JudikaturJustizBsw10373/05

Bsw10373/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. September 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Moskal gegen Polen, Urteil vom 15.9.2009, Bsw. 10373/05.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Widerruf der Zuerkennung einer Frühpension.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (4:3 Stimmen).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,- für materiellen und immateriellen Schaden (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. brachte am 6.8.2001 bei der Sozialhilfebehörde Rzeszów einen Antrag auf Gewährung von Frühpension nach der Verordnung des Ministerrats vom 15.5.1989 über das Recht auf Frühpension von Angestellten mit Kindern, die ständige Betreuung benötigen ein. Gemeinsam mit dem Antrag reichte sie auch eine medizinische Bescheinigung ein, wonach ihr siebenjähriger Sohn aufgrund des atopischen Bronchialasthmas, mehrerer Allergien und chronischer Nebenhöhlen- und Lungeninfektionen, an denen er leidet, auf die ständige Betreuung durch sie angewiesen sei.

Mit Entscheidung vom 29.8.2001 wurde der Bf. die Frühpension in der Höhe von PLN 1.683,– brutto, beginnend mit 1.8.2001 gewährt. Allerdings wurde die Auszahlung durch dieselbe Entscheidung ausgesetzt, da die Bf. zu diesem Zeitpunkt noch berufstätig war. Folglich beendete die Bf. ihr seit 31 Jahren bestehendes Arbeitsverhältnis mit 31.8.2001. Die Sozialhilfebehörde autorisierte daraufhin die Auszahlung der Pension, die ab 1.9.2001 für zehn Monate ohne Unterbrechung erfolgte.

Am 25.6.2002 erließ die Sozialhilfebehörde zwei weitere Entscheidungen, mit denen zum einen die Auszahlung der Frühpension beginnend mit 1.6.2002 beendet und zum anderen die Entscheidung vom 29.8.2001 widerrufen wurde. Grund hierfür war die Wiederaufnahme des Verfahrens über die Gewährung der Frühpension von Amts wegen am 4.6.2002, da Zweifel an der Richtigkeit der beigelegten medizinischen Bescheinigung aufgekommen waren. Es wurde festgestellt, dass die im Attest angeführten Erkrankungen weder in der Verordnung von 1989 aufgezählt wären, noch einen Grad an Beeinträchtigung erreichen würden, der eine Gewährung von Frühpension rechtfertigen könnte. Die Bf. habe daher keinen Anspruch auf die Sozialleistung.

Die Bf. legte gegen diese Entscheidung Berufung beim Kreisgericht Rzeszów ein. Diese wurde jedoch abgewiesen, da ein vom Gericht angeordnetes Gutachten ergab, dass der Gesundheitszustand des Sohnes der Bf. keine ständige Betreuung durch sie erfordere.

Das daraufhin angerufene Appellationsgericht Rzeszów bestätigte das Urteil des Kreisgerichts am 16.10.2003. Die Wiederaufnahme des Verfahrens sei gerechtfertigt gewesen, da keine unzulässige Neubewertung desselben Beweises stattgefunden habe. Die Erkenntnis der Behörde, der Pensionsanspruch sei ungerechtfertigt gewährt worden, wäre aufgrund eines zweiten Gutachtens erfolgt, dass schon zuvor existierende Umstände zutage gebracht hätte, die für die Beurteilung des Bestehens des Anspruchs ausschlaggebend gewesen wären. Die Doktrin vom Schutz wohlerworbener Rechte sei nicht anwendbar, insofern Ansprüche fälschlicherweise zugesprochen wurden.

Am 7.5.2004 wies auch das Oberste Gericht die Kassationsbeschwerde der Bf. ab.

Die Bf. wurde trotz alledem nie dazu aufgefordert, die bisher bezogenen Auszahlungen zurückzuerstatten. Zwischen 1.6.2002 und 25.10.2005 empfing sie keinerlei Sozialleistungen und hatte auch kein anderes Einkommen.

In einem separaten Sozialhilfeverfahren wurde der Bf. mit Entscheidung vom 25.10.2005 ein Anspruch auf vorzeitigen Pensionsbezug in der Höhe von PLN 523,– netto durch das Bezirksarbeitsamt Stryzów zugesprochen. Diese Pension wurde rückwirkend ab 25.10.2002, jedoch ohne Zinsen, gewährt. Nach derzeitiger Rechtslage wird die Bf. im Jahr 2015 einen regulären Pensionsanspruch erwerben.

