JudikaturJustizBsw7186/09

Bsw7186/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
02. Februar 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Di Trizio gg. die Schweiz, Urteil vom 2.2.2016, Bsw. 7186/09.

Spruch

Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK - Diskriminierung von Frauen bei Invaliditätsbemessung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine (4:3 Stimmen).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 EMRK (4:3 Stimmen).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 24.000,– für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. war in Vollzeit als Verkäuferin tätig, bis sie diese Beschäftigung im Juni 2002 wegen Rückenproblemen aufgeben musste. Am 24.10.2003 wandte sie sich an das Amt für Invalidenversicherung des Kantons St. Gallen (im Folgenden »das Amt«), um eine Invalidenrente zu erhalten. Sie gab dabei an, dass sie aus finanziellen Gründen eine Halbtagserwerbstätigkeit aufnehmen müsse.

Am 6.2.2004 gebar die Bf. Zwillinge.

Am 16.6.2005 teilte der Arzt Ch. A. S. dem Amt mit, dass die Bf. einer geeigneten Beschäftigung im Umfang von nicht mehr als 50% nachgehen könne.

Das Amt erwog mit Entscheidung vom 26.5.2006, dass der Bf. für die Zeit vom 1.6.2003 bis zum 31.8.2004 eine Rente zuzuerkennen sei, aber dass sie ab dem 1.9.2004 kein Recht auf eine Rente hätte. Zu letzterer Feststellung befand das Amt, dass die sogenannte »gemischte Methode« anzuwenden sei, da sie ohne ihre gesundheitliche Beeinträchtigung teilweise erwerbstätig wäre (Anm: Bei teilweise erwerbstätigen und daneben in einem sonstigen Aufgabenbereich (insbesondere Haushalt) tätigen Personen geschieht die Berechnung des Invaliditätsgrades zunächst getrennt für beide Bereiche. Hinsichtlich des Bereichs der Erwerbstätigkeit erfolgt ein Vergleich zwischen dem früheren und dem nach Eintritt der Behinderung zumutbarerweise erzielbaren Einkommen und hinsichtlich des Bereichs des sonstigen Aufgabenbereichs erfolgt ein Vergleich der von der Person vor und nach Auftreten der Beeinträchtigung vorgenommenen oder möglichen Tätigkeiten. Die beiden errechneten Invaliditätsgrade finden dann je zur Hälfte Eingang in die Festsetzung eines Gesamtinvaliditätsgrades.). Dabei kam es dem Amt darauf an, dass sie nach der Geburt ihrer Kinder ohne Behinderung jedenfalls nur reduziert gearbeitet hätte. Es stützte sich diesbezüglich insbesondere auf die Angaben der Bf., wonach sie sich nicht in der Lage sehen würde, mehr als 50% zu arbeiten und sich die restliche Zeit den Haushaltstätigkeiten und ihren Kindern widmen wolle. Bezüglich der 50% bezahlter Erwerbstätigkeit würde sie keinen Verlust erleiden, bezüglich der übrigen 50?% für Haushaltstätigkeiten und Kinderbetreuung besitze sie eine Invalidität von 44%, die in die Gesamtbewertung – da nur 50?% ihrer Aktivitäten betreffend – mit 22?% eingehen würde. Die für die Zuerkennung einer Rente nötige Mindestinvalidität von 40% wäre damit von der Bf. nicht erreicht.

Gegen die Verweigerung der Rente legte die Bf. Beschwerde ein und brachte zu diesem Zweck auch einen medizinischen Bericht des Arztes Ch. A. S. vom 28.9.2006 bei, in dem dieser im Wesentlichen bestätigte, dass ihr Gesundheitszustand es ihr nicht erlauben würde, eine bezahlte Halbzeitbeschäftigung unter denselben Voraussetzungen wie eine gesunde Person aufzunehmen und dass ihre Fähigkeit, sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern, auf 10% sinken würde, wenn sie einer bezahlten Arbeit nachgehen würde.

