JudikaturJustizBsw42931/10

Bsw42931/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Januar 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Camilleri gg. Malta, Urteil vom 22.1.2013, Bsw. 42931/10.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Ermessen des Staatsanwalts bezüglich des verhandelnden Gerichts.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 7 EMRK (6:1 Stimmen).

Keine Notwendigkeit, die Beschwerde auch unter Art. 6 EMRK zu untersuchen (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,- für immateriellen Schaden, € 5.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im Jahre 2003 wurde der Bf. beschuldigt, im Dezember 2001 im Besitz illegaler Drogen (953 Ecstasy-Pillen), die nicht für den Eigengebrauch bestimmt waren, gewesen zu sein. Der Staatsanwalt entschied, den Bf. gemäß Art. 120a Abs. 2 lit. a (i) des Gesetzes über medizinische und verwandte Berufe vor das Strafgericht zu stellen. (Anm: Nach Art. 120a Abs. 2 des Gesetzes über medizinische und verwandte Berufe kann eine Person, der ein Verbrechen nach dieser Vorschrift vorgeworfen wird, gemäß der Entscheidung des Generalstaatsanwalts entweder vor das Strafgericht oder vor den »Court of Magistrates« gestellt werden, wobei je nach Gericht ein unterschiedlicher Strafrahmen besteht.) Mit Urteil vom 16.11.2005 erklärte dieses den Bf. für schuldig und verurteilte ihn zu 15 Jahren Haft und einer Geldstrafe von € 35.000,–. Am 24.4.2008 bestätigte das Berufungsgericht dieses Urteil.

Am 18.2.2009 erhob der Bf. Klage auf Entschädigung mit der Begründung, dass das Ermessen des Staatsanwalts, vor welches Gericht er einen Angeklagten stellt, dem Erfordernis der Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK widerspreche. Diese wurde am 14.7.2009 vom Zivilgericht zurückgewiesen, das sich auf ein früheres Urteil des Verfassungsgerichts berief, wonach ein faires Verfahren iSd. Art. 6 EMRK durch das dem Staatsanwalt eingeräumte Ermessen nicht verhindert werde.

Am 31.7.2009 erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde. Mit Urteil vom 12.2.2010 bestätigte das Verfassungsgericht die Entscheidung des Zivilgerichts. Es stellte fest, dass kein Zweifel daran bestehe, dass der Bf. vor ein unabhängiges, auf einem Gesetz beruhendes Gericht gestellt worden und das Verfahren fair gewesen sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) aufgrund des dem Staatsanwalt eingeräumten Ermessens, vor welches Gericht ein Angeklagter gestellt wird.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK

Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Unter Berücksichtigung der Tatsachen des Falles ist es geboten, die Beschwerde zunächst nach Art. 7 EMRK zu prüfen.

In Frage steht, ob der Grundsatz beachtet wurde, dass nur das Gesetz ein Verbrechen definieren und eine Strafe dafür bestimmen kann. Es muss insbesondere geklärt werden, ob im vorliegenden Fall der Gesetzestext ausreichend verständlich war und ob die Voraussetzungen von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit erfüllt wurden.

Der GH stellt fest, dass die fragliche Norm die entsprechende Straftat darstellt und keinen Anlass zur Annahme von Doppeldeutigkeit oder fehlender Klarheit ihres Inhalts im Hinblick darauf bietet, welche Handlungen strafbar sind. Er nimmt außerdem zur Kenntnis, dass Art. 120a Abs. 2 des Gesetzes über medizinische und verwandte Berufe zweifellos die zu verhängende Strafe für die dem Bf. vorgeworfene Straftat vorsah. Tatsächlich bestanden zwei verschiedene Strafvarianten, nämlich ein Strafrahmen von vier Jahren bis lebenslänglich bei einer Verhandlung vor dem Strafgericht oder von sechs Monaten bis zehn Jahren bei einer Verhandlung vor dem »Court of Magistrates«. Während es eindeutig ist, dass die verhängte Strafe gesetzlich vorgesehen war und den Strafrahmen des oben genannten Gesetzes nicht überschritt, bleibt festzustellen, ob die qualitativen Voraussetzungen des Gesetzes, insbesondere die der Vorhersehbarkeit, im Hinblick auf die Methode der Wahl des verhandelnden Gerichts erfüllt wurden, da sich diese auf die Strafe für das betreffende Verbrechen auswirkte.

Der GH beobachtet, dass das Gesetz es dem Bf. nicht ermöglichte zu erkennen, welche der beiden Strafvarianten auf ihn Anwendung findet. Von der auf ihn angewendeten Strafvariante erfuhr er erst durch die Anklage, folglich nach der Entscheidung des Generalstaatsanwalts, vor welches Gericht er gestellt werde.