Die Beschwerde stellt die erste von ungefähr 120 ähnlichen eingegangenen Beschwerden dar, bei denen es um die Widerrufung von irrtümlich gewährten Frühpensionen von Eltern mit ständig pflegebedürftigen Kindern geht. Alle fraglichen Verfahren fanden in derselben Region Polens statt, in der auch die Bf. wohnt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet, in ihrem Recht auf Achtung des Eigentums gemäß Art. 1 1. Prot. EMRK alleine und in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK, ihrem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK verletzt zu sein.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK durch den Entzug ihres wohlerworbenen Rechts auf Bezug der Frühpension.

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 1 1. Prot. EMRK:

Da im modernen demokratischen Staat viele Individuen bezüglich ihres Überlebens und ihrer sozialen Sicherheit auf Sozialhilfeleistungen angewiesen sind, ist ein gewisses Ausmaß an Beständigkeit und Sicherheit von Sozialhilfeansprüchen notwendig. Daher sind einklagbare Ansprüche auf Sozialleistungen vom Schutzbereich des Art. 1 1. Prot. EMRK umfasst.

Der GH geht davon aus, dass die Bf. ihren Antrag auf Frühpension in gutem Glauben und rechtmäßig einbrachte. Da die Bewertung des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Gewährung der Frühpension allein der Behörde oblag, konnte die Bf. den Ausgang des Verfahrens nicht vorhersehen. Sobald die Behörde jedoch das Bestehen des Pensionsanspruchs bestätigt hatte, konnte die Bf. von der Richtigkeit dieser Entscheidung ausgehen und entsprechende Dispositionen treffen. Ihre Annahme, die Gültigkeit der Entscheidung könnte nur insofern bedroht sein, als sich der Gesundheitszustand ihres Sohnes ändere, war daher berechtigt.

Ab dem Zeitpunkt, da die Bf. ihre Anstellung gekündigt hatte, hatte sie einen einklagbaren Anspruch auf die Frühpension. Die Bf. hat daher ein durch Art. 1 1. Prot. EMRK geschütztes Interesse, obwohl sie eventuell nach polnischem Recht nie einen Anspruch auf Gewährung der Pensionsleistung hatte.

Da die Beschwerde in diesem Punkt auch nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. Entscheidung in der Sache:

Gemäß Art. 1 1. Prot. EMRK muss jeder staatliche Eingriff in das Eigentumsrecht rechtmäßig sein. Ein Entzug des Eigentums darf nur „unter den durch Gesetz vorgesehenen Bedingungen" erfolgen. Weiters muss ein Eingriff in die Achtung des Eigentums ein faires Gleichgewicht zwischen dem Allgemeininteresse der Gemeinschaft und dem Schutz der Grundrechte des Einzelnen wahren. Dieses wird verletzt, wenn einer Person eine individuelle und exzessive Belastung auferlegt wird

a) Rechtmäßigkeit des Eingriffs:

Die Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Sozialhilfebehörde war nach innerstaatlichem Recht von Amts wegen möglich, insofern neue Beweise vorgelegt oder wichtige Umstände entdeckt wurden, die schon zum Zeitpunkt der ersten Entscheidung existierten. Da der Grund der Wiederaufnahme in der Entdeckung des eigenen Fehlers der Behörde bei der Bewertung der Eignung der Bf. für die Gewährung einer Frühpension lag, das Verfahren also der Behebung eines Fehlers diente, erkennt der GH, dass der Eingriff in das Eigentumsrecht der Bf. rechtmäßig erfolgte.

b) Legitimität des Ziels des Eingriffs:

Bezüglich der Bewertung, ob der Eigentumsentzug im Interesse der Allgemeinheit lag, betont der GH, dass den Staaten in diesem Bereich ein gewisser Ermessensspielraum zukommt. Der GH betrachtet die Aberkennung des Frühpensionsanspruchs der Bf. insofern als im Interesse der Allgemeinheit gelegen, als die Staatskasse nicht durch Auszahlungen an Personen belastet werden soll, die materiell gar keinen Sozialhilfeanspruch haben.

c) Verhältnismäßigkeit des Eingriffs:

Die Wiederaufnahme des Verfahrens diente vor allem dazu, eine Übereinstimmung zwischen der tatsächlichen Situation des Sozialhilfeempfängers und den gesetzlichen Voraussetzungen für eine Gewährung der Sozialleistung sicherzustellen.

