JudikaturJustizBsw44898/10

Bsw44898/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
05. Juli 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Jeronovics gg. Lettland, Urteil vom 5.7.2016, Bsw. 44898/10.

Spruch

Art. 3 EMRK - Kein Erlöschen der Ermittlungspflicht hinsichtlich Misshandlung nach Anerkennung von EMRK-Verletzung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 3 EMRK (10:7 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden (9:8 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde am 25.4.1998 von der Polizei wegen des Verdachts, eine schwere Körperverletzung begangen zu haben, festgenommen und am 27.9.2000 zu neun Jahren Haft verurteilt. Nach seiner polizeilichen Befragung hatte er beim Staatsanwalt mit der Behauptung Beschwerde erhoben, von den Polizisten zur Erzwingung eines Geständnisses misshandelt worden zu sein. Daraufhin wurden gegen die Polizisten Verfahren wegen Missbrauchs der Staatsgewalt eingeleitet, die allerdings am 19.3.2001 eingestellt wurden, da die Behauptungen des Bf. als nicht schlüssig angesehen wurden.

Am 8.10.2001 erhob der Bf. eine Beschwerde an den GH (Nr. 547/02), mit der er unter anderem eine Verletzung von Art. 3 EMRK wegen seiner Misshandlung und einer fehlenden diesbezüglichen wirksamen Untersuchung geltend machte. Die Regierung gab dazu am 30.4.2008 eine einseitige Erklärung ab, in der sie die Konventionsverletzungen zum größten Teil anerkannte und zusagte, »alle notwendigen Maßnahmen zu setzen, um in Zukunft ähnliche Verletzungen zu vermeiden, und einen wirksamen Rechtsbehelf vorzusehen«. Unter Verweis darauf, dass die Parteien keine gütliche Einigung erreichen hätten können, erklärte sich die Regierung ex gratia zur Zahlung von € 4.500,– an Pauschalentschädigung bereit, um das Verfahren vor dem GH zu beenden. Sie hielt fest, dass »diese Zahlung die endgültige Lösung des Falles darstellt«. Der GH nahm die Erklärung der Regierung zur Kenntnis und strich die betreffenden Teile der Beschwerde mit Entscheidung vom 10.2.2009 gemäß Art. 37 Abs. 1 EMRK im Register. Er hielt fest, dass es angesichts der Natur der von der Regierung gemachten Zusagen nicht länger gerechtfertigt wäre, die fraglichen Rügen weiter zu untersuchen.

Am 11.10.2010 beantragte der Bf. im Anschluss an das EGMR-Verfahren beim Staatsanwalt die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, in dem er verurteilt worden war, sowie der Verfahren gegen die Polizisten. Er stützte sich dabei auf die einseitige Erklärung der Regierung vom 30.4.2008 und die §§ 655 ff. StPO, welche die neuerliche Überprüfung rechtskräftiger Urteile und Entscheidungen regelten. Der Staatsanwalt am LG Riga wies den Antrag des Bf. am 17.11.2010 ab. Diese Entscheidung wurde am 20.12.2010 von einem übergeordneten Staatsanwalt bestätigt, der insbesondere festhielt, dass keiner der in § 655 Abs. 2 StPO aufgezählten »neuen Umstände«, wegen denen eine Wiederaufnahme vorgesehen war, vorlag.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte, dass der Staatsanwalt sich trotz des Umstands, dass der GH in seiner Entscheidung vom 10.2.2009 die einseitige Erklärung der Regierung akzeptiert hatte, mit der diese verschiedene Verletzungen seiner unter der Konvention geschützten Rechte, einschließlich seiner Misshandlung durch Polizisten, eingestanden hatte, geweigert hatte, die zwei Strafverfahren in diesem Zusammenhang wiederaufzunehmen. Dies hätte ihn jedes Rechtsbehelfs im Hinblick auf Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) beraubt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 und

Art. 13 EMRK

Zulässigkeit

(39) Die Regierung erhob einige Einreden bezüglich der Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde. Sie behauptete, dass die Rügen der Bf. ratione materiae mit der Konvention unvereinbar wären, der Bf. die ihm zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft, seine Beschwerde nicht innerhalb der sechsmonatigen Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK erhoben und er auch keinen Opferstatus hätte.