Der GH berücksichtigt auch einen ähnlich gelagerten maltesischen Fall, wo einer der beiden Angeklagten vor das Strafgericht gestellt und letztendlich zu neun Jahren Haft verurteilt, der Zweite aber durch den »Court of Magistrates« zu 15 Monaten Haft verurteilt wurde. Dies legt den Schluss nahe, dass die innerstaatliche Rechtsprechung zeitweise unvorhersehbar ist. Daher erscheint es möglich, dass der Bf. auch dann nicht die auf ihn anwendbare Strafvariante hätte erkennen können, wenn er einen Rechtsbeistand hinzugezogen hätte, da die Entscheidung ausschließlich vom Ermessen des Staatsanwalts hinsichtlich des verhandelnden Gerichts abhängig war.

Auch wenn der Generalstaatsanwalt einige Kriterien berücksichtigte, bevor er seine Entscheidung traf, steht fest, dass keines der Kriterien gesetzlich vorgesehen oder über die Jahre Gegenstand einer rechtlichen Überprüfung gewesen war. Das Gesetz bot keinen Anhaltspunkt dafür, welche Kriterien oder Faktoren den Strafrahmen erhöhen oder verringern. Das Verfassungsgericht nahm zur Kenntnis, dass keine Leitlinien bestanden, die den Generalstaatsanwalt bei der Entscheidungsfindung unterstützten. Folglich legte das Gesetz nicht in irgendeiner Weise fest, unter welchen Voraussetzungen die jeweilige Strafvariante zur Anwendung kommt. Die Festsetzung verschiedener Mindeststrafen bildete ein unlösbares Problem. Dem Generalstaatsanwalt stand tatsächlich ein uneingeschränktes Ermessen bei der Entscheidung zu, welche Mindeststrafe für dasselbe Verbrechen zur Anwendung kam. Die Entscheidung war unvermeidlich subjektiv und ließ Raum für Willkür, insbesondere mangels prozessrechtlicher Schutzmechanismen.

Der GH ist von dem Argument der Regierung nicht überzeugt, dass die Mindeststrafe vor dem Strafgericht möglicherweise nicht verhängt würde. Er stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte an die Entscheidung des Generalstaatsanwalts, welches Gericht für die Verhandlung des Angeklagten zuständig sei, gebunden waren. Art. 21 Strafgesetzbuch sieht zwar vor, dass bei Vorliegen von besonderen und außerordentlichen Gründen Strafen verhängt werden können, die das Mindestmaß unterschreiten. Jedoch hält Art. 120a Abs. 7 des Gesetzes über medizinische und verwandte Berufe ausdrücklich fest, dass auf Personen, denen diese Straftat vorgeworfen wird, Art. 21 Strafgesetzbuch nicht anwendbar ist. Bei einer Prüfung dieser Bestimmung kommt der GH zur Erkenntnis, dass eine andere Interpretation des Wortlauts nicht möglich ist. Diese Auslegung ist in der Vergangenheit auch von den innerstaatlichen Gerichten bestätigt worden. Zudem hat die Regierung keine Beispiele dafür vorgebracht, dass ein Gericht ein Urteil mit  Unterschreitung der Mindeststrafe tatsächlich erlassen hätte. Folglich konnte ein geringeres Strafmaß selbst bei Bedenken des Richters hinsichtlich des Ermessens des Staatsanwalts nicht verhängt werden.

Aufgrund der getroffenen Feststellungen ist der GH der Ansicht, dass die betroffene Norm die Erfordernisse der Vorhersehbarkeit und der Bereitstellung effektiver Schutzmechanismen gegen willkürliche Bestrafung gemäß Art. 7 EMRK nicht erfüllt. Daraus folgt, dass eine Verletzung von Art. 7 EMRK vorliegt (6:1 Stimmen; Sondervotum des Richters Quintano).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Der GH sieht es nicht als notwendig an, die Beschwerde gesondert nach Art. 6 EMRK zu prüfen (5:2 Stimmen; Sondervotum des Richters Quintano und der Richterin Kalaydjieva).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 1.000,– für immateriellen Schaden, € 5.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; Sondervotum des Richters Quintano).

Vom GH zitierte Judikatur:

Cantoni/F v. 15.11.1996 (GK) = EuGRZ 1999, 193 = ÖJZ 1997, 579

Achour/F v. 29.3.2006 (GK) = NL 2006, 81

Kafkaris/CY v. 12.2.2008 (GK) = NL 2008, 24

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.1.2013, Bsw. 42931/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 27) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_1/Camilleri.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.