JudikaturJustizBsw21906/04

Bsw21906/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
12. Februar 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Kafkaris gegen Zypern, Urteil vom 12.2.2008, Bsw. 21906/04.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EMRK, Art. 14 EMRK - Lebenslange Freiheitsstrafe und Rückwirkungsverbot. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (10:7 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (16:1 Stimmen). Verletzung von Art. 7 EMRK hinsichtlich der Qualität der einschlägigen Bestimmungen des anzuwendenden nationalen Rechts (15:2 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 7 EMRK hinsichtlich der behaupteten rückwirkenden Anwendung einer schwereren Strafe (16:1 Stimmen). Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 3, Art. 5 und Art. 7 EMRK (16:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den behaupteten immateriellen Schaden dar. € 13.465,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe im Zentralgefängnis von Nikosia, Zypern. Am 9.3.1989 wurde er vom Geschworenengericht Limassol in drei Anklagepunkten wegen vorsätzlichen Mordes nach § 203 Abs. 1 Strafgesetz für schuldig befunden, wobei das Gericht jeweils die dafür vorgesehene lebenslange Freiheitsstrafe über ihn verhängte.

Dem Geschworenengericht lag ein Antrag der Staatsanwaltschaft vor, in dem diese um eine Auslegung des Begriffs „lebenslange Freiheitsstrafe" in § 203 Abs. 2 Strafgesetz und um eine Klarstellung dahingehend ersuchte, ob damit Haft bis ans Lebensende oder lediglich für eine Dauer von 20 Jahren laut der in Durchführung von § 4 Gefängnisdisziplinargesetz ergangenen Regel Nr. 2 der Verordnung Nr. 76/1987 gemeint sei.

Das Geschworenengericht stellte unter Berufung auf ein in einem ähnlichen Fall ergangenes Urteil des Geschworenengerichts Nikosia vom 5.2.1988 klar, dass der im Strafgesetz verwendete Begriff „lebenslange Freiheitsstrafe" bedeute, dass die verurteilte Person bis an ihr Lebensende in Haft verbleiben solle.

Bei seinem Haftantritt wurde der Bf. von den Gefängnisbehörden schriftlich darüber informiert, dass als Tag seiner Freilassung der 16.7.2002 vorgesehen sei – vorausgesetzt, er zeige gute Führung und Fleiß iSv. Regel 93 der Verordnung Nr. 76/1987. Der Termin wurde in der Folge auf den 2.11.2002 verschoben, nachdem der Bf. eines Disziplinarvergehens für schuldig befunden worden war. Mit Urteil vom 9.10.1992 hob der Oberste Gerichtshof im Zusammenhang mit der Beschwerde eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Häftlings, der zu dem von der Gefängnisleitung festgesetzten Termin nicht freigelassen worden war, die Verordnung Nr. 76/1987 als verfassungswidrig auf. Begründend führte er aus, § 4 Gefängnisdisziplinargesetz verstoße gegen die Verfassung, da damit einem Organ der Exekutive – und nicht der Justiz – die Befugnis zur Festsetzung des Strafmaßes eingeräumt werde. Die in Regel 93 der Verordnung Nr. 76/1987 festgelegte Befugnis der Gefängnisleitung, das Strafmaß bei guter Führung und Fleiß herabzusetzen, verstoße daher gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung. Als Folge dieses Gerichtsurteils wurde das Gefängnisgesetz 1996 erlassen, womit das Gefängnisdisziplinargesetz und die Verordnung Nr. 76/1987 außer Kraft traten.

Am 16.3.1998 wandte sich der Bf. an den Präsidenten der Republik Zypern und ersuchte ihn um Ausübung seines Gnadenrechts bzw. Aussetzung der Strafe, damit er sich um seine an Leukämie leidende Frau kümmern könne. Vom leitenden Staatsanwalt wurde ihm mitgeteilt, er sehe keinen Anlass, dem Präsidenten eine derartige Vorgangsweise zu empfehlen.

