JudikaturJustizBsw55225/14

Bsw55225/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. Oktober 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Pastörs gg. Deutschland, Urteil vom 3.10.2019, Bsw. 55225/14.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 10 EMRK - Leugnung des Holocaust durch Landtagsabgeordneten der NPD.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Der Bf. ist Mitglied der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und Fraktionsvorsitzender bzw. Abgeordneter der NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern (im Folgenden kurz »Landtag« genannt).

Anlässlich des internationalen Gedenktags für die Opfer des Holocaust vom 27.1.2010 fand im Landtag eine Gedenkveranstaltung ohne Beisein der Abgeordneten der NPD bzw. des Bf. statt. Am nächsten Tag hielt Letzterer eine Rede zum Tagesordnungspunkt »Gedenken an die Opfer des schlimmsten Disasters in der deutschen Schifffahrtsgeschichte – in Würdigung all jener, die auf dem (Militärtransporter) Wilhelm Gustloff starben«, in welcher er folgende Äußerungen tätigte: »[...] Bis auf die von Ihnen gekauften Grüppchen und Gruppierungen nimmt kaum noch jemand wirklich innerlich bewegt Anteil an dem Betroffenheitstheater. Und warum ist das so? Weil die Menschen spüren, dass der sogenannte Holocaust politischen und kommerziellen Zwecken dienbar gemacht wird. [...] Die Deutschen sind seit Ende des Zweiten Weltkrieges einem ununterbrochenen Trommelfeuer von Vorwürfen und Propagandalügen ausgesetzt, deren Bewirtschaftung in verlogener Art und Weise in erster Linie von Vertretern der sogenannten demokratischen Parteien erfolgt. Auch was Sie gestern hier im Schloss wieder veranstaltet haben, war nichts anderes, als dem deutschen Volk ebenso raffiniert wie brutal ihre Auschwitzprojektionen überzustülpen. Sie, meine Damen und Herren, hoffen auf den Sieg der Lüge über die Wahrheit [...].«

Mit Beschluss des Landtags vom 1.2.2012 wurde die Immunität des Bf. von strafrechtlicher Verfolgung aufgehoben. Mit Urteil des Amtsgerichts Schwerin vom 16.8.2012 unter Vorsitz von Richterin Y. wurde dieser wegen Verleumdung gemäß § 187 StGB und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener iSv. § 189 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Ein dagegen erhobenes Rechtsmittel wurde vom Landgericht Schwerin mit der Begründung abgewiesen, der Bf. habe die systematische und rassistisch motivierte Massenauslöschung der Juden in Auschwitz abgestritten (qualifizierte Auschwitzleugnung).

Der Bf. erhob gegen das Urteil des Landgerichts ein Rechtsmittel beim OLG Rostock. Ferner stellte er einen Ablehnungsantrag gegen Richter X. (der als Mitglied des Richtersenats des OLG über sein Rechtsmittel entscheiden sollte), nachdem er erfahren hatte, dass es sich bei diesem um den Gatten von Richterin Y. handeln würde, von der er in erster Instanz verurteilt worden war.

Mit Beschluss vom 16.8.2013 erklärte das OLG in Anwesenheit von X. die Befangenheitsrüge des Bf. gemäß § 26a StPO für unzulässig. Gleichzeitig wies es das Rechtsmittel des Bf. als unbegründet ab.

Der Bf. stellte daraufhin erfolglos einen Antrag auf Einräumung rechtlichen Gehörs hinsichtlich bestimmter mit dem Beschluss vom 16.8.2013 aufgeworfener Fragen, ferner erhob er eine Befangenheitsrüge gegen die an dieser Entscheidung mitwirkenden Richter. Mit Beschluss vom 11.11.2013 wies ein Senat, bestehend aus drei Richtern, welche nicht an der Entscheidung vom 16.8.2013 teilgenommen hatten, die Befangenheitsrüge ab. Dem Bf. sei es nicht gelungen, spezielle Gründe aufzuzeigen, die für eine Voreingenommenheit seitens X. oder der anderen beteiligten Richter sprechen würden. Das von ihm angerufene BVerfG lehnte eine Behandlung seiner Beschwerde ohne Angabe von Gründen ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte Verletzungen von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) und von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren vor einem unparteiischen Gericht).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(33) Der Bf. beklagte sich darüber, dass seine strafrechtliche Verurteilung wegen Verleumdung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener gegen sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit verstoßen habe.

