JudikaturJustizBsw35553/12

Bsw35553/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Oktober 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache S., V.und A. gg. Dänemark, Urteil vom 22.10.2018, Bsw. 35553/12.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK - Präventive Haft von Hooligans während Fussballspiel.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die drei Bf. reisten am 10.10.2009 nach Kopenhagen, um ein Fußballspiel zwischen Dänemark und Schweden zu besuchen. Allerdings wurden sie schon vor Beginn des Spiels so wie 135 weitere mutmaßliche Hooligans von der Polizei festgenommen. Die Anhaltung des ErstBf. dauerte von 16:45 bis 00:06 Uhr, jene des ZweitBf. von 15:50 bis 23:27 Uhr und jene des DrittBf. von 15:50 bis 23:21 Uhr. Die Freiheitsentziehung beruhte auf § 5 Abs. 3 Polizeigesetz. Demnach kann die Polizei Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit oder der Sicherheit anderer Personen ausgeht, vorübergehend festnehmen, wenn gelindere Maßnahmen nicht ausreichen, um die Gefährdung abzuwenden. Die Freiheitsentziehung muss so kurz wie möglich gehalten werden und sollte wenn möglich spätestens nach sechs Stunden beendet werden.

Am 15.10.2009 forderte die Anwältin der Bf. die Polizei auf, die Angelegenheit dem Gericht zur Überprüfung vorzulegen. Das Stadtgericht Aarhus kam aufgrund der Aussagen der Bf., dreier Zeugen sowie mehrerer Polizeibeamter zu dem Ergebnis, dass die in § 5 Abs. 3 Polizeigesetz normierten Voraussetzungen für die Anhaltung erfüllt gewesen seien. Die Polizei hätte vorab Informationen über beabsichtigte Schlägereien zwischen dänischen und schwedischen Hooligangruppen erhalten. Tatsächlich sei es am Nachmittag des 11.10.2009 zu ersten Zusammenstößen gekommen. Die Polizei wäre daher verpflichtet gewesen, weitere derartige Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern. Die drei Bf. wären von Zeugen dabei beobachtet worden, wie sie andere Personen zu einer gemeinsamen Beteiligung an Schlägereien aufgefordert hätten. Alle drei wären der Polizei bekannt gewesen, da sie bereits wiederholt anlässlich ähnlicher Vorfälle festgenommen worden waren. Angesichts des organisierten Charakters der Ereignisse, ihrer Dauer und ihres Umfangs wäre auch die Überschreitung der Höchstdauer von sechs Stunden rechtmäßig gewesen.

Das Westliche Landgericht bestätigte dieses Urteil. Eine Berufung an den Obersten Gerichtshof wurde für unzulässig erklärt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).

Zur Verbindung der Beschwerden

(47) Angesichts ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds sind die drei Beschwerden [...] zu verbinden (einstimmig).

Zulässigkeit

(50) [...] Die Beschwerde wirft komplexe Sach- und Rechtsfragen auf, sodass sie nicht als offensichtlich unbegründet [...] zurückgewiesen werden kann. Sie ist auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Daher muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

Im vorliegenden Fall zu entscheidende Fragen

(78) Es ist unumstritten, dass den Bf. [...] die Freiheit entzogen wurde. Der springende Punkt ist, ob ihre Anhaltung [...] nach Art. 5 Abs. 1 lit. b oder lit. c oder auch nach beiden lit. gerechtfertigt war.

War die Präventivhaft der Bf. von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK gedeckt?

(79) Eine Freiheitsentziehung kann nach der zweiten Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK »zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung« angeordnet werden.

(80) Das betrifft Fälle, in denen das Gesetz die Anhaltung einer Person erlaubt, um sie zur Erfüllung einer spezifischen und konkreten Verpflichtung zu zwingen, [...] der nachzukommen sie bislang unterlassen hat. Um von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK umfasst zu sein, muss eine Festnahme und Anhaltung zudem auf die Erfüllung dieser Verpflichtung abzielen oder direkt zu ihr beitragen und sie darf ihrem Charakter nach nicht strafend sein. [...]

(83) Eine weite Auslegung von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK würde Konsequenzen nach sich ziehen, die mit der Rechtsstaatlichkeit [...] unvereinbar wären und das Risiko willkürlicher Freiheitsentziehung mit sich bringen. [...] Die Verpflichtung, keine Straftat zu begehen, kann nur dann als hinreichend »konkret und spezifisch« iSd. lit. b angesehen werden, wenn Ort und Zeit der bevorstehenden Tatbegehung sowie die potentiellen Opfer ausreichend bestimmt wurden, die betroffene Person auf die spezifische Handlung aufmerksam gemacht wurde, von deren Begehung sie Abstand nehmen muss, und wenn diese Person sich nicht willens gezeigt hat, diese Handlung zu unterlassen. Die Pflicht, in unmittelbarer Zukunft keine Straftat zu begehen, kann nicht als ausreichend konkret und spezifisch angesehen werden, um unter Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK zu fallen, solange keine konkreten Maßnahmen angeordnet wurden, die nicht befolgt wurden.

(84) Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass gegenüber den Bf. vor ihrer Festnahme weder spezifische Anordnungen ergingen, wie etwa bei einer bestimmten Gruppe zu bleiben oder einen spezifischen Ort zu verlassen, noch eine klare Warnung hinsichtlich der Konsequenzen einer Verweigerung der Befolgung einer solchen Anordnung erfolgte. Auch wurde ihnen von der Polizei nicht mitgeteilt, von der Begehung welcher Handlungen sie Abstand nehmen mussten. Es scheinen auch bei niemandem in der Gruppe Gegenstände gefunden worden zu sein, die typischerweise bei Hooligan-Kämpfen verwendet werden.

(85) Laut Regierung reiche schon die Tatsache, dass die Bf. kurz vor, während oder nach einem Fußballspiel mit einer massiven Polizeipräsenz konfrontiert waren, dafür aus, dass sie implizit auf die spezifische Handlung hingewiesen worden seien, von deren Begehung sie Abstand nehmen mussten, nämlich der Anzettelung von Hooligan-Schlägereien zur Zeit und am Ort des Fußballspiels.