Am 30.11.2007 gab das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen der Berufung der Bf. teilweise statt und verwies den Fall zur Ergänzung der seiner Ansicht nach unvollständigen Ermittlungen an das Amt zurück. Dieses legte gegen die Entscheidung jedoch Berufung ein.

Das Bundesgericht gab der Berufung am 28.7.2008 statt und befand, dass die Bf. keinen Anspruch auf eine Rente habe. Insbesondere würde die gemischte Methode keine Diskriminierung darstellen, auch wenn diese die Wechselwirkungen zwischen den Bereichen »Haushalt« und »bezahlte Beschäftigung« nicht ausreichend berücksichtigen würde. Zur Bf. befand es, dass die Verschlimmerung der gesundheitlichen Probleme durch die Ausübung einer bezahlten Beschäftigung ihre Fähigkeit zur Vornahme von Haushaltstätigkeiten nicht um mehr als 15% verringern und auch unter Berücksichtigung dieser Wechselwirkungen der Invaliditätsgrad lediglich bei 34,5% liegen würde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügte insbesondere, dass die gemischte Methode zur Berechnung des Invaliditätsgrades zur Folge gehabt hätte, dass ihr aufgrund ihrer Teilzeitbeschäftigung eine Invalidenrente verweigert worden sei, und dadurch eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) stattgefunden hätte. Diese Methode würde auf den sehr traditionellen Grundgedanken zurückgehen, dass nur ein Teil des Paares – meistens der Mann – einer bezahlten Beschäftigung nachgeht, während der andere sich ausschließlich um den Haushalt oder die Kinder kümmert (Aufgabentrennung). Wenn sich ein Paar im Gegensatz dazu im Sinne einer in seinen Augen moderneren Lösung entscheide, die Aufgaben zu teilen, setze es sich der Gefahr aus, im Fall einer Invalidität das Recht auf eine Rente zu verlieren.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

(49) Die Bf. sieht sich zunächst im Verhältnis zu Personen benachteiligt, die keiner gewinnbringenden Tätigkeit nachgehen. [...] In einem Fall wie dem ihren würde eine solche Person zu 44?% als invalid angesehen, was ihr das Recht auf Rente gewähren würde (da der Minimalgrad, der zu einer Rente berechtigte, bei 40?% lag).

Zudem bestünde [...] ebenfalls eine Diskriminierung im Verhältnis zu Personen, die sich nicht um einen Haushalt oder Kinder kümmern müssten und daher in Vollzeit arbeiten könnten. Ihr zufolge wäre der Invaliditätsgrad einer solchen Person in einer identischen Situation wie der ihren mit 55?% festgesetzt.

Da die gemischte Methode auf diese beiden Kategorien von Personen nicht anwendbar wäre, [...] hätten diese sehr wohl das Recht auf eine Invalidenrente.

Diese rechtliche Situation würde ihr zufolge eine doppelte Diskriminierung ihr gegenüber bedeuten:

– zunächst [...] aufgrund ihrer Behinderung, da die gemischte Methode geeignet wäre, invalide Personen von jeder Anstrengung abzubringen, um sich beruflich durch eine teilweise Beschäftigung zu integrieren, da eine solche Beschäftigung sie in die Gefahr bringen würde, ihre Rente zu verlieren;

– sodann [...] aufgrund ihres Geschlechts, weil das in Kraft stehende rechtliche Regime im Großteil der Fälle Frauen nach der Geburt von Kindern treffe.

Zur Zulässigkeit

(51) Der GH bemerkt, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterin Keller und der Richter Spano und Kjølbro).

Zur Anwendbarkeit von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Zur Frage, ob die Umstände des Falles unter Art. 8 EMRK fallen

(60) Was den Aspekt des »Familienlebens« nach Art. 8 EMRK betrifft, erinnert der GH zunächst daran, dass dieser Begriff nicht allein soziale, moralische oder kulturelle Beziehungen umfasst, sondern auch materielle Interessen.

