JudikaturJustizBsw4023/04

Bsw4023/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Mai 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Amanalachioai gegen Rumänien, Urteil vom 26.5.2009, Bsw. 4023/04.

Spruch

Art. 8 EMRK - Verweigerung der Rückgabe eines Kindes an den Vater.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 20.000,– für immateriellen Schaden, € 3.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

1994 bekamen der Bf. und seine erste Ehefrau eine Tochter, D. Die Mutter starb 1999 an Leukämie, D. blieb danach bei ihrem Vater.

Am 27.1.2001 erklärte sich der Bf. damit einverstanden, D. die Ferien bei ihren Großeltern mütterlicherseits verbringen zu lassen. Am 4.2. teilten ihm diese mit, das Kind nicht mehr zurückgeben zu wollen, und verweigerten in der Folge dessen Herausgabe.

Im November 2001 heiratete der Bf. B. I., mit der er im Juni 2002 ein Kind bekam.

Am 7.2.2001 strengte der Bf. ein Eilverfahren sowie eine Klage auf Rückgabe von D. an. Im Eilverfahren erwirkte er am 1.3. zwar eine Anordnung der sofortigen Rückgabe seiner Tochter, Versuche, diese vollstrecken zu lassen, blieben jedoch erfolglos. Er erhob deshalb Anzeige gegen die Großeltern, das Verfahren wurde aber eingestellt. Im August 2001 versuchte der Bf. selbst, D. vom Grundstück der Großeltern mitzunehmen. Dabei kam es zu einem Handgemenge, bei dem D. verletzt wurde.

Der Klage des Bf. auf Rückgabe von D. wurde in der ersten Instanz zunächst stattgegeben. Das von den Großeltern angerufene Departementgericht wies sie jedoch am 8.6.2001 ab, da der Bf. D. nicht dieselben materiellen und moralischen Bedingungen bieten könne wie die Großeltern, zu denen D. eine enge Beziehung habe. Am 23.10.2001 bestätigte das Appellationsgericht Cluj diese Ansicht. Für den Moment sei es im Interesse des Kindes, bei den Großeltern zu bleiben, da sich D. mittlerweile bei ihnen eingelebt habe und Gesprächen zufolge auch nicht mehr zum Vater zurück wolle.

Auf Ersuchen des Bf. genehmigte der Generalprokurator einen Nichtigkeitsrekurs gegen das Urteil, der unter anderem auf die elterlichen Rechte des Bf. gestützt wurde. Das Höchstgericht wies den Rekurs jedoch am 20.6.2003 ab. Obwohl sowohl die Großeltern als auch der Bf. ein normales Sozialverhalten hätten und D. ehrliche Zuneigung entgegenbrächten, entschied es, D. für den Moment bei den Großeltern zu lassen, wo sie unter optimalen Bedingungen aufwachse. Der Bf. habe die Großeltern ohne zeitliche Begrenzung gebeten, sich um D. zu kümmern. Beim Versuch, D. zurückzuholen, sei er gewalttätig geworden. In der Familie des Bf. wäre die Erziehung von D. wegen der Berufstätigkeit des Bf. zudem großteils dessen junger Frau überlassen, die selbst ein Kind zu betreuen habe.

Während des Verfahrens wurden mehrere soziale Untersuchungen hinsichtlich der Situation der bei ihren Großeltern lebenden D. durchgeführt. Demnach seien die Großeltern sehr um D. bemüht und könnten ihr ein Leben unter normalen Bedingungen bieten. D. habe eine enge Beziehung zu ihnen. Dem Bf. gegenüber sei D. ablehnend eingestellt. Berichte über den Bf. ergaben hingegen, dass dieser D. ebenfalls betreuen könnte und dies auch im Interesse des Kindes wäre.

Im Jänner 2001 wurde ein Antrag der Großeltern auf Übertragung der Obsorge abgewiesen. Befragungen zufolge habe der Bf. sein Kind sehr gut betreut und lediglich zugestimmt, dieses während der Ferien den Großeltern zu überlassen. Die enge Beziehung zwischen Großeltern und Kind allein könne den Entzug der Elternrechte nicht rechtfertigen.