(86) Der GH ist von diesem Argument nicht überzeugt. Insbesondere kann eine große Polizeipräsenz, die bei jedem Großereignis normal ist, nicht mit den in Ostendorf/D aufgezählten, sehr spezifischen Maßnahmen verglichen werden, mit denen sichergestellt werden soll, dass eine Person auf die konkrete Handlung aufmerksam gemacht wurde, von deren Begehung sie Abstand nehmen muss. Eine solche weite Auslegung von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK würde Konsequenzen nach sich ziehen, die mit dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit [...] unvereinbar wären.

(87) Folglich war die Freiheitsentziehung der Bf. [...] nicht von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK gedeckt.

Zur Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK auf Präventivhaft außerhalb eines Strafverfahrens

Für lit. c geltende Grundsätze

(89) [...] Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK [...] erlaubt keine generalpräventive Politik gegen eine Person oder Personengruppe, die von den Behörden – zu Recht oder zu Unrecht – als gefährlich angesehen oder bei der eine Neigung zur Begehung rechtswidriger Handlungen angenommen wird. Dieser Haftgrund gibt den Mitgliedstaaten lediglich ein Mittel zur Verhinderung einer konkreten und spezifischen Straftat [...] in die Hand.

(91) Aus dem Verbot der Willkür folgt auch, dass sowohl die Anordnung der Festnahme als auch die Durchführung der Freiheitsentziehung dem Zweck der von der einschlägigen lit. des Art. 5 Abs. 1 EMRK erlaubten Einschränkungen entsprechen muss. [...]

(92) Schließlich ist im Kontext von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK die Begründung der Entscheidung, mit der die Freiheitsentziehung angeordnet wurde, ein relevanter Faktor bei der Entscheidung, ob die Freiheitsentziehung als willkürlich angesehen werden muss. [...]

Die vom GH zu behandelnde spezifische Angelegenheit

(93) Der GH war bereits in Ostendorf/D aufgerufen zu prüfen, ob eine Freiheitsentziehung, »die nur dem (präventiven) Zweck diente sicherzustellen, dass [der Bf.] in einer bevorstehenden Auseinandersetzung zwischen Hooligans keine Straftaten begehen würde«, von der zweiten Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gedeckt sein könnte [...]. Er verneinte diese Frage, brachte dabei aber zugleich zum Ausdruck, dass ihm die Bedeutung bewusst ist, die präventiver Polizeihaft zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben potentieller Opfer oder erheblicher materieller Schäden [...] im deutschen Rechtssystem zukommt.

(94) Angesichts der zahlreichen Vorfälle von Hooliganismus [...] und in Gewalt umgeschlagenen Massenereignissen in Europa in den letzten Jahrzehnten merkt der GH an, dass die meisten Mitgliedstaaten mit solchen Herausforderungen konfrontiert sind.

(95) Sich um eine Auslegung und Anwendung der Konvention bemühend, welche die festgestellten Herausforderungen angemessen berücksichtigt und zugleich den effektiven Schutz der Menschenrechte bewahrt, wird der GH diese Gelegenheit ergreifen zu prüfen, ob eine Notwendigkeit zur Klarstellung seiner Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK besteht.

(96) Die dabei zu beantwortende entscheidende Frage ist, ob die Worte »wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern« (die zweite Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. c) als gesonderter Grund für eine Freiheitsentziehung angesehen werden muss, der unabhängig ist vom Bestehen »eines hinreichenden Verdachts, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat« (die erste Alternative dieser Bestimmung).

(97) Erstens wird der GH untersuchen, wie in bisherigen Fällen die zweite Alternative im Verhältnis zur ersten ausgelegt und angewendet wurde. Zweitens wird er berücksichtigen, ob die in Art. 5 Abs. 1 lit. c enthaltene Anforderung an den Zweck (»zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde«) besondere Hindernisse mit sich bringt, die einer Anwendung von Art. 5 Abs. 1 lit. c auf präventive Freiheitsentziehung entgegenstehen. Vorausgesetzt, präventive Freiheitsentziehung kann unter die zweite Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. c fallen, wird der GH drittens beurteilen, wie die zusätzlichen Garantien in Abs. 3 und Abs. 5 anzuwenden sind um sicherzustellen, dass eine solche Freiheitsentziehung nicht willkürlich oder unverhältnismäßig ist.

Umfang, in dem die zweite Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK als von der ersten Alternative abgegrenzter Grund angesehen wurde

(98) Zunächst ist anzumerken, dass Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK die rechtmäßige Festnahme und Anhaltung einer Person in drei verschiedenen Konstellationen in Erwägung zieht, nämlich (1) »wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat«; (2) »wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern« oder (3) wenn dies aus begründetem Anlass als notwendig erachtet wird, um sie »an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern«.

(99) Dass beabsichtigt war, die zweite Alternative als separaten Grund für eine Freiheitsentziehung auszugestalten, kommt [...] in den Travaux Préparatoires zu Art. 5 EMRK zum Ausdruck. [...] Die Rechtsprechung ist diesbezüglich allerdings weniger eindeutig.

(101) Im Fall Ostendorf/D scheint ein wesentlicher Grund dafür gewesen zu sein, lit. c für nicht anwendbar zu erklären, dass diese lit. eine Freiheitsentziehung nur im Zusammenhang mit Strafverfahren gestattet und die Untersuchungshaft regelt. [...] Diese Auslegung stützte sich auf die Anforderungen nach Abs. 1 lit. c und Abs. 3, wonach die Freiheitsentziehung zum Zweck der »Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde« erfolgen und die Person gemäß Abs. 3 »unverzüglich einem Richter vorgeführt werden« muss und sie »Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist« hat. Außerdem wurde auf frühere Rechtsprechung verwiesen, wonach lit. c eine Freiheitsentziehung nur im Zusammenhang mit einem Strafverfahren erlaubt. Diese Judikaturlinie kann bis Ciulla/I zurückverfolgt werden und wurde in Jecius/LT, Epple/D und Schwabe und M. G./D bestätigt. [...]