(61) Er erinnert sodann daran, dass Maßnahmen, die einem der Elternteile erlauben, zuhause zu bleiben, um sich um die Kinder zu kümmern, Maßnahmen sind, welche das Familienleben fördern und daher einen Einfluss auf die Organisation desselben haben; solche Maßnahmen unterfallen dem Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK.

(62) Der vorliegende Fall betrifft ebenfalls mit der Organisation des Familienlebens verbundene Fragen, wenn auch auf eine andere Weise. Tatsächlich geht aus den verfügbaren Statistiken hervor, dass das in Kraft stehende rechtliche Regime – also die gemischte Methode – im Großteil der Fälle die Frauen betrifft, die nach der Geburt von Kindern in Teilzeit arbeiten möchten. In seinem Urteil [...] vom 28.7.2008 hat das Bundesgericht anerkannt, dass die gemischte Methode manchmal zum Verlust der Rente führen kann – insbesondere bei den Frauen, die nach der Geburt ihrer Kinder in Teilzeit arbeiten. Der GH erwägt, dass die Anwendung der gemischten Methode auf die Bf. geeignet war, sie und ihren Mann in der Art und Weise zu beeinflussen, wie sie die Aufgaben innerhalb der Familie verteilen, und somit einen Einfluss auf die Organisation ihres Familien- und Berufslebens zu haben. In seinem Grundsatzurteil (Anm: 9C_790/2010, 8.7.2011, BGE 137 V 334.) hat das Bundesgericht im Übrigen ausdrücklich zugestanden, dass die gemischte Methode für eine Person, die aus familiären Gründen in Teilzeit beschäftigt ist, Unannehmlichkeiten verursachen kann, wenn sie invalid wird. Diese Beobachtungen reichen dem GH, um zum Schluss zu kommen, dass die gegenständliche Beschwerde unter [...] [das] Familien[leben] nach Art. 8 EMRK fällt.

(64) Im vorliegenden Fall ist der Zweig des »Privat«[lebens] nach Art. 8 EMRK ebenfalls betroffen, soweit er das Recht auf persönliche Entwicklung und die persönliche Autonomie garantiert. Tatsächlich kann, soweit die gemischte Methode die Personen, die in Teilzeit arbeiten möchten, im Verhältnis zu den Personen, die einer Erwerbstätigkeit in Vollzeit nachgehen, und im Verhältnis zu jenen, die überhaupt nicht arbeiten, benachteiligt, nicht ausgeschlossen werden, dass sie [...] die zuerst genannten Personen in ihrer Wahl einschränkt, wie sie ihr Privatleben zwischen Arbeit, Haushaltsaufgaben und der Betreuung der Kinder aufteilen.

(65) Angesichts des Vorgesagten fällt die gegenständliche Beschwerde unter Art. 8 EMRK.

Zur Natur der behaupteten Diskriminierung

(66) Aus diesen Beobachtungen, insbesondere den von den Parteien gelieferten statistischen Angaben, geht hervor, dass die gemischte Methode in der überwältigenden Mehrheit der Fälle Frauen betrifft, die nach der Geburt von einem oder mehreren Kindern den Prozentsatz ihrer gewinnbringenden Beschäftigung reduzieren möchten. Daher befindet der GH, dass die Bf. zulässigerweise behaupten kann, Opfer einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts iSd. Art. 14 EMRK zu sein.

(67) Diese Feststellung befreit den GH davon, die Frage zu untersuchen, ob die Verweigerung einer Invaliditätsrente im vorliegenden Fall auch geeignet ist, unter eine Diskriminierung wegen ihrer Behinderung zu fallen.

Ergebnis

(68) Daraus folgt, dass Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist.