Im April 2002 erhob der Bf. erneut einen Eilantrag auf Rückgabe von D., der jedoch für unzulässig erklärt wurde. Eine 2004 erhobene Klage der Großeltern auf Verwirkung der elterlichen Rechte des Bf. wurde zurückgewiesen. 2007 wurde der Bf. schließlich zur Zahlung von Unterhaltsleistungen für D. verpflichtet.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren). Da vorliegend in erster Linie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betroffen ist, wird der GH den Fall nur unter Art. 8 EMRK prüfen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Nach Ansicht des Bf. haben die Behörden keine geeigneten Maßnahmen getroffen, um die Einheit der Familie und die Ausübung der Elternrechte durch die sofortige Rückgabe seiner Tochter zu wahren. Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss deshalb für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Das Verhältnis zwischen dem Bf. und D. fällt zweifellos unter den Begriff des Familienlebens nach Art. 8 EMRK. Zu klären ist, ob die vorliegenden Umstände zu einer Verletzung der Rechte des Bf. geführt haben.

1. Zum Vorliegen eines Eingriffs:

Die Gesamtheit der Verfahren und Entscheidungen infolge der Weigerung der Großeltern, D. zurückzugeben, stellt einen Eingriff iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK dar, weil der Bf. dadurch gehindert wurde, seine elterliche Autorität und das Sorgerecht auszuüben.

2. Zur Rechtfertigung des Eingriffs:

a) Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage und eines legitimen Ziels:

Die Entscheidung vom 20.6.2003 war auf Art. 103 Familiengesetz gestützt, wonach ein Gericht die Rückgabe eines Kindes an die aufsichtsberechtigte Person nicht anordnen darf, wenn dies dem übergeordneten Interesse des Kindes widerspricht. Diese Bestimmung räumt den Gerichten ein Ermessen ein, dessen Umfang und Ausübungsweise nicht ausreichend klar und präzise umschrieben werden. Bei den übergeordneten Interessen des Kindes handelt es sich zweifellos um einen komplexen Begriff. Es besteht hier also kein Schutz vor Willkür. Da der GH jedoch mehrmals festgestellt hat, dass es nicht möglich ist, alle erdenklichen Umstände, die sich in Obsorgeangelegenheiten ergeben können, im Gesetz zu berücksichtigen, war der vorliegende Eingriff dennoch gesetzlich vorgesehen.

Weil mit Art. 103 Familiengesetz und den umstrittenen Maßnahmen jedenfalls beabsichtigt wurde, die Interessen von D. zu wahren, wurde damit auch das legitime Ziel verfolgt, die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen.

b) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft:

Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit, ein Kind einer anderen Person als den Eltern anzuvertrauen, erkennt der GH den Behörden einen weiten Beurteilungsspielraum zu, hinsichtlich zusätzlicher Beschränkungen muss er jedoch umso strenger sein. Diese bergen nämlich das Risiko, die familiäre Beziehung zwischen Eltern und Kind zu beschneiden. Sie müssen deshalb auf gewichtigen, soliden im Interesse des Kindes gelegenen Erwägungen beruhen. Vorliegend ist dem Kindeswohl Vorrang vor allen anderen Gesichtspunkten einzuräumen. Dies erfordert einerseits, die Entwicklung des Kindes in einem gesunden Umfeld zu garantieren, andererseits, die Verbindung zur Familie zu wahren, um das Kind nicht seiner Wurzeln zu berauben. Ein Abbruch familiärer Beziehungen kann nur in außergewöhnlichen Fällen gerechtfertigt sein und es sollte alles unternommen werden, um die Bindung zu erhalten oder gegebenenfalls die Familie wiederherzustellen.

Der GH wird zunächst untersuchen, ob die Entscheidung der Gerichte, D. den Großeltern zu überlassen, auf gerechtfertigten Motiven beruhte. Danach wird er prüfen, ob dafür gesorgt wurde, die elterliche Bindung zwischen dem Bf. und D. zu wahren.