(36) Die ehemalige EKMR und der GH hatten sich bereits mit einer Reihe von Fällen unter Art. 10 und/oder Art. 17 EMRK [Verbot des Missbrauchs von Konventionsrechten] betreffend die Leugnung des Holocaust [...] auseinanderzusetzen [...]. (Anm: Siehe EGMR 15.10.2015, 27.510/08 (Perinçek gg. die Schweiz [GK]) Rn. 209-212 = NLMR 2015, 435; 17.4.2018, 24.683/14 (Roj TV A/S gg. Dänemark [ZE]) Rn. 26-38; 8.1.2019, 64.496/17 (Williamson gg. Deutschland [ZE]).)

(37) Der GH erinnert daran, dass Art. 17 EMRK nur auf außergewöhnlicher Basis und in extremen Fällen anwendbar ist und auf diese Konventionsbestimmung in Fällen mit Bezug zu Art. 10 EMRK nur dann zurückgegriffen werden sollte, wenn sofort ersichtlich wird, dass die umstrittenen Äußerungen das Ziel verfolgten, den letztgenannten Artikel – im Wege der Verwendung der Meinungsäußerungsfreiheit für klar erkennbare konventionswidrige Ziele – seines wahren Zwecks zu entkleiden. [...] Sollte ein Fall die Leugnung des Holocaust zum Gegenstand haben, wird der GH seine Entscheidung, mag er nun Art. 17 EMRK direkt anwenden und die diesbezügliche Beschwerde für mit der Konvention unvereinbar ratione materiae erklären, oder stattdessen Art. 10 EMRK für anwendbar erachten und sich auf Art. 17 EMRK in einem späteren Stadium im Zuge der Prüfung der Notwendigkeit des gerügten Eingriffs berufen, stets anhand des jeweiligen Einzelfalls – abhängig von allen Umständen jedes individuellen Falles – treffen.

(38) In seiner Rechtsprechung hat der GH beständig die besondere Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für Parlamentsabgeordnete herausgestrichen, handelt es sich dabei doch um politische Rede par excellence. Der Staat muss daher bei der Regulierung des Inhalts parlamentarischer Äußerungen besondere Zurückhaltung üben. [...] Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit von Mitgliedern einer Oppositionspartei sind daher seitens des GH einer strengen Prüfung zu unterziehen.

(39) Im vorliegenden Fall erwägt der GH auf der einen Seite, dass die Äußerungen des Bf. seine Geringschätzung gegenüber den Opfern des Holocaust zeigten, was für eine Unzulässigkeit seiner Beschwerde als mit der Konvention unvereinbar ratione materiae sprechen würde. Auf der anderen Seite muss er die Tatsache in Betracht ziehen, dass die strittigen Äußerungen von einem Parlamentsmitglied im Zuge einer Landtagssitzung getätigt wurden, welche als solche einen erhöhten Schutz erforderten, sodass jeder darauf abzielende Eingriff eine möglichst genaue Prüfung seitens des GH nach sich ziehen müsste. Angesichts der Rolle der parlamentarischen Immunität, was den erhöhten Schutz der Rede in Abgeordnetenhäusern angeht, ist für ihn von besonderer Relevanz, dass der Landtag die Immunität des Bf. von strafrechtlicher Verfolgung aufhob.

(40) Zu dem Ausmaß, zu dem sich der Bf. auf Art. 10 EMRK berufen kann, findet der GH, dass seine strafrechtliche Verurteilung aufgrund der strittigen Äußerungen einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung darstellte. [...]

(41) [...] Im vorliegenden Fall beruhte der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage (nämlich den §§ 187 und 189 StGB) und verfolgte ein legitimes Ziel zum Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer.

(42) Der GH muss nun darüber entscheiden, ob besagter Eingriff in das Recht des Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. [...]