Zur Einhaltung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

(82) Der GH erinnert [...] daran, dass das Voranschreiten zu einer Gleichheit der Geschlechter ein wichtiges Ziel der Mitgliedstaaten des Europarats darstellt und nur sehr starke Erwägungen dazu führen können, dass eine diesbezügliche Ungleichbehandlung als mit der Konvention vereinbar angesehen werden kann. [...]

(83) Andererseits wird dem Staat von Haus aus ein weites Ermessen belassen, wenn es z. B. darum geht, allgemeine Maßnahmen im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich zu setzen.

Zum Vorliegen einer Vermutung von indirekter Diskriminierung im vorliegenden Fall

(88) [...] Nach den von der Regierung gelieferten Zahlen wurde die gemischte Methode im Jahr 2009 in 4.168 Fällen angewendet, also in ungefähr 7,5?% aller Entscheidungen im Bereich der Invalidität. [...] [Davon] betrafen 4.045 (also 97?%) Frauen und 123 (also 3?%) Männer.

(89) In seinen Urteilen vom 28.7.2008 und 8.7.2011 hat das Bundesgericht selbst zugestanden, dass die gemischte Methode zur Beurteilung der Invalidität zum Großteil auf Frauen Anwendung findet, die nach der Geburt eines Kindes ihr Beschäftigungsmaß reduziert haben. Die Regierung bestreitet [...] nicht, dass die gemischte Methode vor allem Frauen trifft. Im Übrigen hat der Bundesrat in seinem Bericht vom 1.7.2015 (Anm: Die Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung bei Teilerwerbstätigkeit, Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates Jans (12.3960 »Schlechterstellung von Teilerwerbstätigen in der Invalidenversicherung«) vom 28. September 2012, abrufbar unter http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/40281.pdf (5.2.2016).) bemerkt, dass die gemischte Methode (nach den im Dezember 2013 berechneten Renten) in 98?% der Fälle auf Frauen angewendet wurde.

(90) Unter Berücksichtigung dieser Daten befindet der GH, dass die vorgelegten Elemente als ausreichend zuverlässig und aufschlussreich angesehen werden können, um eine Vermutung von indirekter Diskriminierung zu begründen.

Zur Frage, ob die fragliche unterschiedliche Behandlung objektiv und angemessen gerechtfertigt war

Legitimes Ziel

(92) Im vorliegenden Fall bemüht sich die Regierung, die von den betroffenen Personen durch die strittige Vorschrift erlittene unterschiedliche Behandlung [...] durch das Ziel der Invalidenversicherung zu erklären, das darin besteht, das Risiko des Verlusts der Möglichkeit zur Ausübung einer bezahlten Beschäftigung oder Tätigkeit in Aufgabenbereichen, die der Versicherte vorher tatsächlich vornehmen konnte und die er immer noch vornehmen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre, abzudecken.

(93) Der GH befindet, dass das vom Gesetz über die Invalidenversicherung verfolgte und von der Regierung angegebene Ziel ein legitimes Ziel darstellt, um die beobachteten Unterschiede zu rechtfertigen. [...]

Verhältnismäßigkeit

(94) Der GH bemerkt, dass die Bf. ursprünglich in Vollzeit als Verkäuferin arbeitete, aber diese Beschäftigung im Jahr 2002 wegen Rückenproblemen aufgeben musste. Ihr wurde für den Zeitraum zwischen 20.6.2002 und Ende Mai 2004 eine Invalidenrente von 50?% zuerkannt. Diese Rente wurde nach der Geburt ihrer Zwillinge unter Anwendung der gemischten Methode ausgehend von der Annahme eingestellt, dass die Bf. entsprechend ihrer eigenen Erklärungen gegenüber dem Amt auch im Fall, dass sie nicht von Invalidität betroffen wäre, nach der Geburt ihrer Kinder lediglich reduziert gearbeitet hätte.