Einleitende Bemerkungen zur Rechtsprechung und Praxis zu einseitigen Erklärungen

(64) Der GH wiederholt die Erwägungen, die bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind, ob ein Fall gemäß Art. 37 Abs.  lit. c EMRK auf Basis einer einseitigen Erklärung ganz oder teilweise im Register gestrichen wird: die Natur der gemachten Rügen; die Natur und der Umfang von durch die belangte Regierung im Zusammenhang mit der Vollstreckung von Urteilen des GH früher in derartigen Fällen gesetzten Maßnahmen und die Wirkungen dieser Maßnahmen auf den gegenständlichen Fall; die Natur der in der einseitigen Erklärung enthaltenen Zugeständnisse, insbesondere die Anerkennung einer Verletzung der Konvention und die Zahlung angemessener Entschädigung für eine solche Verletzung; das Vorliegen diesbezüglicher einschlägiger oder »eindeutiger und umfassender« Rechtsprechung – mit anderen Worten, ob die aufgeworfenen Fragen mit Fragen vergleichbar sind, die vom GH bereits in früheren Fällen entschieden wurden; und die Art und Weise, auf die die Regierung beabsichtigt, dem Bf. Wiedergutmachung zu leisten und ob es dies möglich macht, die Auswirkungen einer behaupteten Verletzung zu eliminieren.

Wenn der GH mit den Antworten auf die obigen Fragen zufrieden ist, prüft er sodann, ob die in Art. 37 Abs. 1 lit. c und Abs. 1 in fine dargelegten Voraussetzungen erfüllt sind (also dass es nicht länger gerechtfertigt ist, mit der Prüfung der Beschwerde oder des fraglichen Teils fortzufahren, und die Achtung der Menschenrechte eine weitere Prüfung nicht erfordert). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, entscheidet er sodann, den Fall oder den betreffenden Teil im Register zu streichen.

Zu diesem Zweck überprüft der GH genau die Zusagen der Regierung in ihrer einseitigen Erklärung und legt das Ausmaß dieser Zusagen gegebenenfalls im Lichte seiner Rechtsprechung aus [...].

(66) Im kürzlich entschiedenen Fall Žarkovic u.a./HR hielt der GH fest, dass seine Entscheidung, die Rügen unter Art. 2 und Art. 14 EMRK (betreffend das Fehlen einer wirksamen Untersuchung einer Tötung) nach einer einseitigen Erklärung zu streichen, unbeschadet der »anhaltenden Verpflichtung der Regierung, eine Untersuchung im Einklang mit den Anforderungen der Konvention durchzuführen« erfolgte.

(67) Auch nachdem er eine einseitige Erklärung akzeptiert und entschieden hat, eine Beschwerde (teilweise) im Register zu streichen, hat der GH sich das Recht vorbehalten, diese Beschwerde (teilweise) wieder in sein Register einzutragen, so wie es in Art. 37 Abs. 2 EMRK und Art. 43 Abs. 5 VerfO [...] vorgesehen ist. Es stellt daher für den GH keine ungewöhnliche Praxis dar, wenn er am Ende seiner Entscheidung zur Streichung darauf hinweist, dass er beschließen kann, die Beschwerde (teilweise) wieder in das Register einzutragen, sollte die Regierung es verabsäumen, die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung – so wie sie vom GH akzeptiert wurden – zu erfüllen.

(68) Bei der Ausübung einer solchen Befugnis führt der GH nicht nur eine gründliche Prüfung des Umfangs der verschiedenen Zusagen in der Erklärung der Regierung [...] durch, sondern zieht auch die Möglichkeit der Prüfung der Einhaltung der Zusagen durch die Regierung in Erwägung.