Nachdem der Bf. zum Termin des 2.11.2002 nicht freigelassen worden war, beantragte er beim Obersten Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Haft unter Berufung unter anderem auf Art. 7 EMRK. Letzterer wies den Antrag mit der Begründung ab, gemäß den von der EKMR im Fall Hogben/GB entwickelten Prinzipien sei Art. 7 EMRK nur auf ein Urteil zum Zeitpunkt seiner Verhängung anwendbar und nicht auf die Art und Weise seiner Vollstreckung. Diese Bestimmung verbiete daher nicht die rückwirkende Vornahme von Änderungen in Gesetzgebung und Praxis, was die Freilassung von Häftlingen angehe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe), Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf eine gerichtliche Haftprüfung) und Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege, nullum crimen sine lege).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:

Der Bf. bringt erstens vor, der ganze oder zumindest ein signifikanter Teil seiner lebenslangen Haft überschreite die von der Konvention für die Länge der Haft als Strafmittel gesetzten Standards. Zweitens habe der unerwartete Widerruf seiner berechtigten Erwartung, zum Termin des 2.11.2002 freigelassen zu werden, und seine fortgesetzte Anhaltung danach zu psychischem Stress und Unsicherheit über seine weitere Zukunft im Gefängnis geführt.

1. Allgemeine Überlegungen:

Der GH erinnert daran, dass die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe über einen Erwachsenen als solche nicht mit Art. 3 EMRK oder einer anderen Konventionsbestimmung unvereinbar ist. Ernste Fragen treten dann auf, wenn keine Strafverkürzung vorgesehen ist. Bei der Prüfung der Frage, ob eine lebenslange Verurteilung als unwiderruflich betrachtet werden muss, prüft der GH regelmäßig, ob der zu lebenslanger Haft Verurteilte Aussichten auf vorzeitige Entlassung hat.

Eine Analyse seiner Rechtsprechung zeigt, dass für den Fall, dass das nationale Recht eine Möglichkeit der Überprüfung einer lebenslangen Haftstrafe mit Blick auf ihre Umwandlung, Beendigung oder Erlass bzw. eine bedingte Entlassung vorsieht, damit den Erfordernissen von Art. 3 EMRK Genüge getan ist. Dies gilt auch für den Fall, dass keine Minimalfrist für den Teil der Haft, der in jedem Fall zu verbüßen ist, vorliegt und sogar dann, wenn die Möglichkeiten einer bedingten Entlassung für lebenslänglich Verurteilte beschränkt sind. Jedenfalls wird eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht bereits aufgrund der Tatsache zu einer unverrückbaren, dass sie zur Gänze verbüßt wird. Ziel und Zweck von Art. 3 EMRK wird bereits Rechnung getragen, wenn sie de jure und de facto herabgesetzt werden kann.

2. Anwendung dieser Prinzipien auf den vorliegenden Fall:

Nach zypriotischem Recht wird vorsätzlicher Mord ausnahmslos mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet, was Haft bis ans Lebensende bedeutet. Die nationale Rechtsordnung sieht weder eine Mindestdauer für die Verbüßung dieser Strafe noch die Möglichkeit ihres Erlasses wegen guter Führung oder Fleißes vor. Eine Angleichung ist dennoch zu jedem Zeitpunkt unbeschadet des in der Haft verbrachten Zeitraums möglich. So kann der Präsident der Republik Zypern über Empfehlung des leitenden Staatsanwalts gemäß Art. 53 Abs. 4 der Verfassung eine von einem Gericht ausgesprochene lebenslange Freiheitsstrafe aussetzen, in eine mildere Strafe umwandeln oder aufheben. Ferner verfügt er nach § 14 Gefängnisgesetz 1996 über die Möglichkeit, jederzeit eine bedingte Entlassung von Häftlingen einschließlich der zu lebenslanger Haft Verurteilten anzuordnen.

Die Aussichten von lebenslänglich Verurteilten auf Freilassung sind demnach beschränkt, fällt die Angleichung einer Freiheitsstrafe doch in das Ermessen des Präsidenten bei gleichzeitigem Einverständnis des leitenden Staatsanwalts. Ferner räumt die Regierung ein, dass das gegenwärtige Verfahren Mängel aufweise, die es noch zu beheben gelte.