(95) Die Regierung gibt zu bedenken, dass die gemischte Methode nicht mit dem Geschlecht der versicherten Person in Verbindung steht: sie erklärt, dass diese nur den invaliditätsbedingten Verlust der Arbeitsfähigkeit des Versicherten oder seiner Fähigkeit im Hinblick auf Tätigkeiten in Aufgabenbereichen oder beider Fähigkeiten zugleich berücksichtigt.

Der Verlust von Einkommen einer Person, die nach der Geburt eines Kindes eine gewinnbringende Beschäftigung reduziert oder aufgibt, die sie bis dahin hatte, stellt in ihren Augen einen vom vorangehenden völlig unabhängigen Fall dar. Tatsächlich [...] könnten derartige familiäre Gründe invalide und bei guter Gesundheit befindliche Personen gleichermaßen betreffen.

(96) Der GH befindet, dass – wie oben ausgeführt – das von der Regierung vorgebrachte Ziel der Invalidenversicherung [...] für sich ein mit dem Wesen und den Beschränkungen eines solchen Versicherungssystems, das auf beschränkten Ressourcen beruht und folglich unter seinen Leitprinzipien jenes der Kontrolle seiner Ausgaben haben muss, zusammenhängendes Ziel ist.

Dennoch muss dieses Ziel im Lichte der Gleichheit der Geschlechter beurteilt werden, da der Fall eine Behauptung von Diskriminierung zulasten der Frauen betrifft. Nun können aber [...] nur sehr starke Erwägungen dazu führen, dass eine unterschiedliche Behandlung unter diesem Aspekt mit der Konvention vereinbar ist. Der GH schließt daraus, dass der Ermessensspielraum der Behörden im vorliegenden Fall stark reduziert war.

(97) Der GH verkennt nicht, dass es in erster Linie den nationalen Behörden und insbesondere den gerichtlichen Instanzen zukommt, das innerstaatliche Recht auszulegen und anzuwenden. Gestützt auf die weiter oben angeführten einschlägigen rechtlichen und die innerstaatliche Praxis betreffenden Elemente bemerkt er dennoch, dass es wahrscheinlich ist, dass die Bf., wenn sie zu 100?% gearbeitet oder sich vollständig den Haushaltsaufgaben gewidmet hätte, eine teilweise Invalidenrente erhalten hätte. Im Übrigen wurde ihr, da sie früher in Vollzeit gearbeitet hatte, ursprünglich eine solche Rente zuerkannt, von der sie bis zur Geburt ihrer Kinder profitierte. Daraus geht klar hervor, dass die Weigerung, ihr einen Anspruch auf eine Rente zuzuerkennen, den Hinweis der Bf. darauf als Grundlage hat, ihre bezahlte Beschäftigung reduzieren zu wollen, um sich um ihren Haushalt und ihre Kinder zu kümmern. Tatsächlich erweist sich die gemischte Methode für die große Mehrheit der Frauen, die nach der Geburt der Kinder in Teilzeit arbeiten möchten, als diskriminierend.

(98) [...] Sodann ist die Anwendung der gemischten Methode iSd. Rechtsprechung des Bundesgerichts seit einer gewissen Zeit von Seiten bestimmter Gerichte wie von einem Teil der Lehre Kritik ausgesetzt. So hat das Bundesgericht ausdrücklich eingestanden, dass die Wechselwirkungen zwischen den Aspekten »Haushalt« und »bezahlte Beschäftigung« im Rahmen der gemischten Methode nicht ausreichend berücksichtigt werden und dass diese zum Verlust der ganzen Rente führen kann, wenn die versicherte Person – häufig nach der Geburt eines Kindes – eine zuvor ausgeübte Erwerbstätigkeit beendet oder reduziert. Diese Feststellung wurde im Übrigen vom Bundesrat in seinem Bericht vom 1.7.2015 bestätigt. Dieser hat hinzugefügt, dass man der gemischten Methode auch anlastet, den Umstand zweimal zu berücksichtigen, dass die Beschäftigung in Teilzeit ausgeübt wird: bei der Bestimmung des Einkommens ohne Invalidität einerseits und bei der verhältnismäßigen Gewichtung der beiden Bereiche andererseits.

