JudikaturJustizBsw78028/01

Bsw78028/01 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Juni 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Pini und Bertani und Manera und Atripaldi gegen Rumänien, Urteil vom 22.6.2004, Bsw. 78028/01 und Bsw. 78030/01.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 2 Abs. 2 4. ZP EMRK - Nichtvollstreckung eines rechtskräftigen Adoptionsbeschlusses. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (4:3 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 4. ZP EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 12.000,- bzw. EUR 10.000,- an die Erst- und ZweitBf. bzw. an die Dritt- und ViertBf. für materiellen und immateriellen Schaden, EUR 7.000,- bzw. EUR 6.000,-

an die Erst- und ZweitBf. bzw. an die Dritt- und ViertBf. für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Alle vier Bf. sind italienische Staatsangehörige und leben in Reggio Emilia bzw. in Mantua. Am 15.5.2000 betraute die rumänische Regierung die private Organisation C. mit der Aufgabe, Adoptiveltern für die im März bzw. April 1991 geborenen Findelkinder Florentina und Mariana ausfindig zu machen. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich beide im Erziehungszentrum „Poiana Soarelui" (im Folgenden: EZPS (Anm.: Es handelt sich hierbei um eine private Einrichtung, deren Ziel es ist, verwaisten und aufgegebenen Kindern ein Zuhause und eine Erziehung zu bieten)) in Brasov auf. Kurze Zeit später nahmen die Bf. Kontakt mit C. auf und äußerten ihren Wunsch, ein rumänisches Kind zu adoptieren. Am 3.8.2000 kam es zu einer ersten Begegnung der Bf. mit Florentina und Mariana in den Räumlichkeiten des EZPS. Mit Beschluss vom 28.9.2000 gab das zuständige Gericht den Anträgen der Bf. auf Adoption von Florentina und Mariana statt. Beide Entscheidungen erwuchsen in Rechtskraft. In der Folge bestätigte der rumänische Adoptionsausschuss, dass die Adoptionen sowohl mit geltendem rumänischem Recht als auch mit dem Haager Übereinkommen vom 29.5.1993 über den Schutz der Kinder und der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption in Einklang stünden.

An einem nicht näher bekannten Datum beantragten die Bf. beim zuständigen Gericht in Brasov den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der das EZPS zur Übergabe der Kinder verpflichtet werden sollte. Das Gericht gab den Anträgen statt. In der Folge erinnerten gerichtliche Exekutionsbeamte das EZPS wiederholt an seine Verpflichtung, die Kinder den Bf. zu übergeben. Alle Versuche, den Gerichtsbeschluss vom 28.9.2000 zu vollstrecken, verliefen jedoch ergebnislos, da den Exekutionsbeamten bzw. den Bf. der Zutritt zum EZPS entweder verweigert wurde oder Florentina und Mariana dort nicht auffindbar waren. Während dieser Zeit hatte das EZPS mehrmals vergeblich vor Gericht versucht, die Aussetzung der Vollstreckung bzw. Nichtigerklärung der Adoptionsentscheidungen zu erreichen. Im September bzw. November 2002 erhoben Florentina bzw. Mariana Klage auf Aufhebung der Adoptionsentscheidung. Als Begründung führten beide an, dass sie ihre Adoptiveltern nicht kennen würden und überdies nicht den Wunsch hätten, Rumänien und das EZPS zu verlassen. Am 9.6.2003 wurde die Klage von Florentina ua. mit der Begründung abgewiesen, dass eine Aufhebung des Adoptionsbeschlusses nicht dem Kindeswohl dienen würde, hingegen wurde jener von Mariana am 31.10.2003 stattgegeben. Das Gericht stützte sich in seiner Entscheidung auf die Aussagen der Betreuer von Mariana, die bestätigten, dass sie am EZPS über eine gute Erziehung und angemessene Lebensbedingungen verfüge, ferner auf die Tatsache, dass sich zwischen ihr und den Adoptiveltern keinerlei emotionale Beziehung aufgebaut habe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, die fehlende Vollstreckung der rechtskräftigen Adoptionsentscheidungen seitens der rumänischen Behörden stelle eine Verletzung ihres Rechts auf Familienleben gemäß Art. 8 EMRK sowie ihres Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 (1) EMRK dar. Sie rügen ferner eine Verletzung von Art. 2 (2) 4.ZP EMRK (Recht auf Freizügigkeit), da ihren Adoptivtöchtern das Verlassen des Landes nicht erlaubt worden wäre.

Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK:

Der GH erinnert an die st. Rspr. (Anm.: X./B, ZE v. 10.7.1975, Bsw. 6482/74 (DR 7, 75); X./F, ZE v. 5.10.1982, Bsw. 9993/82 (DR 31, 241)) der ehemaligen EKMR, wonach ein Recht auf Adoption als solches zwar nicht zu den in der Konvention verankerten Rechten zählt, die Beziehungen zwischen Adoptiveltern und Adoptivkind von ihrer Natur her jedoch grundsätzlich als dieselben angesehen werden wie jene innerhalb der von Art. 8 EMRK geschützten Familie.

