JudikaturJustizBsw71537/14

Bsw71537/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. Juni 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Harkins gg. das Vereinigte Königreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 15.6.2017, Bsw. 71537/14.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 6 EMRK, Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK - Entwicklungen in der Rechtsprechung des EGMR sind keine "neuen Tatsachen" isd. Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK.

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist britischer Staatsangehöriger. Am 3.2.2000 wurde er von einem Strafgericht Floridas (USA) wegen Mordes ersten Grades und versuchten bewaffneten Raubüberfalls angeklagt. Er flüchtete nach Großbritannien, wo er schließlich festgenommen wurde. Am 7.3.2003 stellten die USA ein Auslieferungsbegehren an die britischen Behörden. Mit diplomatischer Note vom 3.6.2005 sicherte die amerikanische Botschaft der Regierung Großbritanniens zu, dass der Generalanwalt des Staats Florida nicht für die Verhängung der Todesstrafe plädieren und ihm im Fall einer Verurteilung lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung drohen werde. Der britische Außenminister ordnete daraufhin die Auslieferung des Bf. an. Am 14.2.2007 wies der High Court den Antrag des Bf. auf Überprüfung der Auslieferungsentscheidung ab, da im vorliegenden Fall kein reales Risiko der Verhängung der Todesstrafe bestehe.

Am 19.2.2007 reichte der Bf. beim EGMR eine Beschwerde wegen Verletzung von Art. 3 EMRK ein, da er in den USA im Fall einer Verurteilung Gefahr laufe, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung verurteilt zu werden. Am 2.4.2007 ersuchte der EGMR die britische Regierung gemäß Art. 39 VerfO, von einer Auslieferung vorerst Abstand zu nehmen.

Am 17.1.2012 verkündete die IV. Kammer ihr Urteil im Fall Harkins und Edwards/GB. Sie vertrat die Ansicht, dass die Aussicht auf eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Begnadigung nicht grob unverhältnismäßig wäre. Sollte der Punkt erreicht worden sein, an dem eine fortgesetzte Anhaltung keinem legitimen Ziel mehr diene, sei es durchaus möglich, dass der Gouverneur von Florida und der Begnadigungsausschuss von ihrer Befugnis zur Umwandlung der Strafe Gebrauch machen würden.

Am selben Tag erließ die IV. Kammer ihr Urteil im Fall Vinter u.a./GB, in dem es um die Vereinbarkeit der im britischen Recht vorgesehenen Verhängung lebenslanger Haft ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung mit Art. 3 EMRK ging. Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass eine Frage unter dieser Bestimmung lediglich dann auftreten könne, wenn nachgewiesen worden sei, dass eine anhaltende Inhaftierung nicht länger aus legitimen Strafzwecken gerechtfertigt werden könne und die Strafe de facto und de jure nicht reduzierbar sei.

Am 9.7.2013 sprach die Große Kammer (GK) ihr Urteil im Fall Vinter u.a./GB. Sie hielt fest, dass Art. 3 EMRK bei lebenslangen Freiheitsstrafen dahingehend interpretiert werden müsse, dass er die Reduzierbarkeit der Strafe erfordere – und zwar im Sinne einer Überprüfung, ob beim Häftling derart signifikante Veränderungen im Zuge der Verbüßung der Strafe und solche Fortschritte beim Rehabilitationsprozess festzustellen sind, dass eine anhaltende Inhaftierung nicht länger aus berechtigten Strafzwecken gerechtfertigt werden kann.

Der Bf. wandte sich darauf angesichts der radikalen Änderung der Rechtsprechungslinie seitens der GK zu Art. 3 EMRK mit dem Ersuchen um nochmalige Überprüfung der Ausweisungsentscheidung an den High Court. Ferner rügte er eine Verletzung von Art. 5 und 6 EMRK. Mit Beschluss vom 7.11.2014 verweigerte der High Court die Erlaubnis zur Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. zur Anrufung der Gerichte bezüglich des unter Art. 5 und 6 EMRK gemachten Vorbringens mit der Begründung, es habe kein solcher fundamentaler Wechsel im Recht stattgefunden, dass die Menschenrechte des Bf. beeinträchtigt werden hätten können.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, dass seine Auslieferung an die USA, wo ihm die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung drohe, mit Blick auf das mittlerweile ergangene Urteil des EGMR im Fall Trabelsi/B Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung) verletzen würde, da das Straf- und Begnadigungssystem in Florida nicht den von der GK in Vinter u.a./GB identifizierten verpflichtenden prozessualen Anforderungen zu genügen vermöge. Er behauptet ferner, dass die Verhängung einer zwingenden lebenslänglichen Haftstrafe grob unverhältnismäßig wäre.