(102) Der GH nimmt das (im Ergebnis übereinstimmende) Sondervotum von Richter Lemmens und Richterin Jäderblöm zum Urteil Ostendorf/D zur Kenntnis, das der oben dargelegten Interpretation widerspricht und dazu die in Lawless/IRL gegebene Auslegung ins Feld führt [...]. [...]

(103) Der vorliegende Fall offenbart die Notwendigkeit einer Überprüfung und Klarstellung der Rechtsprechung, um eine größere Konsistenz und Kohärenz sicherzustellen und um moderne gesellschaftliche Probleme, wie sie von diesem Fall aufgeworfen werden, angemessener zu behandeln.

(104) [...] Im Fall Lawless/IRL [...] brachte die Regierung vor, die Anhaltung der Bf. könne gerechtfertigt werden, weil sie notwendig war, um diese »an der Begehung einer Straftat zu hindern«, was nicht auch den Zweck der »Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde« erfordere. Der GH wies dieses Argument jedoch [...] zurück. [...]

(105) Der GH [...] stützte sich dabei auf eine Interpretation, die er als auf den Wortlaut bezogen beschrieb [...], und ging davon aus, dass sich jede der drei Alternativen in Abs. 1 lit. c auf unterschiedliche Gründe für eine Freiheitsentziehung bezieht. Überdies gelte die Anforderung, dass die Freiheitsentziehung zum Zweck der »Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde« erfolgt, im Hinblick auf jeden dieser Gründe, ebenso wie die Verpflichtung nach Art. 5 Abs. 1 lit. c und Abs. 3, die Person einem Richter vorzuführen, um entweder über die Rechtmäßigkeit der Haft oder über die strafrechtliche Anklage zu entscheiden.

(107) Die Linie des Urteils Lawless/IRL, wonach eine Präventivhaft, selbst wenn sie außerhalb eines Strafverfahrens verhängt wird, nach lit. c rechtmäßig sein könnte, scheint implizit in einigen weiteren Urteilen und Entscheidungen anerkannt worden zu sein. [...]

(108) Ungeachtet der Klarheit und Bestimmtheit der Auslegung in Lawless/IRL erfolgte aber keine Erklärung oder Anerkennung, als der GH rund 27 Jahre später in Ciulla/I von diesem Ansatz abwich und schlicht festhielt, »dass lit. c eine Freiheitsentziehung nur im Zusammenhang mit einem Strafverfahren erlaubt« und hinzufügte, diese Auslegung »sei angesichts des Wortlauts offensichtlich«. Weder erklärte der GH den Widerspruch zu Lawless/IRL, noch wurde in Folgeurteilen eine Widersprüchlichkeit angedeutet, geschweige denn bereinigt. [...]

(109) Von Bedeutung ist auch, dass sich der GH parallel zur Ciulla-Rechtsprechungslinie in mehreren Fällen mit Beschwerden unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK betreffend Maßnahmen im Kontext des englischen Rechts über »Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« befasst hat.

(110) Im ersten dieser Fälle, Steel u.a./GB, prüfte der GH die Angelegenheit unter der ersten und der zweiten Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK zusammen und war überzeugt davon, dass jeder der Bf. festgenommen und angehalten wurde, um ihn wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat der zuständigen Gerichtsbehörde vorzuführen oder weil es als notwendig erachtet wurde, um ihn an der Begehung einer Straftat zu hindern. Dabei wurde nicht unterschieden, welche Teile der Maßnahmen unter welche der Alternativen fielen. [...] Der GH anerkannte, dass die Maßnahmen zumindest zum Teil nach der zweiten Alternative zulässig waren.

(111) Ähnlich aufschlussreich ist die [...] Folgeentscheidung Nicol und Selvanayagam/GB, die zwei Bf. betraf, die an Protesten gegen einen Angel-Wettbewerb teilgenommen hatten [...]. Der GH [...] prüfte die Angelegenheit unter beiden Alternativen von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK und gelangte zu gesonderten teilweisen Schlussfolgerungen im Hinblick auf jede dieser Alternativen: »Die ursprüngliche Freiheitsentziehung diente dazu, die Bf. an der Begehung einer Straftat zu hindern; was die folgende Zeit der Anhaltung nach dem Angel-Wettbewerb betrifft [...], wurden die Bf. eindeutig angehalten, um sie wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat der zuständigen Gerichtsbehörde vorzuführen.«

(112) Einem Zugang, der jene Sorte einer »globalen« Prüfung unter den beiden Alternativen von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK in Einklang mit Steel u.a./GB umfasst, wurde auch [...] in McBride/GB gefolgt [...].

(113) Aus dem Obigen geht hervor, dass der Zugang des GH in Steel u.a./GB und den beiden Folgeentscheidungen [...] nicht vereinbar ist mit der Aussage in Ciulla/I aus 1989, die später in mehreren Fällen von Jecius/LT aus 2000 bis Ostendorf/D aus 2013 wiederholt wurde, wonach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK nur Freiheitsentziehungen im Zusammenhang mit Strafverfahren deckt. Er scheint auch nicht vereinbar mit der weiteren Aussage in Ostendorf/D, wonach »die zweite Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. c nur Untersuchungshaft regelt und nicht Haft zu Präventivzwecken, ohne dass die betroffene Person verdächtigt wird, bereits eine Straftat begangen zu haben.« Im Gegensatz dazu ließ es der GH im ersten und dritten der oben genannten britischen Fälle offen, welcher Teil der Maßnahmen unter den einen oder den anderen Grund fiel und im zweiten Fall traf er eine klare Unterscheidung zwischen beiden und präzisierte, dass die anfängliche Freiheitsentziehung unter den präventiven Grund fiel. Auf der Grundlage dieser Analyse erinnert die in den drei britischen Fällen vertretene Linie gewissermaßen an jene, die in Irland/GB und Guzzardi/I angewendet wurde. Der erstgenannte ließ offen, in welchem Umfang die beiden Alternativen auf den Fall anwendbar waren, während der letztgenannte in einer Art, die auf die eindeutige Unterscheidung der beiden Alternativen in Lawless/IRL [...] zurückverfolgt werden kann, die Anwendbarkeit der zweiten Alternative bejahte.