Bislang hat der GH einen Fall nach einer Entscheidung zur Streichung in Folge einer einseitigen Erklärung wieder in das Register eingetragen. Im Fall Aleksentseva u.a./RUS entschied der GH, den Fall der Bf. wieder in das Register einzutragen, weil die einseitige Erklärung der Regierung, die vom GH in seiner Entscheidung zur Streichung vom 4.9.2003 akzeptiert worden war, insofern bedingt war, als ihre Umsetzung (durch die Zahlung von Entschädigung) die Zurückziehung der Beschwerde voraussetzte. Da die Bf. ihre Beschwerden nicht zurückgezogen hatten, weigerte sich die Regierung, die Entschädigung zu bezahlen, auf die sie sich in ihrer Erklärung bezogen hatte. Am 23.3.2006 stellte der GH fest, dass das Versäumnis der Regierung, die Entschädigung zu zahlen, einen außergewöhnlichen Umstand darstellte, der die Wiedereintragung der Beschwerden ins Register rechtfertigte.

(69) Es scheint daher, dass die einseitige Erklärung einer Regierung zweimal der Prüfung durch den GH unterworfen werden kann. Zuerst – bevor die Entscheidung getroffen wird, einen Fall im Register zu streichen – untersucht der GH die Natur der in der einseitigen Erklärung enthaltenen Zusagen, die Angemessenheit der Entschädigung und ob die Achtung der Menschenrechte die weitere Prüfung des Falles [...] erfordert. Zum Zweiten kann der GH nach der Entscheidung zur Streichung aufgerufen sein, die Umsetzung der Zusagen der Regierung zu kontrollieren und zu prüfen, ob es »außergewöhnliche Umstände« (Art. 43 Abs. 5 VerfO) gibt, die die (teilweise) Wiedereintragung der Beschwerde in das Register rechtfertigen.

(70) Bei der Kontrolle der Umsetzung der Zusagen der Regierung hat der GH die Befugnis, sowohl die Bestimmungen der einseitigen Erklärung als auch seiner eigenen Entscheidung zur Streichung auszulegen.

(71) Im vorliegenden Fall muss der GH jedoch zunächst die Einreden der Regierung berücksichtigen.

Zu den Einreden

Opfereigenschaft

(49) Die Regierung brachte vor, dass der Bf. nicht länger als Opfer einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 und Art. 13 EMRK angesehen werden könne. Sie hätte die Verletzung der genannten Artikel in der mit Entscheidung des GH vom 10.2.2009 akzeptierten einseitigen Erklärung anerkannt und eine Entschädigung von € 4.500,– gezahlt und somit eine angemessene Wiedergutmachung für die in ihrer einseitigen Erklärung anerkannten Verletzungen geleistet.

(72) Der GH bemerkt zunächst, dass der Bf. im vorliegenden Fall Rügen unter Art. 3 und Art. 13 EMRK vorgebracht hat, die sich von jenen unterschieden, die er in der Beschwerde Nr. 547/02 erhoben hatte und die von der einseitigen Erklärung der Regierung umfasst waren. Er rügte, dass sein Recht auf eine wirksame Untersuchung seiner Misshandlung durch die Regierung trotz der Zahlung des in der einseitigen Erklärung genannten Betrags verletzt worden sei, weil sie sich nach der Entscheidung des GH zur Streichung geweigert hätte, die eingestellten Verfahren wiederaufzunehmen.

Daher stellt sich die Frage, ob sich diese Rügen – obwohl sie mit der faktischen Situation in Verbindung stehen, die in der Entscheidung des GH [...] vom 10.2.2009 geprüft wurde – von dieser Situation unterschieden und nicht ihren Ursprung darin hatten.

(73) In diesem Zusammenhang beobachtet der GH, dass es im vorliegenden Fall unbestritten ist, dass nach der Entscheidung des GH vom 10.2.2009 keine Untersuchung betreffend die Misshandlung des Bf. durchgeführt wurde. Die Frage, ob der Bf. wegen der Weigerung der Regierung, die beendeten Verfahren wiederaufzunehmen, tatsächlich Opfer einer Verletzung seiner Rechte nach der Konvention war, schließt es mit ein zu entscheiden, ob ihr aufgrund ihrer einseitigen Erklärung oder der Entscheidung des GH zur Streichung oder aus irgendeinem anderen Grund eine solche Verpflichtung zukam.

Da diese Frage untrennbar mit dem Inhalt der Beschwerde verknüpft scheint, verbindet der GH die Einrede der Regierung betreffend den Opferstatus mit der Entscheidung in der Sache (mehrheitlich).