Unter Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) bringt der Bf. vor, dass die Auferlegung einer solchen Strafe eine offenkundige Rechtsverweigerung darstellen würde.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Zur Einrede der Regierung

(34) Die Regierung bringt vor, dass die vorliegende Beschwerde [...] [von den Fakten her] [...] im Wesentlichen mit der vom GH am 17.1.2012 im Fall Harkins und Edwards/GB behandelten Beschwerde identisch sei.

(37) Die einzige Änderung sei in der nachfolgenden Entwicklung des Fallrechts des GH zu sehen, was jedoch nicht als »relevante neue Tatsache« iSv. Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK angesehen werden könne. [...]

Beurteilung der Zulässigkeit durch den GH

Allgemeine Prinzipien

(42) Eine Beschwerde wird mit dem ersten Halbsatz des Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK generell dann in Konflikt geraten, wenn der oder die Bf. bereits zuvor eine auf im Wesentlichen dieselbe Person, dieselben Fakten und dieselben Beschwerdepunkte bezogene Beschwerde eingereicht hat. Es reicht für eine(n) Bf. nicht aus, relevante neue Informationen zu behaupten, wenn er oder sie bloß versucht, seine oder ihre früheren Beschwerdepunkte mit neuen rechtlichen Argumenten zu untermauern. Um den GH zu veranlassen, eine Beschwerde zu prüfen, die auf denselben Fakten wie eine frühere Beschwerde beruht, muss der oder die Bf. innerhalb der in Art. 35 Abs. 1 EMRK festgelegten sechsmonatigen Frist ernsthaft einen neuen Beschwerdepunkt oder neue Tatsachen vorbringen, die vom GH vorher noch nicht erörtert worden sind.

Anwendung der allgemeinen Prinzipien auf den gegenständlichen Fall

(43) Entgegen dem Vorbringen des Bf. ist der GH der Meinung, dass der vorliegende Beschwerdepunkt unter Art. 3 EMRK »im Wesentlichen derselbe« wie jener in seiner früheren – im Jahr 2007 – erhobenen Beschwerde ist. In beiden Beschwerden behauptet er, dass seine Auslieferung in die USA eine Verletzung von Art. 3 EMRK aufgrund des Risikos mit sich bringen würde, dass er im Fall einer Verurteilung lebenslange Haft ohne Möglichkeit einer Begnadigung zu erwarten hätte und dass eine solche Strafe »grob unverhältnismäßig« wäre. Weiters haben sich die Tatsachen, auf denen sich die ursprüngliche Beschwerde gründete, seit dem Rechtskraft erlangenden Urteil des GH im Fall Harkins und Edwards/GB [...] nicht geändert. Den Bf. erwarten nach wie vor dieselben Anklagen hinsichtlich derselben Straftaten und das Straf- und Begnadigungssystem in Florida ist dasselbe wie im Jahr 2012 geblieben.

(44) Ungeachtet dessen wendet sich der Bf. gegen eine Zurückweisung seiner Beschwerde nach Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK, da »relevante neue Tatsachen« in Form der Urteile des GH in den Fällen Vinter u.a./GB (GK), Trabelsi/B und Murray/NL existieren würden. Ferner sei eine Neubewertung seiner Beschwerde auf innerstaatlicher Ebene im Lichte der ersten zwei Urteile erfolgt und verweise er auf zusätzliche von ihm beigebrachte eidesstattliche Erklärungen von Sachverständigen zum Straf- und Begnadigungssystem in Florida.

