JudikaturJustizBsw66773/13

Bsw66773/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. November 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Perrillat-Bottonet gg. die Schweiz, Urteil vom 20.11.2014, Bsw. 66773/13.

Spruch

Art. 3 EMRK - Gewaltanwendung durch die Polizei bei Personenkontrolle.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK in seinem materiellrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem materiellrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 3 EMRK hinsichtlich der Haftbedingungen des Bf. (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 4.10.2009 verließ der Bf. gegen 1:30 Uhr in Begleitung von V. A. eine Bar und sah, wie die beiden Polizisten P. T. und O. G. an seinem Auto einen Strafzettel wegen Falschparkens anbringen wollten. Die Polizisten verlangten von ihm Führerschein und Fahrzeugpapiere und führten ihn schließlich auf die Polizeiwache, wo sie ihn in einer Ausnüchterungszelle unterbrachten. Dort wurde der Bf. nach eigenen Angaben nackt, völlig durchgefroren und durstig zurückgelassen. Nach seiner Entlassung am folgenden Tag begab sich der Bf. ins Krankenhaus, wo die Ärzte einen Bruch der Rotationsmanschette an der rechten Schulter diagnostizierten.

Laut den beiden Polizisten sei der Bf. zum Zeitpunkt der Kontrolle betrunken gewesen, hätte herumgebrüllt, zusammenhanglose Äußerungen von sich gegeben und gestikuliert. Sein Verhalten sei provokativ und impulsiv gewesen. Er hätte auch auf der Straße einen Werkzeugkoffer umgestoßen, in dem sich ein langes Messer befunden hätte, und sich geweigert, auf den Posten mitzukommen. Sie hätten den Bf. sodann auf beiden Seiten in den Armhebel genommen, um ihm Handschellen anzulegen und ihn auf das Polizeirevier zu führen. Der Bf. gesteht seinerseits ein, dass er etwas Alkohol konsumiert habe, doch sei er nicht betrunken gewesen. Er hätte auch länger gebraucht, um seine Papiere vorzuweisen und die Polizisten auch gereizt gefragt, ob es »für das Finden der Papiere eine Zeitmessung gibt«.

Die Aussagen der beiden Polizisten ergaben sich aus einem Polizeibericht vom 21.10.2009 sowie aus drei Verhandlungsprotokollen vom 21.10.2011 bzw. 14.12.2011. Der Polizist P. T. gab insbesondere an, dass sie den üblichen Armhebel verwendet hätten und aufgrund des Widerstands des Bf. und dessen Statur etwas mehr Kraft anwenden hätten müssen. O. G. erklärte zudem, man habe sonst keine Gewalt eingesetzt. Die Angaben der beiden Polizisten wurden von zwei weiteren Polizisten bestätigt, die zu dem Vorfall dazugekommen waren. Deren Aussagen wurden von der Genfer Polizei am 20. und 24.11.2009 aufgenommen.

V. A., der Begleiter des Bf., gab an, dass der Bf. und die Polizisten sich Sticheleien an den Kopf geworfen hätten und Letztere dem Bf. dann den Arm verdreht hätten, um ihn ruhig zu stellen. Er selbst hätte versucht, die Situation zu beruhigen.

Am 8.10.2009 brachte der Bf. eine Strafanzeige gegen die Polizisten ein, der Generalstaatsanwalt stellte das Verfahren jedoch am 17.12.2009 ein. Die Anklagekammer hob diese Einstellung am 9.6.2010 teilweise auf, da geprüft werden müsse, ob der von den Polizisten verwendete Armhebel unverhältnismäßig gewesen sei, welcher Natur die Verletzungen des Bf. seien und welche Rolle die medizinische Vorgeschichte des Bf. spielte.

Die Staatsanwaltschaft ordnete daraufhin ein medizinisches Gutachten an, in welchem zwei Ärzte die Schulterverletzung des Bf. bestätigten. Allerdings hätte der Armhebel laut diesen alleine die Verletzung nicht bewirken können, sondern seien dafür auch frühere Verletzungen aus 1983 und 2001 verantwortlich. Aufgrund dessen hätte bereits eine geringe Krafteinwirkung ausgereicht, um die Funktion des Gelenks zu beeinträchtigen. Der Armhebel wäre zwar grundsätzlich dazu geeignet gewesen, zu der Verletzung zu führen, doch könne das nicht mit Bestimmtheit festgestellt werden. Es könne daher nicht gesagt werden, ob der Armhebel mit übermäßiger Gewalt angewendet wurde. Die Staatsanwaltschaft vernahm dazu in der Folge den Bf. und die beiden Polizisten.