Nichterschöpfung des Instanzenzugs und Einhaltung der sechsmonatigen Frist

(78) Der Bf. behauptet, dass er angesichts der Anerkennung seiner Misshandlung durch die Regierung nach der Einstellung der innerstaatlichen Verfahren gemäß Art. 3 und Art. 13 EMRK ein Recht auf eine wirksame Untersuchung seiner Misshandlung besitzen würde, und dass das einzige für ihn diesbezüglich verfügbare Rechtsmittel die Wiederaufnahme des eingestellten Verfahrens gemäß den §§ 655 und 657 der lettischen StPO wäre.

(79) Der GH erwägt, dass die Frage, ob der Bf. alle wirksamen Rechtsmittel erschöpfte, indem er die Wiederaufnahme der eingestellten Verfahren auf Basis der vorgenannten innerstaatlichen Bestimmungen beantragte, und die Frage, ob er die sechsmonatige Frist einhielt, eng mit der Wirksamkeit dieses Rechtsmittels und damit mit dem Inhalt seiner Rügen verknüpft sind. Er verbindet diese Einreden daher mit der Entscheidung in der Sache (mehrheitlich).

Vereinbarkeit ratione materiae

(80) Die Fragen, ob der Bf. Opfer [...] war, ob er alle wirksamen Rechtsmittel erschöpfte [...] und ob er die sechsmonatige Frist einhielt, sind eng mit der weiteren Frage verbunden, welche die Regierung in ihrer Einrede ratione materiae erhob, wonach der Bf. unter der Konvention kein Recht auf Wiedereröffnung beendeter Strafverfahren beanspruchen könne. [Auch] diese Frage ist eng mit der Wirksamkeit dieses Rechtsmittels und damit mit dem Inhalt der Beschwerde des Bf. verknüpft. Der GH verbindet diese Einrede deshalb ebenfalls mit der Entscheidung in der Sache (mehrheitlich).

Vorläufige Schlussfolgerung zu den Einreden der Regierung

(81) Aus den oben dargelegten Gründen [... ] können die Rügen nicht für unzulässig erklärt werden.

(82) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich).

In der Sache

(111) Der Bf. behauptete, dass die belangte Regierung aufgrund ihrer Anerkennung einer Verletzung von Art. 3 EMRK iVm. der Zusage in ihrer einseitigen Erklärung, »ein wirksames Rechtsmittel vorzusehen«, eine Verpflichtung traf, seine Misshandlung zu untersuchen.

Die Regierung behauptete hingegen, dass weder die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung noch der Wortlaut der Entscheidung des GH, welche die Erklärung akzeptierte, auf eine Weise ausgelegt werden könnten, dass eine Verpflichtung entstünde, die eingestellten Verfahren betreffend die Misshandlung des Bf. wiederaufzunehmen.

(112) Es ist zunächst Aufgabe des GH zu entscheiden, ob der belangte Staat verpflichtet war, die eingestellten Verfahren wiederaufzunehmen und ob die Weigerung, dies zu tun, eine Frage unter der Konvention aufwarf.

Er beobachtet in diesem Zusammenhang, dass er in seiner Entscheidung zur Streichung vom 10.2.2009 der Regierung nicht ausdrücklich anzeigte, ob ihr eine Verpflichtung zukam, eine wirksame Untersuchung durchzuführen oder ob eine solche Verpflichtung durch die Anerkennung einer Verletzung und die Zahlung einer Entschädigung erloschen war.

Der GH wird daher untersuchen, ob eine solche Verpflichtung aus der Zusage der Regierung in ihrer einseitigen Erklärung und aus der Entscheidung des GH vom 10.2.2009 [...] entstehen konnte, oder ob die fragliche Weigerung ein Versäumnis offenbarte, eine verfahrensrechtliche Verpflichtung zu erfüllen, die nach der Entscheidung zur Streichung weiterhin bestand.