Im vorliegenden Fall erwuchsen die Adoptionsentscheidungen der rumänischen Gerichte in Rechtskraft. Den Bf. wurden damit dieselben Rechte übertragen wie sie Eltern hinsichtlich ihrer leiblichen Kinder zukommen. Auch die rumänische Rechtsordnung macht keinen Unterschied zwischen leiblichen Eltern und Adoptiveltern.

Es trifft zwar zu, dass Art. 8 EMRK die Existenz einer Familie voraussetzt – was hier offensichtlich nicht der Fall ist, da die Bf. weder mit ihren Adoptivtöchtern zusammengelebt noch – vor oder nach dem Ergehen der Adoptionsentscheidungen – eine De-facto-Beziehung zu ihnen entwickelt haben. Andererseits hat der GH etwa im Fall Nylund/FIN (Anm.: ZE v. 29.6.1999, Bsw. 27110/95) festgestellt, dass der durch Art. 8 EMRK garantierte Schutz sich auch auf die lediglich potentielle Beziehung zwischen dem leiblichen Vater und seinem unehelichen Kind erstrecken kann, im Fall Abdulaziz, Cabales und Balkandali/GB hat er die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK ungeachtet der Tatsache bejaht, dass ein Familienleben zwischen den Eheleuten noch nicht ausreichend etabliert war.

Zwar ist erwiesen, dass von Florentina und Mariana keine Einwilligung in die Adoption eingeholt wurde. Der GH sieht dies jedoch nicht als problematisch an. Beide Mädchen waren zum maßgeblichen Zeitpunkt neuneinhalb Jahre alt und hatten somit noch nicht ein Alter erreicht, bei dem eine Einwilligung in die Adoption seitens des Kindes Voraussetzung für deren Gültigkeit ist. (Anm.: Das rumänische Recht sieht eine solche Einwilligung ab dem zehnten Lebensjahr vor.) Letztlich kann die Tatsache, dass seitens der Bf. von einem voll entwickelten Familienleben mit ihren Adoptivtöchtern noch nicht die Rede sein kann, nicht zu deren Nachteil ausschlagen, da sie zu keiner Zeit die Möglichkeit hatten, vorherige Kontakte mit ihren Adoptivtöchtern aufzunehmen, die sie überdies nur anhand von Fotografien kannten. Art. 8 EMRK ist somit auf das Verhältnis zwischen den Bf. und ihren Adoptivtöchtern anwendbar (5:2 Stimmen, Sondervotum von Richterin Thomassen, gefolgt von Richter Jungwiert).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die entscheidende Frage lautet, ob die nationalen Behörden im vorliegenden Fall alle notwendigen Maßnahmen gesetzt haben, um den Bf. das Eingehen von familiären Beziehungen mit ihren Adoptivtöchtern zu ermöglichen.

Wie die Reg. zutreffend darlegt, liegt ein Interessenkonflikt zwischen den Bf. auf der einen Seite und Florentina und Mariana auf der anderen Seite vor. Aus Sicht der letzteren besteht kein Grund, gegen ihren Willen emotionale Bindungen mit den Bf. einzugehen, zu denen sie keinerlei verwandtschaftliche Beziehung haben und die sie außerdem als Fremde wahrnehmen. Beide Minderjährigen haben es vorgezogen, in der familiären Umgebung des EZPS zu bleiben, wo sie aufgewachsen sind, sich vollständig integriert fühlen und das in der Lage ist, ihre physische, emotionale und soziale Entwicklung weit mehr zu fördern als in einer fremden Umgebung.

Auf der anderen Seite steht der Wunsch der Bf., eine neue Familienbeziehung zu ihren Adoptivtöchtern aufzubauen. So legitim dieser Wunsch auch ist, kann er angesichts der Weigerung von Florentina und Mariana, von einer ausländischen Familie adoptiert zu werden, keinen absoluten Schutz unter Art. 8 EMRK genießen. Dies hat insbesondere für Adoptionsfragen zu gelten, bei denen die Interessen des Kindes grundsätzlich Vorrang gegenüber jenen der Eltern haben. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte sich in der Zeit nach der Bewilligung der gegenständlichen Adoptionen wiederholt mit der Frage ihrer Rechtmäßigkeit – vor allem hinsichtlich der Einhaltung von internationalen Übereinkommen auf diesem Gebiet – auseinander setzen mussten. Aus Sicht der Behörden war es letztlich aus Gründen der Rechtssicherheit nicht unangemessen, zuerst den (nicht vorhersehbaren) Ausgang dieser Verfahren abzuwarten, bevor sie eine bindende und endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der in Frage stehenden Adoptionen trafen. Dies hat umso mehr zu gelten, als im Falle der Durchsetzung der Adoptionsentscheidungen und der Verbringung von Florentina und Mariana nach Italien eine Rückkehr nach Rumänien trotz einer für sie positiven Gerichtsentscheidung nicht ohne größere Schwierigkeiten möglich gewesen wäre.