(114) Vor diesem Hintergrund sieht der GH gewichtige Argumente dafür, die in Lawless/IRL angenommene und danach in einer Reihe von Urteilen angewendete Interpretation zu verfechten, wonach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK die rechtmäßige Festnahme und Anhaltung einer Person unter verschiedenen Umständen in Erwägung zieht, einschließlich (nach der zweiten Alternative), »wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern«. Nicht nur der eindeutige Wortlaut der zweiten Alternative, sondern auch die sich darauf beziehenden Travaux Préparatoires zeigen klar, dass die zweite Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK auf einen gesonderten Grund verweist, der insbesondere losgelöst ist von der ersten Alternative. [...]

(115) Dieser Interpretation wurde in verschiedenen späteren Urteilen, von Ciulla/I bis Ostendorf/D, nicht gefolgt, mit denen die Möglichkeit verworfen wurde, außerhalb eines Strafverfahrens auf die zweite Alternative zurückzugreifen. Wie dargelegt wurde, stellt dieser Zugang nicht nur eine starke und nicht anerkannte Abweichung von Lawless/IRL dar, sondern er ist auch schwer mit der darin vorgenommenen Wortlautinterpretation zu vereinbaren, die von den Travaux Préparatoires unterstützt wird, sowie mit einer Reihe von Urteilen, die vor und nach Ciulla/I ergangen sind.

(116) Der GH ist daher der generellen Ansicht, dass die rechtmäßige Anhaltung einer Person außerhalb des Kontexts eines Strafverfahrens grundsätzlich nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK zulässig sein kann, um es der Polizei nicht unmöglich zu machen, ihre Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zum Schutz der Öffentlichkeit zu erfüllen, vorausgesetzt sie entspricht dem Grundsatz des Art. 5 EMRK, der im Schutz des Einzelnen vor Willkür besteht. [...]

(117) Allerdings stellt sich die Frage, ob das »Zweck«- Erfordernis in Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK, wonach die Freiheitsentziehung »zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde« erfolgen muss, ein Hindernis für Präventivhaft der von der zweiten Alternative umfassten Art darstellen kann.

Kann das »Zweck«-Erfordernis in Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK ein Hindernis für Präventivhaft nach der zweiten Alternative darstellen?

(118) In Lawless/IRL sprach der GH aus, dass das Zweck-Erfordernis nach Art. 5 Abs. 1 lit. c für alle Fallkategorien gilt, die unter die lit. c fallen. Wie jedoch anzumerken ist, hat der GH in anderen Fällen anerkannt, dass diese Anforderung mit einer gewissen Flexibilität auszulegen und anzuwenden ist, wenn die ursprünglich bestandene Absicht, den Bf. der zuständigen Gerichtsbehörde vorzuführen, aus irgendeinem Grund nicht umgesetzt wird. Die Tatsache, dass eine festgenommene Person weder angeklagt noch einem Richter vorgeführt wurde, bedeutet nicht zwingend, dass der Zweck ihrer Freiheitsentziehung nicht mit Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK vereinbar war. [...]

(120) Der GH sieht keinen Grund, warum er eine solche Flexibilität nicht auch auf Präventivhaft nach der zweiten Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. c anwenden sollte. Es sprechen vielmehr eine Reihe von Argumenten dafür, dies zu tun.

(121) Wenn angenommen wird, dass zur Erfüllung des Zweck-Erfordernisses von Beginn der Freiheitsentziehung an eine subjektive Absicht bestehen muss, würde dies die unerwünschte Konsequenz nach sich ziehen, jede Art der kurzfristigen Präventivhaft auszuschließen, wie sie in Ostendorf/D beschrieben wurde oder dem vorliegenden Fall zugrunde liegt, wo die Absicht nicht darin bestand, die Festgenommenen einem Richter vorzuführen, sondern sie nach einer kurzen Zeit zu entlassen, sobald das Risiko vorüber war.

(122) Eine strikte Befolgung des Zweck-Erfordernisses in Art. 5 Abs. 1 lit. c kann auch Konsequenzen haben, die nicht dem Sinn von Art. 5 EMRK entsprechen [...]. Eine strikte Auslegung kann die Freiheitsentziehung ungebührlich verlängern, nachdem das Risiko vorüber ist und der Gefangene freigelassen werden sollte, weil die Behörden eine realistische Zeitspanne benötigen würden, um den Gefangenen einem Richter zur Prüfung der Freiheitsentziehung vorzuführen.

(123) [...] Art. 5 EMRK kann nicht in einer Art und Weise ausgelegt werden, die es der Polizei praktisch unmöglich macht, ihren Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zum Schutz der Öffentlichkeit nachzukommen, vorausgesetzt sie befolgt das dieser Bestimmung zugrunde liegende Prinzip, den Einzelnen vor Willkür zu schützen. Der Polizei muss ein gewisser Grad an Ermessen beim Treffen operativer Entscheidungen zugestanden werden. Solche Entscheidungen sind fast immer kompliziert und die Polizei, die Zugang zu Informationen hat, die der allgemeinen Öffentlichkeit nicht verfügbar sind, wird gewöhnlich am besten in der Lage sein, sie zu treffen.

(124) Der GH ist sich auch bewusst, dass er seine Rechtsprechung betreffend die staatliche Verpflichtung unter Art. 2 und Art. 3 EMRK, die Öffentlichkeit vor Straftaten zu schützen, schrittweise ausgeweitet hat. Die Staaten sind daher beispielsweise in anderen Zusammenhängen verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen um sicherzustellen, dass ihrer Hoheitsgewalt unterstehende Personen keiner Misshandlung unterworfen werden, einschließlich einer solchen Behandlung, die von Privatpersonen ausgeht. Diese Maßnahmen sollten effektiven Schutz bieten und angemessene Schritte einschließen, Misshandlungen vorzubeugen, von denen die Behörden wussten oder wissen hätten müssen.