Die Behörde brauchte im vorliegenden Fall relativ lang, nämlich zehn Monate, um ihren eigenen Fehler zu bemerken. Diesbezüglich betont der GH, dass im Zusammenhang mit Eigentumsrechten dem Prinzip der „good governance" besondere Bedeutung zukommt. Eigentumsfragen generell und Sozialhilfeansprüche im Speziellen sind von höchster Relevanz für den Einzelnen und sollten daher mit größtmöglicher Genauigkeit behandelt werden. Im vorliegenden Fall hat die Behörde es nicht geschafft, in angemessener Zeit und auf angemessene und konsequente Weise zu handeln.

Den Behörden soll die Möglichkeit, ihre eigenen Entscheidungen und Fehler zu korrigieren, nicht abgesprochen werden. Dies würde gegen die Doktrin der ungerechtfertigten Bereicherung verstoßen. Wird die betroffene Person durch die Korrektur der Entscheidung einer außerordentlichen Belastung ausgesetzt, kann dieses Prinzip jedoch keine Anwendung finden. Da im konkreten Fall die Unrichtigkeit der Entscheidung ausschließlich aus dem fehlerhaften Vorgehen der Behörde resultierte, ist ein besonders strenger Maßstab bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung anzulegen.

Aufgrund dessen und da der Bf. durch die Richtigstellung der Entscheidung plötzlich ihre einzige Einkommensquelle entzogen wurde, ist von einer außerordentlichen und unverhältnismäßigen Belastung der Bf. auszugehen. Die Behörde hat zwar die irrtümlich ausbezahlten Zuwendungen nie zurückverlangt, der GH befindet dies jedoch nicht für ausreichend, um die exzessiven Belastungen durch den Entzug des Frühpensionsanspruchs auszugleichen.

Dass die Bf. später den Anforderungen für einen anderen Typus der vorzeitigen Pensionierung entsprach, entschädigt sie ebenso wenig, da diese Pension nur etwa 50 % ihres bisherigen Einkommens betrug und das Verfahren zur Anerkennung des Pensionsanspruchs drei Jahre dauerte, in denen die Bf. keinerlei staatliche Unterstützung erhielt.

Aufgrund dieser Überlegungen entscheidet der GH, dass ein faires Gleichgewicht zwischen den Anforderungen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft und den Erfordernissen des Schutzes der Grundrechte des Einzelnen nicht gewahrt wurde. Daher liegt eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK vor (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Bratza, Richterin Hirvelä und Richter Bianku).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 8 EMRK:

Die Bf. sieht in der Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Sozialhilfebehörde eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Art. 8 EMRK sei ebenfalls verletzt worden, indem ihr die einzige Einkommensquelle zur Unterhaltung ihres Privat- und Familienlebens entzogen wurde.

Beide Beschwerdepunkte werden vom GH zwar für zulässig erklärt, eine gesonderte Prüfung wird jedoch nicht als nötig erachtet (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK, da eine Wiederaufnahme der Sozialhilfeverfahren bezüglich dieser Form von Frühpension überproportional oft Personen betroffen hätte, die in ihrer Heimatregion ansässig waren.

Da die Bf. ihre Beschwerde mit keinerlei statistischen Daten untermauert hat, sieht der GH keinen Anlass, eine Diskriminierung der Bevölkerung der Heimatregion der Bf. durch die staatlichen Behörden anzunehmen.

Die Beschwerde ist daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 15.000,– für materiellen und immateriellen Schaden (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Bratza, Richterin Hirvelä und Richter Bianku).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sporrong und Lönnroth/S v. 23.9.1982, A/52; EuGRZ 1983, 523.

Kjartan Asmundsson/IS 12.10.2004; NL 2004, 238.

Jahn u.a./D v. 30.6.2005 (GK); NL 2005, 176.

Stec u.a./GB v. 6.7.2005 (ZE der GK); NL 2005, 223.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.9.2009, Bsw. 10373/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 257) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_5/Moskal.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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