(45) Insoweit sich der Bf. auf das kürzlich durchgeführte innerstaatliche Verfahren bezieht, möchte der GH in Erinnerung rufen, dass er hinsichtlich neuer Beschwerden betreffend das Versäumnis von Staaten bei der Umsetzung seiner Urteile akzeptiert hat, dass eine neuerliche Prüfung des Falls durch die innerstaatlichen Behörden – ob nun im Wege der Wiederaufnahme oder eines komplett neuen Aufrollens des innerstaatlichen Verfahrens – unter gewissen Umständen eine »relevante neue Tatsache« darstellen kann, welche Anlass zu einer neuen Konventionsverletzung geben kann. Der GH möchte daher die Möglichkeit nicht ausschließen, dass iSd. ersten Halbsatzes des Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK die erneute Prüfung einer Beschwerde durch die nationalen Gerichte ebenfalls eine »relevante neue Tatsache« darstellen kann – vorausgesetzt das neue innerstaatliche Verfahren basierte nicht auf vorher vom GH bereits erörterten Tatsachen (siehe Kafkaris/CY [ZE], Rn. 68-69 [...]).

(46) Im vorliegenden Fall gründete das neue innerstaatliche Verfahren auf den Urteilen des GH in Vinter u.a./GB (GK) und Trabelsi/B, die beide im Anschluss an das Urteil im Fall Harkins und Edwards/GB ergingen. Wenn sich auch die Tatsachen des [vorliegenden] Falls nicht geändert haben, kann doch nicht gesagt werden, dass die vom Bf. im neuen innerstaatlichen Verfahren erhobenen Argumente Gegenstand einer vorherigen Prüfung durch den GH waren. Nichtsdestotrotz beschäftigte den High Court als einzige Frage, ob die beiden oben genannten Urteile das Fallrecht [des GH] derart ausreichend entwickelt hatten, dass es gemäß den geltenden verfahrensrechtlichen Regelungen ausnahmsweise gestattet sei, den rechtskräftig entschiedenen Fall wiederaufzunehmen. Nachdem er diese Frage negativ beantwortet hatte, lehnte er eine Wiederaufnahme des Falls ab. Als solche ist daher die Frage, ob das kürzlich ergangene innerstaatliche Verfahren eine »relevante neue Tatsache« darstellt, untrennbar mit der Frage verknüpft, ob die Weiterentwicklung des Fallrechts des GH in den Fällen Vinter u.a./GB (GK), Trabelsi/B und Murray/NL als »relevante neue Tatsache« eingestuft werden kann.

(47) Da der Bf. sich im Wesentlichen beklagt, dass das Straf- und Begnadigungssystem in Florida den in Vinter u.a./GB (GK) dargelegten Erfordernissen und dem nachfolgenden Fallrecht des GH nicht Genüge zu tun vermag, ist gleichfalls festzustellen, dass die eidestattlichen Erklärungen, auf die er sich bezieht, nicht mehr als »neue rechtliche Argumente«, basierend auf diesen Urteilen, darzustellen vermögen [...].

(48) Die eigentliche Frage, über die der GH im gegenständlichen Fall entscheiden muss, ist daher jene, ob die Entwicklungen in seinem Fallrecht im Anschluss an sein Urteil im Fall Harkins und Edwards/GB für sich »relevante neue Tatsachen« iSd. ersten Halbsatzes des Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK darstellen.

(49) In dieser Hinsicht hat der GH bereits hervorgehoben, dass die Konvention in ihrer Eigenschaft als völkerrechtlicher Vertrag im Lichte der Auslegungsregeln der Art. 31-33 WVK interpretiert werden muss. [...]

(50) Bis dato hat der GH bezüglich der Bedeutung des Begriffs »relevante neue Tatsache« keine präzise Anleitung gegeben. Während der englische Text von Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK den Begriff »relevant new information« verwendet, spricht der französische von »faits nouveaux« – ein Unterschied, der nur dann beseitigt werden kann, wenn die gewöhnliche Bedeutung von »relevante neue Tatsache« als relevante neue faktische Tatsache verstanden wird (vgl. X./GB [ZE]). [...]

(51) Der GH möchte sich nun dem Ziel und Zweck des im ersten Halbsatz des Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK niedergelegten Zulässigkeitskriteriums zuwenden. [...] Der vordringliche Zweck dieses Kriteriums besteht in der Wahrung der Interessen der Rechtskraft und der Rechtssicherheit, indem Bf. daran gehindert werden, im Wege der Erhebung einer nochmaligen Beschwerde frühere Entscheidungen und Urteile [des GH] anzufechten.

(53) Der GH hat bereits festgehalten, dass gewisse Zulässigkeitsregeln mit Flexibilität und ohne exzessiven Formalismus angewendet werden müssen [...].