(125) Daher kann behauptet werden [...], dass hinsichtlich einer kurzen Präventivhaft die Anforderung des Zwecks der »Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde« implizit davon abhängt, dass der Grund für die Freiheitsentziehung lange genug andauert, um die Person einem Richter vorführen zu können. In dieser Hinsicht sollte die Frage, ob dem Zweck-Erfordernis entsprochen wurde, nach Ansicht des GH von einer objektiven Einschätzung des Verhaltens der Behörden abhängen, insbesondere im Hinblick darauf, ob die angehaltene Person, wie von Art. 5 Abs. 3 EMRK gefordert, unverzüglich einem Richter vorgeführt wird, um die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung überprüfen zu lassen, oder davor entlassen wird. Außerdem sollte die betroffene Person entsprechend Art. 5 Abs. 5 EMRK einen durchsetzbaren Entschädigungsanspruch haben, wenn diesem Erfordernis nicht entsprochen wurde.

(126) Vor diesem Hintergrund und nach Maßgabe der Verfügbarkeit der – unten näher darzulegenden – in Abs. 3 und Abs. 5 vorgesehenen zusätzlichen Sicherungen nach dem nationalen Recht sollte nach Ansicht des GH das Zweck-Erfordernis der Vorführung der angehaltenen Person vor die zuständige Gerichtsbehörde als solches kein Hindernis für eine unter die zweite Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK fallende kurze Präventivhaft sein, wenn eine Person nach kurzer Zeit aus der Präventivhaft entlassen wird, weil entweder das Risiko vorüber ist oder weil etwa eine vorgeschriebene kurze Frist abgelaufen ist. [...] Bei der Auslegung und Anwendung der Konvention sollte die Notwendigkeit anerkannt werden, mit so ernsten Herausforderungen, wie den im vorliegenden Fall in Rede stehenden, besonders umzugehen.

(127) Zugleich ist zu betonen, dass jede Flexibilität in diesem Bereich durch wichtige, in Art. 5 Abs. 1 EMRK verkörperte Sicherungen beschränkt wird. Dies gilt insbesondere für die Anforderung, dass die Freiheitsentziehung rechtmäßig sein und dem Zweck des Schutzes vor Willkür entsprechen muss, die Straftat insbesondere hinsichtlich Zeit und Ort ihrer Begehung und ihrer Opfer konkret und spezifisch sein muss und dass die Behörden Tatsachen oder Informationen liefern müssen, die einen objektiven Beobachter davon überzeugen würden, dass die betroffene Person aller Wahrscheinlichkeit nach an der konkreten und spezifischen Straftat beteiligt gewesen wäre, wenn deren Begehung nicht durch die Freiheitsentziehung verhindert worden wäre. Eine solche Flexibilität wird weiters durch die Anforderung begrenzt, dass Festnahme und Anhaltung vernünftigerweise als notwendig anzusehen sind. Bei der Einschätzung dieser Voraussetzung kann außerdem das Ausmaß berücksichtigt werden, zu dem die Maßnahmen sich auf Interessen auswirken, die durch andere Konventionsrechte geschützt werden.

Zusätzliche Sicherungen nach Art. 5 Abs. 3 und Abs. 5

(128) Wie bereits dargelegt, gilt die Sicherung von Art. 5 Abs. 3 1. Satz EMRK, wonach jede festgenommene oder angehaltene Person unverzüglich einem Richter vorzuführen ist, auch für Präventivhaft nach der zweiten Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK. [...]

(129) Es folgt unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 EMRK, dass keine Verpflichtung zur unverzüglichen Vorführung vor einen Richter besteht, wenn die Person nicht »von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist«, sondern entlassen wurde. [...]

(130) Um zu bestimmen, ob die Entlassung zu einer Zeit vor einer solchen unverzüglichen richterlichen Kontrolle stattgefunden hat, sollte davon ausgegangen werden, wie das Anfordernis der »Unverzüglichkeit« in Art. 5 Abs. 3 EMRK [bislang vom] GH angewendet wurde. Während die Unverzüglichkeit im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls zu beurteilen ist, lässt die strenge zeitliche Beschränkung dieser Anforderung wenig Flexibilität bei der Auslegung. Andernfalls würde eine Verfahrensgarantie zum Nachteil des Einzelnen ernsthaft geschwächt und es gäbe die Gefahr der Beeinträchtigung des Wesenskerns des von dieser Bestimmung geschützten Rechts.

(132) Bei der Einschätzung der »Unverzüglichkeit« ist auch zu bedenken, dass im Fall der Vorführung eines Gefangenen vor den Richter nach der ersten Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK der Zweck der Befragung während einer auf dieser lit. beruhenden Freiheitsentziehung darin besteht, die strafrechtlichen Ermittlungen voranzutreiben, indem der konkrete Verdacht, auf dem die Freiheitsentziehung beruht, erhärtet oder zerstreut wird. Dies impliziert, dass eine bestimmte Zeit zwischen der Festnahme und der unverzüglichen Vorführung vor den Richter notwendig sein kann, um den Ermittlungsbehörden die Sammlung von Beweisen zu ermöglichen, mit denen die Gründe zur Rechtfertigung der Anhaltung untermauert werden können.

(133) Solche Überlegungen spielen bei einer nach der zweiten Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK angehaltenen Person keine Rolle, weil es keine strafrechtliche Ermittlung und keinen Verdacht gibt, der erhärtet oder zerstreut werden könnte. Die Tatsachen, welche das Risiko einer Tatbegehung begründen, müssen schon zu der Zeit festgestellt sein, zu der die Person festgenommen wird, um sie an der Begehung dieser Straftat zu hindern. Es scheint daher, dass die zwischen der Festnahme einer Person zu präventiven Zwecken und ihrer unverzüglichen Vorführung vor einen Richter [...] notwendige Zeitspanne kürzer sein sollte als im Fall der Untersuchungshaft [...]. Während für eine Person, die nach der ersten Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK angehalten wird, weil »hinreichender Verdacht besteht, dass [sie] eine Straftat begangen hat«, jede Zeitspanne von mehr als vier Tagen prima facie zu lang ist, kann im Fall einer Person, der die Freiheit außerhalb des Kontexts eines Strafverfahrens entzogen wird, weil »begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern«, eine wesentliche kürzere Zeitspanne geboten sein.