Der GH findet dennoch nicht, dass in Zypern lebenslange Freiheitsstrafen de jure und de facto unverrückbar – ohne Möglichkeit einer Freilassung – sind. So wurden 1993 neun zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte freigelassen, während es in den Jahren 1997 bzw. 2005 jeweils zwei waren.

Der Bf. kann somit nicht berechtigterweise behaupten, in seinem Fall bestünden keinerlei Aussichten auf Freilassung und seine fortgesetzte Anhaltung stelle als solche eine erniedrigende bzw. unmenschliche Behandlung dar.

Was schließlich den zweiten Beschwerdepunkt angeht, ist der GH der Ansicht, dass die Änderung der einschlägigen Gesetzgebung und die dadurch bedingte Enttäuschung der Erwartungen des Bf. hinsichtlich einer Freilassung bei diesem Besorgnis und Unruhe erzeugen mussten, jedoch erreichten diese nicht den von Art. 3 EMRK geforderten Schweregrad. Die gegenständlichen Gesetzesänderungen fanden innerhalb eines Zeitraums von etwa vier Jahren und sechs Jahre vor dem von den Gefängnisbehörden bekannt gegebenen Freilassungstermin statt. Mit Rücksicht auch auf den klaren Wortlaut des Urteils des Geschworenengerichts konnte der Bf. somit nicht ernsthaft Erwartungen hegen, dass er im November 2002 tatsächlich freigelassen würde, sondern musste er vielmehr damit rechnen, dass er das Urteil zur Gänze abbüßen werde.

Zwar trifft es zu, dass lebenslange Urteile ohne zeitliche Beschränkung notwendigerweise zu Angst und Ungewissheit führen müssen, jedoch sind diese Erscheinungen auf den Charakter einer derartigen Strafe zurückzuführen, sodass angesichts auch der gegenwärtigen Aussichten auf Freilassung keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung vorliegt. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (10:7 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Bratza; Sondervotum der Richterin Tulkens, gefolgt von den Richtern Cabral Barreto und Spielmann sowie der Richterin Fura-Sandström; Sondervotum von Richter Borrego Borrego).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK:

Die Bf. bringt vor, seine fortdauernde Anhaltung nach dem Termin des 2.11.2002 stelle eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit und Sicherheit dar, da mit diesem Datum das punitive Element seiner Freiheitsstrafe verbüßt und die Fortsetzung seiner Haft mit Rücksicht auf die von der Strafe verfolgten Ziele willkürlich bzw. unverhältnismäßig geworden sei.

Zwischen den Parteien ist unstrittig, dass der Bf. rechtmäßig nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht in Haft gehalten wird (Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK). Letzterer bestreitet auch nicht die Rechtmäßigkeit seiner Haft bis zum 2.11.2002. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob seine Anhaltung danach mit dem Urteil des Geschworenengerichts im Einklang steht.

Bei der Verhängung des Urteils stellte das Geschworenengericht unmissverständlich klar, dass der Bf. zu Freiheitsstrafe für den Rest seines Lebens und nicht etwa für 20 Jahre verurteilt worden sei. Die Tatsache, dass er von den Gefängnisbehörden nachfolgend über seine bedingte Entlassung zu einem festgesetzten Termin auf Basis der damals geltenden Gefängnisverordnung in Kenntnis gesetzt wurde, vermag das Urteil des Geschworenengerichts nicht zu berühren oder die Anhaltung des Bf. nach diesem Datum unrechtmäßig zu machen. Es bestand daher ein klarer und ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Bf. und seiner Anhaltung auch nach dem 2.11.2002. Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Borrego Borrego).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK:

Der Bf. bringt vor, seine Anhaltung auf Lebenszeit ohne Möglichkeit ihrer gerichtlichen Überprüfung stelle eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK dar.