(113) Der GH wiederholt, dass – wie aus der Struktur des Art. 37 EMRK und seiner Rechtsprechung zu einseitigen Erklärungen (siehe Rn. 64 und 69 oben) klar hervorgeht – die Gründe, die einer Entscheidung des GH zugrundeliegen, mit der er eine einseitige Erklärung akzeptiert und eine Beschwerde (teilweise) im Register streicht, eng mit der Natur der Rüge des Bf. und damit mit den Verpflichtungen der belangten Regierung nach der Konvention im Hinblick auf die verletzten Rechte verbunden sind.

(114) Vor dem Hintergrund des Vorgesagten beurteilte der GH in seiner Entscheidung vom 10.2.2009 die Zusagen der lettischen Regierung in ihrer einseitigen Erklärung vom 30.4.2008 [...]. Das Ergebnis der Beurteilung des GH spiegelt sich in den Argumenten und Beobachtungen wider, die zur Begründung der Streichung der betreffenden Rügen unter Art. 3 EMRK [im Register] vorgebracht wurden und die Teil dieser Entscheidung sind.

(115) Zur gegenständlichen Beschwerde behaupteten die Parteien nicht, dass der GH einen offenkundigen verfahrensrechtlichen oder inhaltlichen Fehler begangen hätte, als er die einseitige Erklärung der Regierung als Grundlage für die Streichung der betreffenden Rügen akzeptierte. Andererseits stimmten sie hinsichtlich der Schlussfolgerungen nicht überein, die aus dem Wortlaut zu ziehen waren:

(a) der Zusage der Regierung, »alle notwendigen Maßnahmen zu setzen, um in Zukunft ähnliche Verletzungen zu vermeiden, sowie einen wirksamen Rechtsbehelf vorzusehen« und

(b) des in Rn. 54 der Entscheidung im Hinblick auf die Möglichkeit, von anderen Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen, enthaltenen Satzes: »Diese Entscheidung berührt nicht die Möglichkeit des Bf., andere verfügbare Rechtsbehelfe zu verwenden, um Wiedergutmachung zu erhalten«.

(116) Der GH sieht im vorliegenden Fall keine außergewöhnlichen Umstände gegeben (siehe Rn. 69 oben), die es rechtfertigen könnten, den Teil der Beschwerde Nr. 547/02 wieder ins Register einzutragen, den er am 10.2.2009 strich.

Die Zusage der Regierung unter lit. a, »ein wirksames Rechtsmittel vorzusehen«, muss als allgemeine Maßnahme interpretiert werden und nicht als spezielle, individuelle Maßnahme, die darauf schließen lässt, dass die Weigerung zur Wiederaufnahme diese Bedingung verletzte.

Dennoch erachtet der GH die Bezugnahme in lit. b auf den Umstand, dass der Bf. die Möglichkeit, »andere verfügbare Rechtsbehelfe zu verwenden, um Wiedergutmachung zu erhalten«, behielt, als Voraussetzung für seine Entscheidung, den betreffenden Teil der Beschwerde aus dem Register zu streichen, für besonders relevant.

Eine solche Möglichkeit muss vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des GH hinsichtlich Misshandlung durch staatliche Beamte gesehen werden. Das Recht des Bf., von bestehenden Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen, um Wiedergutmachung zu erhalten, muss von einer entsprechenden Verpflichtung auf Seiten der belangten Regierung begleitet werden, ihm ein Rechtsmittel in Form eines Verfahrens zur Untersuchung seiner Misshandlung durch staatliche Beamte zur Verfügung zu stellen.

Die Zahlung einer Entschädigung – egal ob in Folge einer einseitigen Erklärung oder nach innerstaatlichen Schadenersatzverfahren – kann angesichts der staatlichen Verpflichtung unter Art. 3 EMRK, in Fällen vorsätzlicher Misshandlung durch staatliche Beamte eine wirksame Untersuchung durchzuführen, nicht ausreichen.

(117) Deshalb kann die Auslegung der Regierung in ihrer einseitigen Erklärung, wonach die Zahlung einer Entschädigung die endgültige Lösung des Falles darstellte, nicht akzeptiert werden. Eine solche Interpretation würde einen wesentlichen Teil des Rechts des Bf. und der staatlichen Verpflichtung unter Art. 3 EMRK auslöschen [...].