(43) Er hat sich daher zu überzeugen, ob die nationalen Behörden ihre Entscheidungen auf eine nachvollziehbare Bewertung der relevanten Fakten stützten. Das Landgericht Schwerin zitierte die Rede des Bf. in ihrer vollen Länge und kam zu dem Schluss, dass große Teile davon keine strafrechtlich relevanten Fragen aufwerfen würden, welche allerdings die vom Bf. in einem kleinen Teil seiner Rede getätigte qualifizierte Holocaustleugnung keineswegs abmildern, verdecken oder schönreden könnten. [...] Der Bf. stellte das wahre Ausmaß [der Geschehnisse] in Auschwitz in Frage und »verkaufte« dies dem Landtag auf eine Art und Weise, dass er keine parlamentarischen Sanktionen befürchten musste. Das Landgericht war überzeugt davon, dass er seine Botschaft in genau der Weise vermitteln wollte, wie sie [im Landtag] aufgefasst wurde. Es unterzog die Äußerungen des Bf. einer sprachlichen Bewertung und stellte sie in den Zusammenhang. Das Landgericht kam schließlich zu dem Schluss, dass diese objektiv gesehen als nichts anderes als die Leugnung der systematischen und rassistisch motivierten Massenauslöschung der Juden verstanden werden konnten, die Historikerberichten zufolge in Auschwitz während des Dritten Reiches [...] erfolgte. Beweggrund des Bf. sei gewesen, die [von ihm behauptete] Unterdrückung und Ausbeutung Deutschlands zum Vorteil der Juden aufzuzeigen.

(44) Diese Schlussfolgerungen [...] beruhten auf einer Bewertung der Fakten, der sich auch der GH anzuschließen vermag. Insbesondere kann er das Vorbringen des Bf. nicht akzeptieren, wonach die innerstaatlichen Gerichte fälschlicherweise einen kleinen – isolierten – Teil seiner Rede ausgewählt bzw. beurteilt und darauf seine strafrechtliche Verurteilung aufgebaut hätten. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Der Landgericht zitierte und prüfte die ganze Rede des Bf. [...] Der GH möchte dazu festhalten, dass die Anmerkungen des Bf. zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus mit einer Debatte im Landtag verbunden waren, was in Bezug auf seine Äußerungen, die eine qualifizierte Holocaustleugnung beinhalteten und zu seiner strafrechtlichen Verurteilung führten, nicht der Fall war. Letzterer Aspekt stellt einen bedeutenden Unterschied zum Fall Kurlowicz/PL dar, bei dem die umstrittenen offensiven Äußerungen einen integralen Teil der politischen Debatte ausmachten.

(45) Das Landgericht war der Ansicht, dass der Bf. das Thema Wilhelm Gustloff [bewusst] als Kontrast zum internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust auswählte, an dem er und seine Parteikollegen nicht teilgenommen hatten. [...]

(46) Der GH misst der Tatsache erhebliche Bedeutung zu, dass der Bf. seine Rede im Vorhinein plante, bewusst auf die Wahl seiner Worte achtete und auf »Vernebelung« Rückgriff nahm, um seine Botschaft zu vermitteln, nämlich eine qualifizierte Holocaustleugnung, welche eine Geringschätzung gegenüber den Opfern des Holocaust zeigte und etablierten historischen Fakten entgegenlief. Ferner behauptete er, dass die Vertreter der »sogenannten« demokratischen Parteien den Holocaust dazu benützen würden, Deutschland zu unterdrücken und auszubeuten. Gerade mit Bezug zu diesem Aspekt des Falls des Bf. kommt die besondere Rolle von Art. 17 EMRK zum Tragen, ungeachtet dessen, dass Art. 10 EMRK zur Anwendung kommen mag. Der GH ist der Ansicht, dass der Bf. versuchte, sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit zwecks Förderung von Ideen zu nutzen, die dem Wortlaut und dem Geist der Konvention zuwiderliefen. Dieser Aspekt wiegt schwer, was die Bewertung der Notwendigkeit des Eingriffs anbelangt.

(47) Während Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung eine genaue Prüfung erfordern, wenn es sich um Äußerungen von gewählten Volksvertretern im Parlament handelt, verdienen in einem derartigen Umfeld getätigte Wortmeldungen wenig – wenn nicht sogar überhaupt keinen – Schutz, sofern ihr Inhalt demokratischen Werten des Konventionssystems entgegenläuft. Die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit bringt selbst im Parlament »Pflichten und Verantwortlichkeiten« mit sich, auf die in Art. 10 Abs. 2 EMRK Bezug genommen wird. Die parlamentarische Immunität bietet in diesem Zusammenhang einen erhöhten – aber nicht grenzenlosen – Schutz der Rede im Parlament.