(134) Der GH ist [...] daher der Ansicht, dass im Allgemeinen [...] im Kontext präventiver Freiheitsentziehung die Entlassung »zu einer Zeit vor der unverzüglichen richterlichen Kontrolle« eher eine Frage von Stunden als von Tagen sein sollte.

(135) Was die Anforderung [...] in Art. 5 Abs. 3 EMRK betrifft, wonach jede nach Art. 5 Abs. 1 lit. c angehaltene Person »Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens« hat, ist anzumerken, dass Präventivhaft durch das Fehlen einer strafrechtlichen Anklage gekennzeichnet ist. Aus der Tatsache des Rückgriffs auf Präventivhaft folgt nicht, dass die Behörden die Absicht haben, die betroffene Person anzuklagen oder weitere Ermittlungen durchzuführen um zu klären, ob Anklage erhoben werden kann. Wo kein Strafverfahren eingeleitet wird und kein Prozess stattfindet, kann die fragliche Anforderung nicht auf präventive Freiheitsentziehung angewendet werden.

(136) Art. 5 Abs. 5 EMRK ist eine weitere Sicherung, die gleichermaßen auf Präventivhaft nach der zweiten Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK anwendbar ist. [...]

Zusammenfassung der relevanten Grundsätze zur Präventivhaft nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK

(137) Die GK erachtet es [...] als notwendig, ihre Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK klarzustellen und anzupassen und insbesondere anzuerkennen, dass die zweite Alternative dieser Bestimmung als gesonderter Grund für eine Freiheitsentziehung angesehen werden kann, der unabhängig von der ersten Alternative ist. Obwohl das »Zweck«-Erfordernis nach Art. 5 Abs. 1 lit. c auch für Freiheitsentziehungen nach der zweiten Alternative dieser Bestimmung gilt, sollte diese Anforderung mit einer gewissen Flexibilität angewendet werden, sodass die Frage der Befolgung davon abhängt, ob beabsichtigt ist, die festgenommene Person wie von Art. 5 Abs. 3 EMRK verlangt unverzüglich einem Richter zur Kontrolle der Freiheitsentziehung vorzuführen, oder sie vor diesem Zeitpunkt zu entlassen. Außerdem sollte die betroffene Person im Fall eines Versäumnisses, dieser letztgenannten Anforderung zu entsprechen, gemäß Art. 5 Abs. 5 EMRK ein durchsetzbares Recht auf Entschädigung haben. Mit anderen Worten sollte das Zweck-Erfordernis kein Hindernis für eine kurzfristige Freiheitsentziehung unter Umständen wie jenen des vorliegenden Falls darstellen, vorausgesetzt die in Art. 5 Abs. 3 und Abs. 5 enthaltenen Garantien sind nach dem nationalen Recht verfügbar.

Anwendung der obigen Grundsätze nach lit. c

War die Präventivhaft der Bf. von der zweiten Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gedeckt?

(138) Die Bf. wurden nach § 5 Abs. 3 Polizeigesetz festgenommen, wonach die Polizei eine Person festnehmen kann, um der Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit oder der Sicherheit von Personen zu begegnen. Sie wurden nie angeklagt, es wurde kein Strafverfahren gegen sie eingeleitet und ihre Freiheitsentziehung diente nicht dem Zweck, sie einem Richter vorzuführen. Im Gegenteil, sie wurden ausschließlich zu präventiven Zwecken angehalten. [...]

(139) [Sie wurden nach ca. 7,5 Stunden] entlassen. Unter den gegebenen Umständen, insbesondere angesichts dessen, dass 138 Personen am selben Tag festgenommen wurden, kann der GH akzeptieren, dass die Bf. zu einer Zeit entlassen wurden, bevor es nach Art. 5 Abs. 3 EMRK [...] notwendig wurde, sie einem Richter vorzuführen.

(140) Die Bf. [...] hatten die Gelegenheit, die Frage der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung vor die Gerichte zu bringen [...] und sie machten auch davon Gebrauch. Zudem hätte ihnen eine Entschädigung zugesprochen worden können, wenn dies aus Sicht von Art. 5 EMRK gerechtfertigt gewesen wäre. Das einschlägige Verfahren war daher mit Art. 5 Abs. 5 EMRK vereinbar.

(141) Da somit im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für die Anwendung einer flexiblen Anwendung des »Zweck«-Erfordernisses erfüllt sind, kann nach Ansicht des GH gesagt werden, dass die auf § 5 Abs. 3 des Polizeigesetzes beruhende Freiheitsentziehung der Bf. unter die zweite Alternative des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK fällt.

Entsprach die Anhaltung der Bf. dem nationalen Recht?

(145) Dem Vorbringen der Bf. zufolge war ihre Freiheitsentziehung rechtswidrig [...], weil die Höchstdauer von sechs Stunden überschritten wurde [...].

(146) [...] Die Polizei nahm bei ihrer Strategie Rücksicht auf die Höchstdauer von sechs Stunden. [...] Sie versuchte [...], zunächst von Festnahmen Abstand zu nehmen, weil ansonsten jede festgenommene Person während oder unmittelbar nach Ende des Fußballspiels entlassen hätte werden müssen, was ihr die Möglichkeit gegeben hätte, sich wieder in das Stadtzentrum zu begeben und ihre Beteiligung an Schlägereien wieder aufzunehmen. [...] Die andauernden Gewalttätigkeiten machten es notwendig, die Höchstdauer von sechs Stunden zu überschreiten. [...]