Am 19.1.2012 erließ die Staatsanwaltschaft erneut einen Einstellungsbeschluss und gab dem Antrag des Bf., auch die beiden anderen beim Vorfall anwesenden Polizisten sowie seinen Freund als Zeugen zu befragen, nicht statt. Diese Entscheidung wurde von der nach der StPO-Reform nunmehrigen »Beschwerdekammer in Strafsachen« am 16.4.2012 bestätigt. Insbesondere sei der Antrag des Bf. auf Anhörung des Chirurgen, der ihn operiert hatte, nicht fristgemäß und lediglich im Rechtsmittel erfolgt. Das Bundesgericht bestätigte die Entscheidung der Beschwerdekammer am 4.4.2013.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), da ihm gegenüber bei seiner Festnahme ungerechtfertigte und unverhältnismäßige Gewalt angewendet worden sei. Zudem sei er nackt, durchgefroren und durstig in einer Ausnüchterungszelle angehalten worden. Unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 3 EMRK beschwert er sich über die Weigerung des Staatsanwalts und der Beschwerdekammer, im Strafverfahren bestimmte Zeugen anzuhören.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK wegen der gegen den Bf. angewendeten Gewalt

(34) Dieser Teil der Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(43) Der Bf. bestreitet [...] die Feststellung der Anklagekammer in deren Beschluss vom 9.6.2010, wonach er den Polizisten Widerstand geleistet hätte, [...] liefert aber keine andere Erklärung, warum die Polizisten gegen ihn den Armhebel eingesetzt, ihn zum Polizeiposten geführt und in einer Ausnüchterungszelle angehalten haben. Er zieht aber in Erwägung, dass sein Verhalten allenfalls als passiver Widerstand angesehen werden könne.

(44) Der GH bemerkt, dass die Aussagen aller von der Staatsanwaltschaft im Rahmen der Untersuchung vernommenen Polizisten dahingehend übereinstimmten, dass der Bf. zum fraglichen Zeitpunkt betrunken war und Widerstand gegen die Festnahme geleistet hat. Der am Ort des Geschehens ebenfalls anwesende V. A. hat eingestanden, dass der Bf. und die Polizisten »Sticheleien ausgetauscht« hätten und er selbst »versucht hätte, beide Seiten zu beruhigen«. [...]

(45) Diese Elemente genügen dem GH, um zu befinden, dass sich die Polizisten der Gefahr einer Eskalation der Situation von Seiten des Bf. gegenübersahen oder zumindest, dass der Bf. ihnen eine Form von passivem Widerstand entgegensetzte. Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen wie dem Armhebel war daher grundsätzlich gerechtfertigt.

(46) Es bleibt somit die Frage, ob die angewendete Zwangsmaßnahme verhältnismäßig zum vom Bf. geleisteten Widerstand war.

(47) Diesbezüglich hebt der GH hervor, dass die einzige Zwangsmaßnahme, auf welche die Polizisten zurückgriffen, der gegenüber dem Bf. eingesetzte Armhebel war. Tatsächlich bringt der Bf. nicht vor, dass die Polizisten andere Zwangsmaßnahmen angewendet oder ihm irgendwelche Schläge versetzt hätten, und zwar weder bei der vorläufigen Festnahme noch während seiner Verbringung zum Polizeiposten oder seiner Unterbringung in der Ausnüchterungszelle. Insbesondere behauptet er nicht, dass die Polizisten Gebrauch von Schlagstöcken oder anderen nicht lebensbedrohenden Waffen machten, die von der Polizei allgemein verwendet werden, um widerspenstige Personen ruhig zu stellen. Der GH befindet nun aber wie die Regierung, dass ein Armhebel, der eingesetzt wird, um Handschellen anzulegen, in einem Kontext dieser Art als ein relativ gebräuchlicher Handgriff gesehen werden kann, der für sich nicht ein Verhalten begründet, das Art. 3 EMRK zuwiderläuft.

Gewiss überschreitet der massive Bruch der Rotationsmanschette der rechten Schulter, den der Bf. erlitten hat und der eine Arbeitsunfähigkeit von 15 Tagen nach sich zog, ohne jeden Zweifel die Schwelle an Schwere, die erforderlich ist, damit die ihm durch die Polizisten zuteil gewordene Behandlung unter Art. 3 EMRK fällt. Doch selbst unter der Annahme, dass die Kausalität zwischen dieser Verletzung und dem Armhebel wissenschaftlich erwiesen worden wäre, steht fest, dass in Anbetracht der medizinischen Vorgeschichte des Bf. eine nur geringe Gewalteinwirkung für ihre Entstehung ausreichen hätte können.

Diese Elemente bringen den GH zum Schluss, dass die Art des Einschreitens der beiden Polizisten insgesamt gesehen keine unverhältnismäßige Gewaltanwendung begründet.

(48) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass es zu keiner Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem materiellrechtlichen Aspekt gekommen ist (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK wegen der Haftbedingungen

(49) Die Regierung [...] betont, dass die Anklagekammer in ihrer Begründung des Beschlusses vom 9.6.2010 die Entscheidung zur Einstellung durch die Staatsanwaltschaft für alle Rügen des Bf. bestätigt hat, außer für jene betreffend die unverhältnismäßige Gewaltanwendung [...]. Nach Ansicht der Regierung hätte der Bf., wenn er diese Einschränkung des Streitgegenstands bekämpfen hätte wollen, dies durch Beschwerde gegen den teilweisen Einstellungsbeschluss machen müssen, der direkt vor dem Bundesgericht angefochten hätte werden können. Mangels dessen sei diese Rüge vor dem Bundesgericht anlässlich der Untersuchung der Beschwerde des Bf. gegen den zweiten Beschluss der – nunmehrigen – Beschwerdekammer vom 16.4.2012 nicht mehr strittig. Die Regierung regt daher beim GH an, diese Rüge wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zurückzuweisen.