(48) Im vorliegenden Fall sagte der Bf. absichtlich die Unwahrheit, um Juden zu diffamieren und die Verfolgung in Abrede zu stellen, die sie während des Zweiten Weltkriegs erlitten hatten. Der GH hat sich bei der Prüfung, ob ein dringendes soziales Bedürfnis für einen Eingriff in Konventionsrechte bestand, stets sensibel gegenüber dem historischen Kontext des betroffenen Vertragsstaats gezeigt, wobei er auch ausgesprochen hat, dass Staaten, die den Nazi-Horror miterleben mussten, im Lichte ihrer historischen Rolle und Erfahrung eine spezielle moralische Verantwortung zukommt, sich von den Massenverbrechen der Nazis zu distanzieren. Der GH ist daher der Auffassung, dass die umstrittenen Äußerungen des Bf. die Würde von Juden derart beeinträchtigten, dass sie eine strafrechtliche Antwort verlangten. Mag auch die bedingt nachgesehene achtmonatige Freiheitsstrafe nicht unbedeutend sein, ist der GH doch der Überzeugung, dass die innerstaatlichen Behörden relevante und ausreichende Gründe heranzogen und ihren Ermessensspielraum nicht überschritten. Der Eingriff war somit verhältnismäßig zum gesetzlich verfolgten Ziel und daher »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«.

(49) Unter diesen Umständen vermag der GH keinen Anschein einer Verletzung von Art. 10 EMRK zu erkennen. Dieser Beschwerdepunkt muss daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit [...] [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(50) Der Bf. rügt eine Verletzung seines Rechts auf ein unparteiliches Tribunal [...], da es dem OLG Schwerin wegen der Beteiligung von Richter X. an Unparteilichkeit gefehlt habe.

(52) Dieser Beschwerdepunkt ist [...] für zulässig zu erklären (einstimmig).

(53) Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, da X. Teil des [...] OLG gewesen sei, welcher sein Rechtsmittel ungeachtet seiner gegen X. eingebrachten Anzeige wegen Befangenheit aufgrund von dessen Ehe mit Richterin Y. abgewiesen hätte. [...]

(56) Was »andere Verbindungen« [als hierarchische] zwischen einem Richter und anderen Protagonisten in einem mehrstufigen Verfahren betrifft, hat der GH bereits objektiv gerechtfertigte Zweifel angemeldet, was die Unparteilichkeit einer vorsitzenden Verhandlungsrichterin anging, deren Gatte Leiter des mit dem Fall des Bf. betrauten Untersuchungsteams war (siehe Dorozhko und Pozharskiy/EST).

(58) Der vorliegende unterscheidet sich vom vorgenannten Fall insofern, als die in Frage stehende Ehe nicht zwischen einem Richter und [...] einer Verfahrenspartei, sondern zwischen zwei Richtern bestand, welche mit ein und demselben Fall in unterschiedlichen Instanzen zu tun hatten.

(59) In dieser Hinsicht ist zu vermerken, dass die Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte nahezulegen scheint, dass eine zwischen Richtern bestehende Ehe, von denen beide auf unterschiedlichen, unmittelbar darauffolgenden Verfahrensebenen agieren (mit anderen Worten, wenn ein Gatte als Richter einer höheren Instanz über eine Entscheidung oder ein Urteil des anderen Gatten, der als Richter einer niederen Instanz agiert hatte, zu entscheiden hat), objektiv gerechtfertigte Zweifel hinsichtlich der Unparteilichkeit des entscheidenden Richters aufwerfen können.

(60) Im vorliegenden Fall agierte das OLG Schwerin im Strafverfahren gegen den Bf. jedoch als dritte Instanz, während das Amtsgericht als erste Instanz fungierte. In Einklang mit dem innerstaatlichen Recht führte das Landgericht Schwerin, welches über das Rechtsmittel des Bf. entschied, eine Rechtsmittelhauptverhandlung durch, im Zuge welcher es Beweise aufnahm und umfassend die Fakten des neuen Falles prüfte. Hinsichtlich des Rechtsmittels des Bf. war das OLG jedoch lediglich zur Prüfung des Urteils des Landgerichts aufgerufen.

(61) Richter X. war daher nicht dazu ermächtigt, das in erster Instanz erlassene Urteil zu bewerten, an welchem seine Gattin beteiligt war. Da das Landgericht die Umstände des Falles sowohl rechtlich als auch faktisch neu bewertete, war die Prüfung durch das OLG auf das Urteil des Landgerichts beschränkt, obwohl es im Wesentlichen Stellung zu denselben Fragen wie das Amtsgericht bezog. Der GH sieht keinen Grund, die von X. abgegebene Stellungnahme [zur Befangenheitsanzeige] anzuzweifeln, wonach ihn seine Gattin über das amtsgerichtliche Verfahren informiert habe, dieses gemäß der von ihnen gepflegten Praxis jedoch nicht weiter Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen sei. Nichtsdestoweniger dürfte der Umstand, dass X. und Y. verheiratet waren und mit dem Fall des Bf. auf unterschiedlichen Jurisdiktionsebenen zu tun hatten, Zweifel bezüglich der Unparteilichkeit von X. aufwerfen.