Auch wenn es zutrifft, dass seine Entscheidung vom 10.2.2009 für die Zwecke der Konvention eine endgültige Verfügung über die verfahrensrechtliche Rüge des Bf. unter Art. 3 EMRK [...] mit sich brachte, betont der GH diesbezüglich doch, dass das Verfahren einer einseitigen Erklärung ein außergewöhnliches ist. Als solches ist es – wenn es zu Verletzungen der grundlegendsten Rechte der Konvention kommt – nicht dafür bestimmt, den Widerstand des Bf. gegen eine gütliche Einigung zu umgehen oder es der Regierung zu erlauben, ihrer Verantwortung für solche Verletzungen zu entkommen.

(118) Der GH erwägt daher, dass die Entscheidung zur Streichung vom 10.2.2009 ohne wirksame Untersuchung der Misshandlung des Bf. durch Polizisten nicht die anhaltende Verpflichtung der lettischen Regierung auslöschte, eine Untersuchung im Einklang mit den Anforderungen nach der Konvention durchzuführen. Folglich kann nicht behauptet werden, dass sich der belangte Staat durch die Zahlung des in seiner einseitigen Erklärung angeführten Entschädigungsbetrags und durch eine Anerkennung einer Verletzung der verschiedenen Konventionsbestimmungen von der fortdauernden verfahrensrechtlichen Verpflichtung befreite, die ihm gemäß Art. 3 EMRK oblag.

(119) Unter dem einschlägigen lettischen Recht war es für den Bf. möglich, einen Antrag an den Staatsanwalt auf Wiederaufnahme der Untersuchung zu stellen. Er machte von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der Staatsanwalt war unter den Voraussetzungen in den §§ 393 und 655-657 StPO [...] ermächtigt, Verfahren wegen neu hervorgekommener Umstände wiederaufzunehmen. Der GH beobachtet, dass gemäß § 655 Abs. 2 Z. 5 eine Feststellung durch ein internationales Gericht, dass eine Entscheidung Lettlands [...] nicht mit für dieses bindendem internationalem Recht im Einklang steht, als ein neu hervorgekommener Umstand anzusehen ist. Der Antrag des Bf. wurde von den Strafverfolgungsbehörden in zwei Instanzen abgewiesen, weil die einseitige Erklärung der Regierung keinen neu hervorgekommenen Umstand iSd. § 655 Abs. 2 darstellen würde.

(120) Der GH wiederholt auch, dass ein Antrag auf Wiederaufnahme von Verfahren oder die Verwendung von ähnlichen außerordentlichen Rechtsbehelfen gemäß seiner gefestigten Rechtsprechung als allgemeine Regel für die Zwecke des Art. 35 Abs. 1 EMRK nicht berücksichtigt werden kann. Eine solche Herangehensweise würde im vorliegenden Fall die Konsequenz mit sich bringen, dass der GH aus formalen Gründen daran gehindert wäre, den Inhalt der Rüge des Bf. betreffend das Fehlen einer wirksamen Untersuchung zu prüfen.

Unter den besonderen Umständen sieht der GH jedoch angesichts der folgenden Faktoren einen Grund dafür, von dieser Regel abzugehen: der vorbehaltslosen und eindeutigen Anerkennung, dass der Bf. misshandelt wurde und die Untersuchung nicht den Anforderungen an die Wirksamkeit nach Art. 3 EMRK genügte; der eigenen Beurteilung dieser Erklärung durch den GH und [...] seiner Entscheidung, diesen Teil der Beschwerde durch eine rechtskräftige Entscheidung vom 10.2.2009 im Register zu streichen, und somit seiner Prüfung der Sache ein Ende zu setzen [...] – während er festhielt, dass es dem Bf. offenstand, ihm zur Verfügung stehende nationale Rechtsbehelfe zu verfolgen; und des Umstands, dass ohne wirksame Untersuchung die verfahrensrechtliche Verpflichtung des Staates unter Art. 3 EMRK weiter existierte.