(54) Im vorliegenden Fall geht aus der Akte nicht hervor, dass der Bf. die Einschränkung des Streitgegenstandes durch die Anklagekammer direkt vor dem Bundesgericht anfechten wollte, wozu ihn Art. 91 Bundesgerichtsgesetz berechtigt hätte.

(55) Daraus folgt, dass der Bf. die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft hat und dieser Teil der Beschwerde somit als unzulässig zurückzuweisen ist (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt

(58) Dieser Teil der Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(65) Der GH hält zunächst fest, dass der Vorfall, welcher der Beschwerde zugrunde liegt, sofort Gegenstand einer Untersuchung von Seiten der Staatsanwaltschaft war. Die Untersuchung wurde zum ersten Mal am 17.12.2009 eingestellt und nach dem Beschluss der Anklagekammer vom 9.6.2010 wieder eröffnet. Die Staatsanwaltschaft ersuchte dann zwei Ärzte um ein Gutachten und vernahm den Bf. ebenso wie die beiden Polizisten [...] erneut. Der Bf. und die Polizisten erhielten im Wesentlichen dieselben Versionen aufrecht, die sie schon während der vorangegangenen Untersuchung vertreten hatten. Die medizinischen Experten wurden ebenfalls angehört. Die Staatsanwaltschaft erachtete es nicht für nötig, den Freund des Bf. und die beiden anderen Polizisten erneut zu vernehmen, deren Aussagen in der vorangegangenen Untersuchung aufgenommen worden waren. Das neue Verfahren wurde am 19.1.2012 eingestellt und sowohl die Beschwerdekammer als auch das Bundesgericht untersuchten die Beschwerde des Bf. am 16.4.2012 bzw. am 4.4.2013.

(66) Man kann daher den Behörden nicht vorwerfen, dass sie den Rügen des Bf. wegen der Misshandlung nicht rasch und ernstlich Rechnung getragen hätten.

(67) Die einzige Frage, die sich dem GH stellt, ist jene, ob die Entscheidung des Staatsanwalts im zweiten Verfahren, die Polizisten P. T. und O. G. wie auch den Freund des Bf. nicht erneut zu vernehmen, und die Entscheidung der Beschwerdekammer, den Antrag auf Einvernehmung des Chirurgen [...] für verspätet zu befinden, derart waren, dass sie die Untersuchung insgesamt gesehen ihrer Wirksamkeit berauben konnten.

(68) Diesbezüglich stellt der GH fest, dass die einzige Handlung, die der Bf. gegenüber den Polizisten in Frage stellt, der Armhebel als Ursache seiner Verletzung ist. Es ist keine Rede von anderen Zwangsmaßnahmen oder anderen Gewalttätigkeiten welcher Art auch immer. Der GH erinnert auch daran, dass das Gutachten der Ärzte, die von der Staatsanwaltschaft bestellt worden waren, klar angegeben hat, dass angesichts der medizinischen Vorgeschichte des Bf. ein mit geringer Krafteinwirkung durchgeführter Armhebel »gereicht hätte, die prekäre Balance der Funktion des Gelenks zu stören«. In den Augen des GH war die Staatsanwaltschaft berechtigt, sich auf dieses technische Gutachten zu stützen – dessen Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit im Übrigen vom Bf. nicht bestritten werden –, um zu befinden, dass es keine Umstände gab, die nahe legten, dass der Armhebel (ein in einem Kontext dieser Art relativ gebräuchlicher Handgriff) gegenüber dem Bf. unter exzessiver Gewaltanwendung vorgenommen wurde.

Wie das Bundesgericht sieht der GH nicht, wie eine neue Vernehmung von P. T., O. G. und V. A. es erlaubt hätte, die Schlüsse der medizinischen Experten für ungültig zu erklären. Im Übrigen erklärt der Bf. unabhängig von dem Umstand, dass er es unterlassen hatte, die Vernehmung des Chirurgen [...] innerhalb der von der Staatsanwaltschaft gewährten Frist zu beantragen, nicht, inwieweit dessen Vernehmung es erlaubt hätte, die Untersuchung zu vervollständigen.

(69) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zum Schluss, dass keine Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt erfolgte (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Sajó).

Vom GH zitierte Judikatur:

Milan/F v. 24.1.2008

El-Masri/MK v. 13.12.2012 (GK) = NL 2012, 405

Dembele/CH v. 24.9.2013 = NL 2013, 329

Vuckovic u.a./SRB v. 25.3.2014 (GK) = NL 2014, 155

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.11.2014, Bsw. 66773/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 490) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_6/Perrillat-Bottonet.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.