(99) In seinem Grundsatzurteil dazu hat das Bundesgericht zugestanden, dass die gemischte Methode großteils auf Frauen Anwendung findet und dass sie klärungsbedürftig ist, aber befunden, dass es eher beim Gesetzgeber liegen würde als bei den Gerichten, eine Lösung vorzuschlagen, die die soziologische Entwicklung der Gesellschaft und die Situation der Halbtagsarbeitenden, die meist Frauen sind, besser berücksichtigt [...].

(100) Der GH stellt im Übrigen fest, dass der Bundesrat in seinem Bericht vom 1.7.2015 die gegenüber der gemischten Methode vorgebrachte Kritik detailliert zusammengefasst und analysiert hat. Er hat eingestanden, dass die gemischte Methode zu niedrigeren Invaliditätsraten führen kann und dass man sich die Frage stellen könne, ob diese Methode nicht – zumindest indirekt – eine Diskriminierung etabliere.

Für den GH handelt es sich dabei um klare Hinweise auf eine Einsicht im Hinblick auf den Umstand, dass die gemischte Methode nicht mehr im Einklang mit der Verfolgung der Gleichheit der Geschlechter in der zeitgenössischen Gesellschaft steht, wo die Frauen mehr und mehr den legitimen Wunsch hegen, das Familienleben und berufliche Interessen vereinbaren zu können.

(101) [...] Zudem plädieren bestimmte Spezialgerichte selbst, darunter im vorliegenden Fall die kantonale Instanz, für die Anwendung einer Methode, die für die Versicherten, die in Teilzeit arbeiten, günstiger ist und die ihre Behinderung im Bereich der »bezahlten Beschäftigung« genauso ausreichend berücksichtigt wie im Bereich der »Haushaltstätigkeit«. [Der GH] beobachtet im Übrigen, dass im Schweizer Recht mehrere Methoden zur Berechnung des Invaliditätsgrades existieren. Daher bemerkt der GH auch, dass andere Methoden zur Berechnung, die die Wahl der Frauen, nach der Geburt eines Kindes in Teilzeit zu arbeiten, besser achten, denkbar sind, und dass es so möglich wäre, das Ziel der Annäherung zwischen den Geschlechtern zu verfolgen, ohne deshalb das Ziel der Invalidenversicherung zu gefährden.

(102) Über diese allgemeinen Erwägungen in Bezug auf die gemischte Methode hinaus befindet der GH, dass die – auch nur teilweise – Verweigerung der Zuerkennung jeder Rente für die Bf. konkrete und bedeutende Konsequenzen mit sich bringt, auch unter der Annahme, dass sie in Teilzeit arbeiten kann. Ihr fiktives Einkommen, das auf Basis einer Halbzeitarbeit berechnet wurde, wurde vom Amt mit lediglich CHF 24.293,– (circa € 23.654,–) im Zeitpunkt der Berechnung des Invaliditätsgrades bewertet.

Ergebnis

(103) Unter Berücksichtigung des Vorgesagten ist der GH nicht überzeugt davon, dass die von der Bf. – der in Anwendung der gemischten Methode zur Berechnung des Invaliditätsgrades, die für die Personen verwendet wird, die eine bezahlte Beschäftigung in Teilzeit ausüben, eine Invalidenrente verweigert wurde – erlittene unterschiedliche Behandlung auf einer angemessenen Rechtfertigung beruht.

(104) Daraus folgt, dass es im vorliegenden Fall zu einer Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK gekommen ist (4:3 Stimmen).

Zu den übrigen behaupteten Verletzungen

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine

(105) Unter Art. 8 EMRK machte die Bf. geltend, dass die gemischte Methode zur Berechnung des Invaliditätsgrades zur Folge hatte, dass ihr wegen der beruflichen Beschäftigung, die sie in Teilzeit ausübte, eine Rente verweigert wurde.