(147) Die innerstaatlichen Gerichte [...] erklärten die Freiheitsentziehung der Bf. für rechtmäßig [...]. Das Stadtgericht [...] erachtete die Überschreitung der Höchstdauer angesichts des Zwecks der Anhaltung, dem Charakter und Ausmaß der Unruhen und der moderaten Dauer der Überschreitungen [...] für gerechtfertigt.

(148) [...] Der GH sieht keine Anzeichen dafür, dass die Einschätzung der nationalen Gerichte willkürlich oder offensichtlich unangemessen war [...] und anerkennt, dass die Freiheitsentziehung der Bf. »rechtmäßig« im Sinne der Befolgung der materiellen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen des nationalen Rechts war.

War die Freiheitsentziehung der Bf. willkürlich?

(153) Auch wenn der GH nicht an die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte gebunden ist [...], bedarf es normalerweise doch zwingender Gründe, um von deren Tatsachenfeststellungen abzuweichen.

(155) Der GH sieht keinen Grund dafür, die [...] von den nationalen Gerichten getroffenen Tatsachenfeststellungen in Frage zu stellen, wonach die Bf. festgenommen wurden, weil die Polizei ausreichende Gründe für die Annahme hatte, dass sie andere dazu angestachelt hatten, im Zentrum von Kopenhagen einen Kampf mit schwedischen Fußballfans zu beginnen und damit eine konkrete und unmittelbare Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit oder für die Sicherheit von einzelnen Personen verursacht hatten. Er erkennt auch keinen Hinweis auf bösen Glauben oder Nachlässigkeit seitens der innerstaatlichen Behörden bei der Anwendung des einschlägigen Rechts. [...] Die innerstaatlichen Gerichte akzeptierten die Tatsachen, wie sie von den Polizeibeamten geschildert wurden. Diese Feststellungen waren weder willkürlich noch offensichtlich unangemessen und es gibt für den GH keine objektiven, geschweige denn zwingenden Gründe dafür, die auf innerstaatlicher Ebene getroffene Einschätzung anzuzweifeln.

(156) Was das Erfordernis in Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK betrifft, nach dem die Straftat insbesondere hinsichtlich Ort und Zeit ihrer Begehung und der Opfer konkret und spezifisch sein muss, bemerkt der GH, dass § 5 Abs. 1 und Abs. 3 Polizeigesetz keine Straftaten nennen, an deren Begehung die Bf. gehindert werden sollten.

(157) Allerdings [...] spezifizierten im Kontext von Hooligan-Schlägereien [...] eine Reihe von Strafbestimmungen, an der Begehung welcher Straftaten die Bf. gehindert werden sollten. [...] § 134a StGB enthielt die Verpflichtung, sich nicht an Kämpfen zu beteiligen oder sich an anderen schweren Störungen des Friedens an einem öffentlichen Ort zu beteiligen, wenn solche Handlungen im gegenseitigen Einverständnis erfolgten oder mehrere Personen zusammenwirkten [...]. §§ 244, 245 und 291 StGB betrafen (schwere) Gewalttätigkeit und [...] Sachbeschädigung.

(158) Die von den innerstaatlichen Gerichten [...] getroffenen Sachverhaltsfeststellungen sollten nach Ansicht des GH einen objektiven Beobachter überzeugen, dass die Polizei zum Zeitpunkt der Festnahme der Bf. jeden Grund zur Annahme hatte, sie würden eine Schlägerei zwischen Fußball-Hooligans im Zentrum von Kopenhagen in den Stunden vor, während oder nach dem Fußballspiel am 10.10.2009 organisieren, die eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit der zahlreichen Fußballfans und zur relevanten Zeit anwesender unbeteiligter Dritter verursacht hätte. Da angenommen wurde, dass die Bf. daran gehindert worden sind, an jenem Tag zu einer Prügelei zwischen Fußball-Hooligans um 15:50 Uhr am Amagertov Platz und um 16:45 Uhr vor dem Tivoli Park anzustiften, konnten Ort und Zeit sehr genau beschrieben werden. Als Opfer konnte die zur genannten Zeit an diesen Orten anwesende Öffentlichkeit identifiziert werden.

(159) Der GH ist daher überzeugt, dass die von den nationalen Gerichten festgestellten Tatsachen ausreichend anzeigten, dass die »Straftat« als »spezifisch und konkret« für die Zwecke des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK angesehen werden konnte.

(160) Er ist auch überzeugt, dass die Behörden Beweise dafür vorlegten, die Bf. wären wahrscheinlich an dieser Straftat beteiligt gewesen, wenn deren Begehung nicht durch ihre Festnahme verhindert worden wäre.

War die Freiheitsentziehung der Bf. »notwendig«?

(161) [...] Gelindere Maßnahmen müssen geprüft und als unzureichend für den Schutz des individuellen oder öffentlichen Interesses, das die Freiheitsentziehung der betroffenen Person verlangen kann, erachtet worden sein. Präventive Freiheitsentziehung kann nicht als notwendig angesehen werden, wenn kein angemessener Ausgleich zwischen der Bedeutung, die der Abwendung einer unmittelbaren Gefahr der Begehung einer Straftat in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit besteht. Um verhältnismäßig zu einer so schwerwiegenden Maßnahme wie einer Freiheitsentziehung zu sein, muss die konkrete und spezifische »Straftat«, auf die in der zweiten Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK verwiesen wird, schwerwiegend sein und eine Gefahr für Leib und Leben oder eines erheblichen materiellen Schadens mit sich bringen. Zudem muss die Freiheitsentziehung beendet werden, sobald die Gefahr vorüber ist, was eine Beobachtung erfordert. Dabei ist auch die Dauer der Freiheitsentziehung ein relevanter Faktor.

(162) [...] Die Anstiftung zu einer Hooligan-Prügelei im Zentrum von Kopenhagen [...] brachte eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit all der friedlichen Fußballfans und der anwesenden unbeteiligten Dritten mit sich. Nach Ansicht des GH war die Straftat, welche die Behörden verhindern wollten, ohne Zweifel eine schwerwiegende.