(62) Was das Prozedere zur Gewährleistung der Unparteilichkeit angeht, entschied das OLG mit ein und demselben Beschluss über die Befangenheitsanzeige des Bf. und über das von ihm eingebrachte Rechtsmittel, wobei X. an beiden Entscheidungen mitwirkte. Nach innerstaatlichem Recht wäre es nicht nur möglich gewesen, über die Befangenheitsanzeige gegen X. in dessen Abwesenheit zu entscheiden, sondern hätte dies sogar dem gesetzlich festgelegten Standardansatz (Anm: Vgl. § 27 StPO (Entscheidung über einen zulässigen Ablehnungsantrag), wonach, sofern die Ablehnung nicht als unzulässig verworfen wird, über das Ablehnungsgesuch das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung entscheidet.) entsprochen. Das Ziel der Ausnahmeregel des § 26a StPO besteht in der Vermeidung der Unterbrechung oder sogar Aussetzung des Verfahrens im Fall von missbräuchlichen oder unbeachtlichen Befangenheitsanträgen, was im Interesse einer ordentlichen Justizverwaltung legitim ist [...].

(63) Während die Auslegung innerstaatlichen Rechts nicht zu den Aufgaben des GH gehört, fällt es ihm dennoch schwer zu verstehen, warum die Befangenheitsanzeige des Bf. gegen X. [vom OLG Schwerin] als völlig ungeeignet beurteilt werden konnte. Wie oben ausgeführt, hatte ihn seine Gattin immerhin über den Stand des Verfahrens vor dem Amtsgericht informiert. Der GH ist der Meinung, dass die Befangenheitsanzeige des Bf. gegen X. nicht als missbräuchlich oder unerheblich eingestuft werden durfte, schien bei diesem doch ein Anschein von fehlender Unvoreingenommenheit zu bestehen. X.s Teilnahme an der Entscheidung vom 16.8.2013 über die gegen ihn erhobene Befangenheitsanzeige half nicht dabei, allfällige, in dieser Hinsicht gegen ihn gehegte Zweifel zu zerstreuen.

(64) Allerdings trat das OLG Schwerin nachfolgend in einem Senat bestehend aus drei Richtern zusammen – von denen niemand an der Entscheidung vom 16.8.2013 oder irgendeiner anderen Entscheidung in diesem Fall beteiligt gewesen war – und wies eine Befangenheitsanzeige des Bf. gegen X. und zwei weitere involvierte Richter ab. Besagte Anzeige war wiederum auf denselben Grund gestützt, nämlich der zwischen X. und Y. bestehenden ehelichen Verbindung, obwohl sie dieses Mal nicht nur gegen X., sondern auch gegen die übrigen zwei Richter wegen ihrer Beteiligung an der Zurückweisung der ersten Befangenheitsanzeige gerichtet war. Diese zweite Enscheidung wurde nach einer Prüfung des Befangenheitsantrags des Bf. in der Sache getroffen.

(65) Der GH hat bereits betont, dass eine fehlende Unparteilichkeit im Strafverfahren in Fällen nicht geheilt werden kann, in denen ein höheres Gericht die Entscheidung eines unterinstanzlichen Richters oder Tribunals, dem es an Unparteilichkeit fehlte, nicht aufgehoben hat. Im Gegensatz zum vorliegenden Fall, bei dem die objektive Rechtfertigung der Zweifel des Bf. hinsichtlich der mit seinem Rechtsmittel befassten Richter in erster Linie daraus resultierte, welche Verfahrensweise sie wählten, um die gegen sie gerichtete Befangenheitsanzeige abzuweisen, waren [vom GH zu prüfende] Unabhängigkeitsdefizite in früheren Fällen entweder schwerwiegender (vgl. [...] Kyprianou/CY, Rn. 128 und 133 sowie [...] Findlay/GB, Rn. 78-79, [...] De Cubber/B, Rn. 33) oder wiesen die nachfolgenden [gerichtlichen] Entscheidungen keine stichhaltigen Argumente in Erwiderung auf die Befangenheitsanzeige des jeweiligen Bf. auf, wodurch dieser Verfahrensmangel nicht geheilt wurde (vgl. Boyan Gospodinov/BG, Rn. 58-59).

