich von jener der Bf., Gerichtsgebühren zu bezahlen, unterscheidet. Vorliegend handelt es sich jedoch um ein Verfahren, in dem der Staat in seiner hoheitlichen Funktion als Partei im Gerichtsverfahren auftrat. In dieser speziellen Situation erscheint es paradox, dass der Staat – durch die Gerichtsgebühren – mit der einen Hand mehr wegnimmt, als er mit der anderen zugesprochen hat. Die Verschiedenheit der beiden Verpflichtungen ist daher unter diesen Umständen kein Hindernis, um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs insgesamt prüfen zu können.

Gemäß der portugiesischen Rechtslage wirkte sich die Forderung einer derart hohen Entschädigungssumme auf die Höhe der Gerichtsgebühren aus. Der GH merkt jedoch an, dass es hier vor allem auch um die Frage ging, ob die Nutzung des Steinbruchs in die Bewertung miteinfließen sollte. Dies wurde vom Gericht tiefgehend geprüft. Das Verhalten der Bf. trug also zur Höhe der Gerichtsgebühren bei, war jedoch nicht ausreichend, um das gänzliche Wegfallen der Entschädigung im Ergebnis rechtfertigen zu können. Dies gilt besonders im Falle einer Enteignung.

Zum Verhalten der Bf. merkt der GH an, dass die gegenständlichen Verfahren tatsächlich viele Rechtsmittel und Beschwerden umfassten, wie dies von der Regierung kritisiert wird. Jedoch sind nicht alle Verfahrensschritte den Bf. zuzuschreiben und die meisten ergaben sich aus der Bestreitung der Gerichtsgebühren. Weder das Verhalten der Bf. noch die Aktivitäten vor Gericht können – mit Blick auf die Höhe der Enteignungsentschädigung – derart hohe Gerichtsgebühren rechtfertigen.

Schließlich weist der GH auf das seit 24.2.2008 geltende neue Gerichtsgebührengesetz hin, das ein Höchstlimit vorsieht und bei dessen Anwendung im vorliegenden Fall die Gebühren erheblich niedriger gewesen wären.

Die Bf. erlitten daher einen exzessiven Nachteil, welcher einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Gemeinschaft und den Grundrechten des Individuums nicht zuließ. Es ist daher eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK festzustellen (14:3 Stimmen; gemeinsames, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Ziemele und Richter Villiger; gemeinsames Sondervotum der Richter Lorenzen und Casadevall und v0n Richterin Fura).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 190.000,– für materiellen und immateriellen Schaden (14:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richter Lorenzen und Casadevall und von Richterin Fura).

Anmerkung

Die II. Kammer hatte am 4.8.2009 ebenfalls eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK festgestellt (5:2 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Aires/P v. 25.05.1995 (ZE der EKMR).

Beyeler/I v. 5.1.2000 (GK), NL 2000, 22.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.11.2010, Bsw. 24768/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 353) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_6/Perdigao.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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