(163) Wie der GH [...] feststellt, bestand die Taktik der Polizei [...] darin, den Dialog mit den Fans und Zusehern zu suchen [...] und im Fall von Zusammenstößen nur die Anstifter festzunehmen. [...]

(164) Die Polizei scheint bis zum Ausbruch des ersten Kampfes am Amagertov Platz um 15:41 Uhr einen sehr zurückhaltenden Ansatz mit milden Maßnahmen zur Verhinderung von Zusammenstößen zwischen den Hooligans verfolgt zu haben.

(165) Selbst [...] als eine Gruppe von rund 50 dänischen Fußballfans [...] sich direkt in Richtung des Kampfes am Amagertov Platz auf den Weg machte, versuchte die Polizei zunächst weniger strenge Maßnahmen anzuwenden, um eine Konfrontation zu vermeiden. Sie parkte ihre Mannschaftstransporter quer, um ein Zusammentreffen der dänischen mit der schwedischen Gruppe von Fußballfans zu vermeiden. Anschließend lenkte sie die dänischen Fußballfans in eine Seitenstraße, um sie zu registrieren und zu durchsuchen.

(166) [...] In diesem Moment intensiver Aktion wurde angenommen, dass der ZweitBf. und der DrittBf. in unmittelbarer Nähe des anhaltenden Kampfes am Amagertov Platz andere dazu aufriefen, sich an der Auseinandersetzung zu beteiligen. Diese beiden Bf. wurden daher um 15:50 Uhr festgenommen [...]. [...]

(167) [...] Die Polizei griff nicht auf umfangreiche Festnahmen zurück, sondern achtete darauf, nur jene festzunehmen, von denen ihrer Einschätzung nach eine Gefahr der Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und der Sicherheit von Personen ausging.

(168) Der ErstBf. [...] wurde um 16:45 Uhr festgenommen, nachdem er dabei belauscht worden war [...], wie er andere zu einer Beteiligung an dem Kampf aufgerufen hatte [...].

(169) Unter diesen Umständen sieht der GH keinen Grund, die Schlussfolgerungen des Stadtgerichts [...] zu bezweifeln, wonach weniger einschneidende Maßnahmen nicht als ausreichend angesehen werden konnten, um unter diesen Umständen die Gefahr zusätzlicher Unruhen abzuwenden [...]. [...]

Der GH sieht keinen zwingenden Grund dafür, von den Feststellungen der nationalen Gerichte abzuweichen und ist daher überzeugt, dass die Freiheitsentziehung der Bf. angemessenerweise als notwendig angesehen werden konnte, um sie daran zu hindern, zu Hooliganismus aufzurufen [...], da gelindere Maßnahmen nicht ausgereicht hätten.

(170) Was die Dauer der Freiheitsentziehung betrifft, sieht der GH keinen Grund, von den Feststellungen des Stadtgerichts abzuweichen, wonach die Anhaltung [...] beendet wurde, sobald im Stadtzentrum Ruhe eingekehrt war, [...] und keine Grundlage dafür bestand, die Einschätzung der Polizei für falsch zu erklären, wonach eine frühere Entlassung [...] eine konkrete und unmittelbare Gefahr weiterer Unruhen mit sich gebracht hätte, einschließlich Zusammenstößen mit Zuschauern, die das Stadion verlassen hatten und sich noch in großer Zahl auf den Straßen aufhielten.

(171) Wie der GH weiters feststellt, gab es eine sorgfältige Beobachtung dahingehend, ob das Risiko vorüber war. [...] Es gab einen ständigen Dialog zwischen [dem für die Entlassung zuständigen Polizeibeamten], dem Leiter der Kommandozentrale und den Polizisten auf der Straße, was es [Ersterem] ermöglichte einzuschätzen, wann er mit der Entlassung der Festgenommenen beginnen sollte.

(172) [...] Der GH ist auch überzeugt, dass die Bf. entlassen wurden, sobald die unmittelbare Gefahr vorüber war, dass die Anhaltung nicht länger dauerte als notwendig war, um sie daran zu hindern, weitere Schritte zum Aufruf zu einer Hooligan-Prügelei [...] zu setzen, und dass diese Gefahreneinschätzung ausreichend überprüft wurde.

(173) Folglich ist der GH der Ansicht, dass die innerstaatlichen Gerichte einen fairen Ausgleich zwischen der Bedeutung des Rechts auf Freiheit und der Bedeutung der Hinderung der Bf. an der Organisation von und Teilnahme an Hooligan-Schlägereien getroffen haben.

Schlussfolgerung

(174) [...] Der GH gelangt zu dem Schluss, dass die präventive Freiheitsentziehung der Bf. Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK entsprach und folglich keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgt ist (15:2 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter de Gaetano und Wojtyczek).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lawless/IRL v. 1.7.1961

Irland/GB v. 18.1.1978 = EuGRZ 1979, 149

Guzzardi/I v. 6.1.1980 = EuGRZ 1983, 633

Ciulla/I v. 22.2.1989

Steel u.a./GB v. 23.9.1998 = NL 1998, 201

Jecius/LT v. 31.7.2000 = NL 2000, 149

Nicol und Selvanayagam/GB v. 11.1.2001 (ZE)

McBride/GB v. 5.7.2001 (ZE)

Wendenburg/D v. 6.2.2003 (ZE) = ÖJZ 2004, 775

Vasileva/DK v. 25.9.2003 = NL 2003, 255

Epple/D v. 24.3.2005 = NL 2005, 74 = EuGRZ 2005, 474

Schwabe und M. G./D v. 1.12.2011 = NLMR 2011, 367 = EuGRZ 2012, 141

Austin u.a./GB v. 15.3.2012 = NLMR 2012, 80

Ostendorf/D v. 7.3.2013 = NLMR 2013, 86 = EuGRZ 2013, 489

Laurus Invest Hungary Kft u.a./H v. 8.9.2015 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.10.2018, Bsw. 35553/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 409) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_5/S.V.A..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.