(121) Zum Inhalt der besagten Beschwerde beobachtet der GH zunächst, dass er keine Ansicht dazu kundtun wird, ob es gerechtfertigt war, dass die lettischen Staatsanwälte entschieden, den Antrag des Bf. auf Wiederaufnahme der Untersuchung zurückzuweisen. Gemäß lang anhaltender und gefestigter Rechtsprechung garantiert die Konvention grundsätzlich kein Recht, einen abgeschlossenen Fall wiederaufzunehmen. Der GH kann dennoch prüfen, ob die Art und Weise, auf die die lettischen Behörden den Antrag des Bf. behandelten, Auswirkungen hatte, die mit ihrer fortdauernden Verpflichtung unter Art. 3 EMRK unvereinbar waren, eine wirksame Untersuchung durchzuführen.

(122) Jedenfalls erwägt der GH auch unter der Annahme, dass die Ermittlungsbehörden innerhalb des bestehenden nationalen rechtlichen Rahmens nicht in der Lage waren, die am 19.3.2001 eingestellte Untersuchung fortzusetzen, nicht, dass irgendein nationales rechtliches Hindernis von der Art, auf die in der [...] Entscheidung des Staatsanwalts vom 20.12.2010 Bezug genommen wurde, von der fortdauernden Verpflichtung des belangten Staates unter Art. 3 EMRK ablenken konnte, eine wirksame Untersuchung durchzuführen. Wäre es anders, könnten die Behörden ihre Reaktion auf Vorfälle vorsätzlicher Misshandlung durch staatliche Beamte rein auf die Zahlung von Entschädigung beschränken, während sie nichts tun, um die Verantwortlichen zu verfolgen und zu bestrafen, und es in einigen Fällen staatlichen Beamten ermöglichen, die Rechte der unter ihrer Kontrolle Befindlichen de facto straflos zu missbrauchen und das allgemeine rechtliche Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung trotz seiner grundlegenden Bedeutung in der Praxis unwirksam zu machen.

(123) Angesichts der Weigerung der Behörden, die eingestellten Strafverfahren betreffend die Misshandlung des Bf. [...] wiederaufzunehmen, erwägt der GH, dass der Bf. im vorliegenden Fall nicht in den Genuss einer wirksamen Untersuchung iSd. Art. 3 EMRK kam.

(124) Der GH weist daher die Einrede der Regierung zurück, dass die Beschwerde mit der Konvention ratione materiae unvereinbar sei, ebenso ihre Einreden wegen des Verlusts der Opfereigenschaft, der Nichterschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe und der Nichteinhaltung der sechsmonatigen Frist (mehrheitlich). In der Sache stellt er fest, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK unter seinem verfahrensrechtlichen Aspekt erfolgte (10:7 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum des Richters Nicolaou; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek; abweichendes Sondervotum von Richter Silvis, gefolgt von den Richterinnen und Richtern Villiger, Hirvelä, Mahoney, Wojtyczek, Kjølbro und Briede).

(125) Unter Berücksichtigung seiner Feststellungen in den Rz. 119 und 122 und seiner Schlussfolgerung in Rz. 124 erwägt der GH, dass keine gesonderte Frage im Hinblick auf die behauptete Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK auftritt [...] (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 4.000,– für immateriellen Schaden (9:8 Stimmen; abweichendes Sondervotum des Richters Nicolaou; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek; abweichendes Sondervotum von Richter Silvis, gefolgt von den Richterinnen und Richtern Villiger, Hirvelä, Mahoney, Wojtyczek, Kjølbro und Briede).

Vom GH zitierte Judikatur:

Rezgui/F v. 7.11.2000 (ZE)

Tahsin Acar/TR v. 6.5.2003 (GK)

Aleksentseva u.a./RUS v. 4.9.2003 (Streichung)

Aleksentseva u.a./RUS v. 23.3.2006 (ZE)

Josipovic/SRB v. 4.3.2008 (Streichung)

Jeronovics/LV v. 10.2.2009 (ZE)

Gäfgen/D v. 1.6.2010 (GK) = NLMR 2010, 173 = EuGRZ 2010, 417

Bochan/UA (Nr. 2) v. 5.2.2015 (GK) = NLMR 2015, 27

Žarkovic u.a./HR v. 9.6.2015 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.7.2016, Bsw. 44898/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 323) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_4/Jeronovics.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.