• Motive der Gerichte:

Das Verhalten des Bf. – er hatte sofort nach der Weigerung der Großeltern, D. zurückzugeben, Maßnahmen ergriffen – und die Tatsache, dass sich die Großeltern überhaupt zu einer Äußerung veranlasst sahen, lassen vermuten, dass der Bf. lediglich einem Aufenthalt während der Ferien zugestimmt hatte.

Nach einheitlicher Ansicht der Gerichte konnte der Bf. D. ein normales Leben bieten und er brachte ihr aufrichtige Zuneigung entgegen. Seine erzieherischen Fähigkeiten wurden nie bezweifelt. Die Entscheidung der Gerichte, D. trotzdem den Großeltern anzuvertrauen, wurde auf die materiellen Gegebenheiten, das Verhalten des Bf., etwaige Schwierigkeiten für D., sich in der neuen Familie des Bf. zu integrieren, sowie auf die bereits erfolgte Einbindung von D. in das Umfeld der Großeltern gestützt, zu denen diese eine enge Beziehung hat. Die Möglichkeit für ein Kind, unter günstigeren Bedingungen erzogen zu werden, kann für sich allein jedoch keinen ausreichenden Grund darstellen, es der Obsorge der leiblichen Eltern zu entziehen.

Was das angeblich aggressive Verhalten des Bf. betrifft, waren diese Vorwürfe lediglich auf einen einzigen Vorfall im August 2001 gestützt, der jedoch keinen Anlass zu weiteren strafrechtlichen oder psychologischen Untersuchungen gegeben hatte.

Der GH gibt zwar zu, dass die Gerichte den neuen familiären Verhältnissen des Bf. Beachtung schenken mussten. Da Expertenberichten aber zu entnehmen war, dass die Familie des Bf. D. ein Aufwachsen unter normalen Bedingungen bieten könnte, hätte es überzeugenderer Gründe bedurft, um sich über diese Feststellungen hinwegzusetzen.

Das entscheidende Argument der Gerichte war die enge Beziehung zwischen D. und ihren Großeltern. Es schien ihnen im Interesse des Mädchens zu liegen, es in dem Umfeld zu belassen, in das es sich zuletzt integriert hatte. Dieser Gedanke ist gerade in Anbetracht der Anpassungsfähigkeit eines Kindes und dem Alter von D. verständlich, doch ist es Ziel der Konvention, die Rechte konkret und effektiv zu schützen. Um die Achtung des Familienlebens effektiv zu garantieren, müssen die künftigen Beziehungen zwischen Eltern und Kind auf Basis aller relevanten Kriterien geregelt werden, nicht allein durch den Ablauf der Zeit.

Die in den Entscheidungen herangezogenen Motive stellten keine „gänzlich außergewöhnlichen" Umstände dar, die einen Bruch der familiären Bindung rechtfertigen hätten können. Wie jedoch auch die innerstaatlichen Gerichte entschieden, war es möglich, die Rückkehr von D. wegen der bereits verstrichenen Zeit und ihrer Integration bei den Großeltern „für den Moment" zu verweigern. Der GH hat sich aber zu vergewissern, dass diese Änderung der Umstände nicht das Resultat eines Handelns oder Unterlassens der Behörden war und diese alles unternommen haben, um die persönlichen Beziehungen zu erhalten oder die Familie wiederherzustellen.

• Maßnahmen zur Sicherung der familiären Beziehung:

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die elterliche Obsorge dem Bf. obliegt, dieser die elterlichen Rechte jedoch nicht ausüben kann.