(54) Einen rigoroseren Ansatz hat der GH jedoch bei der Anwendung solcher Zulässigkeitskriterien eingenommen, deren Ziel und Zweck die Wahrung der Rechtssicherheit und der Abgrenzung der Reichweite seiner Kompetenz ist. Einschränkungen der Zuständigkeit des GH tragen zur rechtlichen Stabilität bei, indem Individuen und staatlichen Behörden angezeigt wird, wann eine Kontrolle möglich ist und wann nicht. Demgegenüber stellt die Rechtssicherheit eines der grundlegenden Elemente des Rechtsstaatsprinzips dar, welches unter anderem verlangt, dass wenn ein Gericht über eine Angelegenheit rechtskräftig entschieden hat, diese Entscheidung nicht in Frage gestellt werden sollte. Wäre das nicht der Fall, würden die Parteien nicht [...] wissen, dass eine Angelegenheit Gegenstand einer rechtskräftigen Erledigung durch den GH wurde. Genau aus diesem Grund schränkt Art. 80 VerfO [Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens] die Umstände, unter denen eine Partei die Wiederaufnahme einer bereits entschiedenen Rechtssache beantragen kann, auf das Bekanntwerden einer Tatsache ein, die geeignet gewesen wäre, einen maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang [des Beschwerdeverfahrens] auszuüben, wenn diese Tatsache dem GH unbekannt war und der Partei zum Zeitpunkt des Urteils nach menschlichem Ermessen nicht bekannt sein konnte.

(55) Da Ziel und Zweck von Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK die Wahrung der Interessen der Rechtssicherheit und der »Markierung« der Grenzen seiner Zuständigkeiten ist, sieht sich der GH nicht in der Lage, den Begriff »relevante neue Tatsachen« über den gewöhnlichen Bedeutungsgehalt des englischen und französischen Texts der Konvention auszudehnen [...].

(56) [...] Der GH kann daher zu keinem anderen Schluss gelangen, als dass Entwicklungen in seiner Rechtsprechung keine »relevanten neuen Tatsachen« iSv. Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK darstellen. Das Fallrecht des GH ist in ständiger Entwicklung und falls diese Entwicklungen [...] es gestatten würden, nicht erfolgreichen Bf. ihre Beschwerde nochmals neu einzureichen, würden rechtskräftige Urteile im Wege der Erhebung neuer Beschwerden laufend in Frage gestellt werden. Dies würde zur Folge haben, dass die in Art. 80 VerfO niedergelegten strikten Gründe, wann eine Wiederaufnahme des mit Urteil abgeschlossenen Beschwerdeverfahrens erlaubt ist, sowie die Glaubwürdigkeit und die Autorität solcher Urteile untergraben würden. Ansonsten würde das Prinzip der Rechtssicherheit nicht gleichermaßen auf beide Parteien Anwendung finden, da es lediglich einem Bf. auf der Basis nachfolgender Entwicklungen in der Rechtsprechung tatsächlich gestattet wäre, vorherige geprüfte Fälle wiederaufzunehmen, vorausgesetzt er oder sie wäre in der Lage, eine neue Beschwerde innerhalb der sechsmonatigen Frist einzureichen.

(57) Folglich sind beide der unter Art. 3 EMRK vorgebrachten Beschwerdepunkte des Bf. [...] im Wesentlichen dieselben wie die vom GH bereits im Fall Harkins und Edwards/GB [...] geprüften. Das im Anschluss an dieses Urteil ergangene Fallrecht stellt keine »relevante neue Tatsache« iSv. Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK dar. Der Beschwerdepunkt unter Art. 3 EMRK ist daher gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückzuweisen (mehrheitlich).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Zur Einrede der Regierung

(59) Mit Rücksicht darauf, dass der Bf. in seiner Beschwerde aus 2007 auch eine Verletzung von Art. 6 EMRK hätte rügen können (es aber nicht tat), würde es nach Ansicht der Regierung den Prinzipien der Rechtssicherheit und der Rechtskraft von gerichtlichen Entscheidungen zuwiderlaufen, wenn sich der GH nun mit einer solchen Beschwerde befassen würde. [...]

Beurteilung der Zulässigkeit durch den GH

(61) Was die Einrede der Regierung [...] anbelangt, hält der GH es nicht für notwendig, zu einer Entscheidung über diese Frage zu gelangen, da er diesen Beschwerdepunkt aus den unter Rn. 62-68 dargelegten Gründen ohnehin für offensichtlich unbegründet hält.