(66) Der GH nimmt auch Bezug zu seinem Urteil im Fall Vera Fernández Huidobro/E, in dem er befand, dass die Mängel der anfänglichen Voruntersuchung gegen den Bf. aufgrund fehlender Unparteilichkeit des ersten Untersuchungsrichters geheilt worden waren, nachdem eine neue Untersuchung von einem Untersuchungsrichter eines höheren Gerichts (des Obersten Gerichtshofes) durchgeführt worden war – und zwar unbeschadet der Verurteilung des Bf. durch den Obersten Gerichtshof, der die einzige Instanz auf Gerichtsebene darstellte. [...]

(67) Im vorliegenden Fall wurde die nachfolgende Überprüfungsentscheidung vom 11.11.2013 nicht von einem höheren Gericht, sondern vielmehr von einem aus drei Richtern desselben Gerichts bestehenden Richtersenat gefällt, der an keinen wie auch immer gearteten früheren Entscheidungen im Fall des Bf. beteiligt gewesen war. Besagte Entscheidung umfasste weder eine volle Bewertung des Rechtsmittels des Bf. noch eine solche der dieses als unbegründet abweisenden Entscheidung vom 16.8.2013, sondern war auf die Frage beschränkt, ob die an der Entscheidung vom 16.8.2013 beteiligten Richter befangen gewesen waren. Wäre allerdings die Überprüfungsentscheidung zugunsten des Bf. ausgefallen, hätte in der Folge über seine Anhörungsrüge von anderen Richtern abgesprochen werden müssen. Die strittige Entscheidung wurde somit der nachfolgenden Kontrolle durch ein gerichtliches Organ mit ausreichender Entscheidungskompetenz in Gewährleistung der Garantien von Art. 6 EMRK unterzogen. Der vorliegende Fall unterscheidet sich daher vom Fall A. K./FL, in dem der strittige Mangel in ähnlicher Weise die Wahl des Verfahrens zwecks Absprache über die Befangenheitsanzeige betraf, da es in diesem Fall zu keiner späteren Prüfung der Befangenheitsanzeige gekommen war und die Richter über Befangenheitsanzeigen entscheiden mussten, welche gegen sie unter Berufung auf identische Gründe eingebracht worden waren.

(68) Zu guter Letzt hat der Bf. keine konkreten Argumente vorgebracht, aus welchen Gründen ein mit einer Berufsrichterin verheirateter Berufsrichter befangen sein sollte, wenn er über ein und denselben Fall auf einer anderen Gerichtsebene entscheidet und davon eine Überprüfung der Entscheidung seiner Gattin nicht umfasst ist. Zudem gab das OLG Schwerin in seiner Entscheidung vom 11.11.2013 [...] ausreichende Gründe an.

(69) Unter diesen Umständen findet der GH, dass die Teilnahme von X. an der gegen ihn eingebrachten Befangenheitsanzeige durch die nachfolgende, am 11.11.2013 von einem separaten Richtersenat desselben Gerichts durchgeführte meritorische Prüfung der neuerlichen Befangenheitsanzeige (in welcher sich der Bf. auf dieselben Gründe wie zuvor gestützt hatte) geheilt wurde.

(70) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der Unparteilichkeit des OLG keine objektiv gerechtfertigten Zweifel bestanden. Somit hat keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (4:3 Stimmen; teilweise abweichendes gemeinsames Sondervotum der Richter Grozev und Mits).

Vom GH zitierte Judikatur:

De Cubber/B v. 26.10.1984 = EuGRZ 1985, 407

Findlay/GB v. 25.2.1997

Kyprianou/CY v. 15.12.2005 (GK)

Dorozhko und Pozharskiy/EST v. 24.4.2008

Vera Fernández Huidobro/E v. 6.1.2010

Kurlowicz/PL v. 22.6.2010

A. K./FL v. 9.7.2015 = NLMR 2015, 324

Karácsony u.a./H v. 17.5.2016 (GK) = NLMR 2016, 259

Boyan Gospodinov/BG v. 5.4.2018

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.10.2019, Bsw. 55225/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 418) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
6