In Fällen betreffend die Rückgabe von Kindern hängt die Angemessenheit einer Maßnahme davon ab, wie schnell diese ergriffen wurde. Obwohl der Bf. bereits am 7.2.2001 ein Eilverfahren angestrengt hatte, wurden die Gerichte erst am 1.3. tätig. Der GH ist nicht überzeugt, dass dies der gebotenen Eile entsprach, um mögliche, durch Zeitablauf entstehende Schäden abzuwenden. Eile ist umso mehr geboten, wenn ein Elternteil sein Kind von einer Person zurückfordert, die es ohne Recht und Zustimmung bei sich behält. Entstehen wegen mangelnder Kooperation zwischen den Beteiligten Probleme bei der Vollstreckung von Entscheidungen auf Rückgabe eines Kindes, sind die Behörden gehalten, geeignete Maßnahmen zur Sanktionierung dieses Verhaltens zu setzen. Vorliegend waren die Versuche, die Anordnung zur Herausgabe von D. durchzusetzen, jedoch vergeblich. Auch das diesbezügliche Strafverfahren wurde eingestellt. Die Behörden haben hier nicht mit ausreichender Sorgfalt gehandelt. Sie haben damit die Integration von D. in ihr neues Umfeld begünstigt und entgegen den von Art. 8 EMRK geschützten Rechten des Bf. entscheidend zur Verfestigung der tatsächlichen Situation beigetragen.

Wird die Rückgabe eines Kindes vorübergehend verweigert, muss der Staat wenigstens Maßnahmen treffen, um einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und des Vaters zu erzielen, der seine elterlichen Rechte ausüben muss. So hat er etwa für die Entfaltung einer zwischen diesen bestehenden Beziehung Sorge zu tragen. Dabei sind auch vorbereitende Maßnahmen zu treffen, um dem Kind eine Rückkehr zum Vater zu ermöglichen.

Vorliegend stützten sich die Gerichte auf Art. 103 Familiengesetz, der es erlaubt, ein Kind einer Person anzuvertrauen, der diesbezüglich keine Rechte zukommen. Dies kann zu Situationen wie der vorliegenden führen, die allein durch Zeitablauf die künftige Beziehung zwischen Eltern und Kind gestalten.

Obwohl der Bf. darauf hingewiesen hatte, haben die Gerichte nicht geprüft, ob dem Bf. die Ausübung der elterlichen Rechte überhaupt möglich war. Wie der GH feststellt, haben sich die Behörden in keiner Weise Gedanken über die Schwächung oder sogar den Bruch der Beziehung zwischen D. und dem Bf., vor allem was konkrete Kontakte betrifft, gemacht. Anstatt diesbezügliche Maßnahmen anzuordnen, haben sie es vorgezogen, die Situation sich durch bloßen Zeitablauf regeln zu lassen, was in eine fortschreitende und definitive Entfremdung zwischen den beiden mündete, die keinesfalls als im übergeordneten Interesse des Kindes liegend angesehen werden kann. Damit haben die Gerichte schlicht jene Situation akzeptiert, welche durch die mangelnde Sorgfalt bei der Vollstreckung der im Eilverfahren erwirkten Anordnung geschaffen worden war.

Zu kritisieren ist außerdem, dass D. keine psychologische Betreuung zuteil wurde, um die Beziehung zum Vater zu verbessern und damit eine Rückkehr zu diesem zu ermöglichen.

Wegen all dieser Gründe kommt der GH zur Ansicht, dass die Passivität der Behörden Ursache für den Bruch der Beziehung zwischen D. und ihrem Vater war. Deshalb kann auch nicht angenommen werden, das Recht des Bf. auf Achtung des Familienlebens sei in effektiver Weise geschützt worden. Es liegt somit eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richterin Fura-Sandström).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 20.000,– für immateriellen Schaden, € 3.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richterin Fura-Sandström).

Vom GH zitierte Judikatur:

Keegan/IRL v. 26.5.1994, A/290; NL 1994, 184; EuGRZ 1995, 113; ÖJZ 1995, 70.

Hokkanen/FIN v. 23.9.1994, A/299-A; NL 1994, 333; ÖJZ 1995, 271.

Ignaccolo-Zenide/RO v. 25.1.2000.

Gnahoré/F v. 19.9.2000.

Pini u.a./RO v. 22.6.2004; NL 2004, 140.

Nanning/D v. 12.7.2007; NL 2007, 188.

Maumousseau und Washington/F v. 6.12.2007; NL 2007, 316.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.5.2009, Bsw. 4023/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 138) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_3/Amanalachioai.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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