(106) Der GH stellt fest, dass die vorliegende Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterin Keller und der Richter Spano und Kjølbro).

(107) Demgegenüber befindet der GH es – wenn man bedenkt, dass diese Beschwerde im Wesentlichen die gleiche ist wie die oben unter Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK untersuchte – nicht für nötig, sie gesondert unter Art. 8 EMRK allein zu prüfen (4:3 Stimmen).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 6 EMRK

(108) Die Bf. behauptet unter dieser Bestimmung, von Seiten der innerstaatlichen Organe Opfer einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Hinblick auf die Beweisaufnahme geworden zu sein – insofern als sie vor diesen das Ausmaß beweisen musste, in dem sie unter Außerachtlassung ihrer Invalidität nach der Geburt ihres Kindes gearbeitet hätte.

(109) Der GH stellt fest, dass die vorliegende Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich).

(110) Demgegenüber befindet der GH es angesichts der Feststellung der Verletzung von Art. 14 EMRK, zu der er in Bezug auf Art. 8 EMRK gekommen ist, nicht für nötig, die Aspekte im Rahmen einer Verbindung mit Art. 6 EMRK gesondert zu prüfen (4:3 Stimmen).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(111) Die Bf. behauptet, dass das Bundesgericht bei der Prüfung der Wechselwirkungen zwischen den Bereichen »Haushalt« und »bezahlte Beschäftigung« den medizinischen Bericht des Arztes Ch. A. S. vom 28.9.2006 nicht erwähnt und diesen auch nicht als Beweismittel gewürdigt hätte. Sie sieht darin eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren [...].

(113) Im vorliegenden Fall geht aus den Gründen des Urteils des Bundesgerichts hervor, dass es die Wechselwirkungen zwischen den Bereichen »Haushalt« und »bezahlte Beschäftigung« berücksichtigt und daraus Schlüsse zur speziellen Situation der Bf. gezogen hat. Insbesondere hat das Bundesgericht, nachdem es daran erinnert hatte, dass ein Maximalprozentsatz von 15?% zur Reduktion der Möglichkeit zur Ausübung von Haushaltsaufgaben hinzugefügt werden konnte, befunden, dass auch unter Berücksichtigung dieses Maximalprozentsatzes der Invaliditätsgrad immer noch nicht das verlangte Minimum erreichen würde. Daraus folgt, dass bei dieser Argumentation die Angaben im medizinischen Bericht von Doktor Ch. A. S. nicht von Interesse waren. Der GH sieht nicht, wie der Umstand, dass das Bundesgericht diese letzte Schlussfolgerung nicht ausdrücklich gezogen hat, die Fairness des Verfahrens beeinträchtigen hätte sollen.

(114) Deshalb befindet der GH, dass die gegenständliche Beschwerde keinen Anschein einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren offenbart und als offensichtlich unbegründet [...] [und somit als unzulässig] zurückgewiesen werden muss (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– für immateriellen Schaden sowie € 24.000,– für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Schuler-Zgraggen/CH v. 24.6.1993 = NL 1993/4, 30 = EuGRZ 1996, 604 = ÖJZ 1994, 138

Burghartz/CH v. 22.2.1994 = NL 1994, 76 = ÖJZ 1994, 559

Petrovic/A v. 27.3.1998 = NL 1998, 76 = ÖJZ 1998, 516

Pretty/GB v. 29.4.2002 = NL 2002, 91 = EuGRZ 2002, 234 = ÖJZ 2003, 311

Merger und Cros/F v. 22.12.2004

Stec u.a./GB v. 12.4.2006 (GK) = NL 2006, 90

Evans/GB v. 10.4.2007 (GK) = NL 2007, 90

Konstantin Markin/RUS v. 22.3.2012 (GK) = NLMR 2012, 92

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.2.2016, Bsw. 7186/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 76) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/DiTrizio.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.