Der GH bedauert die Art und Weise der Abwicklung der gegenständlichen Adoptionsverfahren, nicht zuletzt auch das Fehlen jeglichen Kontakts zwischen den Beteiligten vor der Adoption, was seine Ursache in den Unzulänglichkeiten der innerstaatlichen Rechtsordnung zum damaligen Zeitpunkt hatte. Bedauernswert ist gleichermaßen, dass die Adoptivtöchter der Bf. während der gesamten Zeit über keinerlei psychologischen Beistand verfügten, der sie auf ihre baldige Abreise nach Italien vorbereiten hätte können.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die rumänischen Behörden angesichts des von Natur aus schwächeren Interesses der Bf. gegenüber jenem ihrer Adoptivtöchter unter keiner absoluten Verpflichtung standen, für deren Abreise nach Italien zu sorgen. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Loucaides).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Der GH hält es für notwendig, die behauptete fehlende Vollstreckung der rechtskräftigen Adoptionsentscheidungen unter Art. 6 (1) EMRK zu prüfen.

Die gegenständlichen Adoptionsentscheidungen einschließlich der nachfolgend ergangenen gerichtlichen Anordnungen an das EZPS wurden ungeachtet ihres Erwachsens in Rechtskraft nicht vollzogen. Der GH erinnert daran, dass der Vollzug von derartigen Entscheidungen einer dringenden Handhabung bedarf, da ansonsten aufgrund des Verstreichens der Zeit irreparable Schäden für die Beziehung eines Kindes zu dem Elternteil, der noch nicht mit ihm gemeinsam lebt, eintreten können. Im vorliegenden Fall war der Adoptionsbeschluss mit Ende September 2000 vollstreckbar. Der GH hält fest, dass die Exekutionsbeamten für die Erfolglosigkeit der Vollstreckungsversuche nicht verantwortlich zu machen sind. Vielmehr war es die beharrliche und kontinuierliche Weigerung seitens des EZPS, Florentina und Mariana an die rumänischen Behörden zu übergeben, welche alle behördlichen Maßnahmen zum Scheitern brachte.

Die Reg. wendet ein, sie könne nicht für das Vorgehen einer privaten Einrichtung verantwortlich gemacht werden. Der GH kann sich dieser Argumentation nicht anschließen. Es wurden weder Maßnahmen gegen das EZPS wegen mangelnder Kooperation mit den Exekutionsbeamten eingeleitet, noch wurde dessen Leiter zur Verantwortung gezogen. Das Versäumnis der rumänischen Behörden, während eines Zeitraums von mehr als drei Jahren geeignete Schritte zur Durchsetzung der rechtskräftigen Adoptionsentscheidungen zu setzen, machte die Bestimmungen des Art. 6 (1) EMRK somit praktisch unwirksam. Dies hat umso mehr angesichts der Tatsache zu gelten, dass das Verstreichen der Zeit irreparable Auswirkungen auf die potentielle Beziehung der Bf. zu ihren Adoptivtöchtern haben musste. Der GH kann nur mit Bedauern feststellen, dass die Chancen eines Auflebens dieser Beziehung zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehr niedrig sind. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (4:3 Stimmen, Sondervotum der Richter Bîrsan, Thomassen und Jungwiert ).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 (2) 4.ZP EMRK:

Der GH stellt fest, dass die Bf. Einschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit seitens ihrer Adoptivtöchter behaupten. Sie haben jedoch nicht dargelegt, inwiefern sie auf indirektem Wege von dieser Einschränkung betroffen sein könnten. Auch für den Fall, dass ihnen eine Opfereigenschaft iSd. Art. 34 EMRK zukommen sollte, kann der GH keinerlei Verletzung von Art. 2 (2) 4.ZP EMRK erkennen: Florentina und Mariana war es unbenommen, aus freiem Willen innerhalb und außerhalb Rumäniens zu verkehren. Der Umstand, dass zeitweilige Ortsveränderungen ohne Zustimmung der Bf. vorgenommen wurden, kann daran nichts ändern. Beide haben ausdrücklich jeglichen Eingriff in ihr Recht auf Freizügigkeit verneint. Keine Verletzung von Art. 2 (2)

4. ZP EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 12.000,-- bzw. EUR 10.000,-- an die Erst- und ZweitBf. bzw. an die Dritt- und ViertBf. für materiellen und immateriellen Schaden, EUR 7.000,-- bzw. EUR 6.000,-- an die Erst- und ZweitBf. bzw. an die Dritt- und ViertBf. für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen, Sondervotum der Richterin Thomassen, gefolgt von Richter Jungwiert).

Vom GH zitierte Judikatur:

Abdulaziz, Cabales und Balkandali/GB v. 28.5.1985, A/94 (= EuGRZ 1985, 567).

Hokkannen/FIN, Urteil v. 23.9.1994, A/299-A (= NL 1994, 333 = ÖJZ

1995, 271).

Nuutinen/FIN v. 27.6.2000 (= NL 2000, 138).

Sylvester/A v. 24.4.2003 (= NL 2003, 89).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.6.2004, Bsw. 78028/01 und Bsw. 78030/01, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 140) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_3/Pini_ROM_f.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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