Der Bf. hat diesen Beschwerdepunkt erstmals im Verfahren vor der Großen Kammer geltend gemacht. Da dieser nicht Gegenstand der ZE vom 11.4.2006 war, fällt er außerhalb ihrer Prüfungskompetenz (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:

Laut dem Bf. widersprächen die unvorhersehbare Verlängerung seiner Freiheitsstrafe auf unbestimmte Zeit als Folge der Aufhebung der Gefängnisverordnung bzw. der rückwirkenden Anwendung der neu in Kraft getretenen Vorschriften dem Rückwirkungsverbot.

1. Zur Qualität der einschlägigen Bestimmungen des anzuwendenden nationalen Rechts:

Beide Parteien sind sich darüber einig, dass die Verurteilung des Bf. zu lebenslanger Haft auf Basis der einschlägigen strafgesetzlichen Bestimmungen erfolgte. Uneinigkeit besteht hingegen hinsichtlich der konkreten Bedeutung des Begriffs „Freiheitsstrafe auf Lebenszeit". Der Bf. beharrt auf seinem Standpunkt, wonach zum Zeitpunkt der Tatbegehung lebenslange Freiheitsstrafe gleichbedeutend mit 20 Jahren Gefängnishaft gewesen sei.

Im Folgenden ist zu prüfen, was das nationale Recht in seiner Auslegung durch die Gerichte unter lebenslanger Haftstrafe verstand und ob es die Erfordernisse der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit erfüllte.

Zwar sah das zypriotische Strafgesetz zum Zeitpunkt der Tatbegehung ausdrücklich lebenslange Haft für vorsätzlichen Mord vor, jedoch gingen sowohl Exekutive als auch Verwaltung einhellig von der Prämisse aus, diese sei gleichbedeutend mit 20 Jahren Haft. Die Gefängnisbehörden stützten sich dabei auf die Regel 93 der Verordnung Nr. 76/1987, die einen Erlass der Strafe von Häftlingen einschließlich der zu lebenslanger Haft Verurteilten bei guter Führung und Fleiß vorsah, und auf Regel 2, wonach unter lebenslanger Freiheitsstrafe Haft bis zu 20 Jahren zu verstehen sei. Die Regierung bestätigt die Handhabung einer derartigen Praxis.

In seinem Urteil vom 10.3.1989 schloss sich das Geschworenengericht von Limassol den Ausführungen des Geschworenengerichts von Nikosia an, wonach mit dem im Strafgesetz verwendeten Begriff „lebenslange Freiheitsstrafe" Freiheitsentzug bis ans Lebensende gemeint sei. Ungeachtet seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft wurde der Bf. von den Gefängnisbehörden schriftlich über das Datum seiner bedingten Entlassung informiert, ihm also Straferlass in Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 76/1987 gewährt. Der GH akzeptiert zwar das Vorbringen der Regierung, wonach die gegenständliche Verordnung der Vollstreckung der Strafe gedient hätte, jedoch gingen die Art und Weise ihrer Anwendung und Interpretation durch die Behörden über deren Ziele hinaus. So waren insbesondere die Unterschiede zwischen dem tatsächlichen Ausmaß einer lebenslangen Freiheitsstrafe und den Modalitäten hinsichtlich ihrer Vollstreckung nicht klar ersichtlich. In besagten Fällen vor den Geschworenengerichten neigte übrigens auch die Staatsanwaltschaft zu der Auffassung, lebenslange Haft sei auf eine Dauer von 20 Jahren beschränkt.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die einschlägigen Rechtsvorschriften zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht hinreichend präzise formuliert waren, um dem Bf. die Reichweite seiner lebenslangen Haftstrafe im Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Vollstreckung in einem vernünftigen Ausmaß ersichtlich zu machen. Es liegt daher eine Verletzung von Art. 7 EMRK vor (15:2 Stimmen; Sondervotum von Richter Loucaides, gefolgt von Richterin Jociene).