(62) [...] Der GH hat bislang nicht ausgeschlossen, dass sich bei einer Ausweisungsentscheidung ausnahmsweise Fragen unter Art. 6 EMRK stellen können, wenn Umstände vorliegen, wo der Flüchtling eine massive Verweigerung eines fairen Verfahrens im Empfangsstaat erlitten hat oder ihm eine solche drohen wird (vgl. Soering/GB). In der Rechtsprechung des GH wird der Begriff »offenkundige Rechtsverweigerung« allerdings einem Verfahren gleichgesetzt, welches den Bestimmungen des Art. 6 EMRK oder den darin verankerten Prinzipien offenkundig zuwiderläuft.

(64) Demzufolge ist bei der »offenkundigen Rechtsverweigerung« ein strenger Unfairnesstest anzulegen, der über bloße Unregelmäßigkeiten oder fehlende prozessuale Gewährleistungen im Verfahren hinausgeht, die zur Feststellung einer Verletzung von Art. 6 EMRK [...] führen können. Gefordert wird vielmehr ein Verstoß gegen die Prinzipien eines fairen Verfahrens, der so grundlegend ist, dass er einer Aufhebung oder Vernichtung des Wesensgehalts des von dieser Konventionsbestimmung garantierten Rechts gleichkäme. Bislang hat der GH allerdings niemals den Nachweis erbracht gesehen, dass eine Auslieferung Art. 6 EMRK verletzen würde.

(65) Bei der Beurteilung, ob dieser strenge Unfairnesstest eingehalten wurde, ist der GH der Ansicht, dass derselbe Standard und dieselben Beweismaßstäbe wie in Ausweisungsfällen unter Art. 3 EMRK angewendet werden sollten. Folglich liegt es am Bf., Beweise vorzulegen, wonach substantielle Gründe bestehen, welche zu der Annahme veranlassen, dass er im Fall einer Außerlandesschaffung [...] dem realen Risiko einer massiven Rechtsverweigerung unterworfen sein würde. Ist ein solcher Beweis erbracht worden, liegt es an der Regierung, entsprechende Zweifel auszuräumen.

(66) Im vorliegenden Fall bezieht sich der Bf. ausschließlich auf den obligatorischen Charakter der lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Begnadigung. Wie der High Court jedoch hervorgehoben hat, wird dieser Strafe ein Verfahren vorangehen, von dem der Bf. nicht behauptet hat, es wäre an sich unfair. Insbesondere [...] hält der GH fest, dass keinerlei Hinweise vorliegen, dass das Verhandlungsgericht nicht »unabhängig und unparteiisch« vorgehen werde, dass dem Bf. eine rechtliche Vertretung verweigert würde oder seine Verteidigungsrechte missachtet würden, dass aufgrund von Folter gemachte Äußerungen zugelassen würden oder dass der Bf. aus anderen Gründen befürchten müsste, einen grundlegenden Verstoß der Prinzipien eines fairen Verfahrens zu erleiden.

(67) Im Lichte dieser Erwägungen kommt der GH zu dem Ergebnis, dass die Tatsachen des vorliegenden Falls kein Risiko für den Bf. offenbaren, dass er in den USA eine »offenkundige Rechtsverweigerung« iSv. Art. 6 EMRK erleiden müsste.

(68) Die Beschwerde des Bf. [...] ist daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Zur vorläufigen Maßnahme

(69) Mit Rücksicht auf die obigen Schlussfolgerungen hält es der GH für angemessen, die unter Art. 39 VerfO angezeigte vorläufige Maßnahme aufzuheben.

Vom GH zitierte Judikatur:

X./GB v. 10.7.1981 (ZE der EKMR)

Soering/GB v. 7.7.1989 = ÖJZ 1989, 99 = EuGRZ 1989, 314

Kafkaris/CY v. 21.6.2011 (ZE)

Harkins und Edwards/GB v. 17.1.2012 = NLMR 2012, 11

Vinter u.a./GB v. 17.1.2012 = NLMR 2012, 20

Vinter u.a./GB v. 9.7.2013 (GK) = NLMR 2013, 241

Trabelsi/B v. 4.9.2014 = NLMR 2014, 383

Murray/NL v. 26.4.2016 = NLMR 2016, 110

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 15.6.2017, Bsw. 71537/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 358) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_4/Harkins.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
6