2. Zur behaupteten rückwirkenden Anwendung einer schwereren Strafe:

Der GH vermag das Argument des Bf. nicht zu akzeptieren, wonach rückwirkend eine schwerere Strafe über ihn verhängt worden sei, da mit Rücksicht auf die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzes nicht gesagt werden kann, dass die lebenslange Haftstrafe zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt mit 20 Jahren Haft gleichzusetzen gewesen wäre.

Die im Zuge der Aufhebung der gegenständlichen Verordnung erfolgte Gesetzesänderung führte dazu, dass der Bf. als zu lebenslanger Haft Verurteilter nicht länger Anspruch auf Straferlass hat. Nach Ansicht des GH betrifft diese Frage den Vollzug des Urteils und nicht die über den Bf. verhängte lebenslange Freiheitsstrafe. Mögen besagte Änderungen sich auch erschwerend auf die Haft des Bf. auswirken, so können sie dennoch nicht mit einer härteren Strafe als die vom Verhandlungsgericht verhängte gleichgesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Handhabung der Freilassung von Häftlingen Teil der in das freie Ermessen der Mitgliedstaaten fallenden Strafpolitik ist. Es hat somit keine Verletzung von Art. 7 EMRK stattgefunden (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Borrego Borrego).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 3, Art. 5 und Art. 7 EMRK:

Der Bf. behauptet, er sei gegenüber den zu lebenslanger Haft verurteilten Häftlingen benachteiligt worden, da die meisten von ihnen beginnend mit 1993 nach Verbüßung von 20 Jahren Haft über Anordnung des Präsidenten freigelassen worden wären, er hingegen nicht. Er sieht sich auch gegenüber anderen Häftlingen mit Rücksicht auf § 12 Abs. 1 Gefängnisgesetz 1996, wonach für Häftlinge ein Straferlass bei guter Führung und Fleiß mit Ausnahme der zu lebenslanger Haft verurteilten vorgesehen ist, diskriminiert. Zum ersten Beschwerdepunkt ist zu sagen, dass es sich hierbei um Häftlinge handelt, die vom Präsidenten der Republik im Rahmen seines ihm gemäß Art. 53 Abs. 4 der Verfassung eingeräumten Vorrechts bzw. individuellen Ermessens freigelassen wurden. Die neun zu lebenslanger Haft verurteilten Häftlinge, die – wie der Bf. – zu einem Zeitpunkt abgeurteilt worden waren, zu dem die Gefängnisverordnung noch gültig war und denen der Termin ihrer Freilassung schriftlich mitgeteilt wurde, wurden nicht auf Basis dieser Verordnung oder eines Urteils, sondern auf Anordnung des Präsidenten in Ausübung seiner ihm von der Verfassung eingeräumten Befugnisse freigelassen. Im Fall des Bf. hat sich das Geschworenengericht mit der Frage der korrekten Interpretation des Begriffs „lebenslange Freiheitsstrafe" außerdem ausdrücklich auseinandergesetzt und Haft bis ans Lebensende über ihn verhängt.

Das vom Präsidenten hinsichtlich einer Vielzahl von zu berücksichtigenden Faktoren – wie etwa die Beschaffenheit des Verbrechens und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Strafjustiz – ausgeübte Ermessen vermag somit keine Fragen nach Art. 14 EMRK aufzuwerfen. Dies gilt auch für den zweiten Beschwerdepunkt, da sich der Bf. in keiner vergleichsweisen oder ähnlichen Situation wie zu keiner lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Häftlinge befindet. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 3, Art. 5 und Art. 7 EMRK (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Borrego Borrego).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den behaupteten immateriellen Schaden dar. € 13.465,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Hogben/GB v. 3.3.1986 (EKMR).

Bamber/GB v.14.12.1988 (EKMR).

Cantoni/F v. 15.11.1996; EuGRZ 1999, 193; ÖJZ 1997, 579.

Coeme u.a./B v. 22.6.2000.

Einhorn/F v. 16.10.2001 (ZE).

Stanford/GB v. 12.12.2002 (ZE).

Wynne/GB v. 22.5.2003 (ZE).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.2.2008, Bsw. 21906/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 24) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_1/Kafkaris.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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