JudikaturJustizBsw20261/12

Bsw20261/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. Juni 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Baka gg. Ungarn, Urteil vom 23.6.2016, Bsw. 20261/12.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 10 EMRK - Abberufung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs nach öffentlicher Kritik an Gesetzgebung.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (15:2 Stimmen).

Verletzung von Art. 10 EMRK (15:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 70.000,– für materiellen und immateriellen Schaden, € 30.000,– für Kosten und Auslagen (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde im Juni 2009 vom ungarischen Parlament für eine Amtsperiode von sechs Jahren zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofs gewählt. Zuvor war er mehr als 17 Jahre lang als Richter am EGMR tätig gewesen.

Als Präsident des Obersten Gerichtshofs war er mit Führungsaufgaben betraut, aber auch in der Rechtsprechung tätig, da er Beratungen über die Einheitlichkeit der Rechtsprechung leitete. Zudem war er Präsident des Nationalen Justizrats.

Nachdem die Allianz aus Fidesz und Christdemokraten im April 2010 eine Zweidrittelmehrheit erlangt hatte, begann sie mit einer Reform der Verfassung. In seiner Funktion als Präsident des Obersten Gerichtshofs und des Nationalen Justizrats äußerte der Bf. öffentlich seine Ansichten zu verschiedenen Aspekten der Reformen, die sich auf die Gerichtsbarkeit auswirkten. Er kritisierte insbesondere die Herabsetzung des Höchstalters für Richter auf 62 Jahre, die seiner Ansicht nach die Grundprinzipien der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit von Richtern verletzte, sowie die Ersetzung des Nationalen Justizrats durch ein Nationales Justizamt. Der Bf. erhob auch eine Verfassungsbeschwerde gegen die entsprechenden Bestimmungen und hielt zwei Reden im Parlament.

Mit Verfassungsgesetz wurden der Oberste Gerichtshof und der Nationale Justizrat per 1.12.2012 durch die Kúria ersetzt und die Agenden der Justizverwaltung an den Präsidenten des Nationalen Justizamts übertragen. Nach einem am 20.11.2011 eingebrachten Vorschlag zur Änderung der Übergangsbestimmungen des Verfassungsgesetzes sollte die Amtszeit des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs sowie der Mitglieder des Nationalen Justizrats mit 31.12.2011 ablaufen. Eine weitere Änderung vom 23.11.2011 sah eine Beendigung des Mandats des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs ex lege vor. Diese gesetzlichen Änderungen wurden am 28.11.2011 beschlossen, wobei die Übergangsbestimmungen ebenfalls im Verfassungsrang standen.

In Folge des Inkrafttretens dieser Änderungen wurde das Mandat des Bf. als Präsident des Obersten Gerichtshofs am 1.1.2012 dreieinhalb Jahre vor seinem vorgesehenen Ablauf beendet.

Bei der Wahl zum Präsidenten der Kúria konnte der Bf. nicht kandidieren, weil seit einer im November 2011 erfolgten Änderung eine mindestens fünfjährige Tätigkeit als Richter in Ungarn vorausgesetzt wurde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte insbesondere eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) und von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(88) Der Bf. rügt, ihm sei der Zugang zu einem Gericht verwehrt worden, um im Zusammenhang mit seiner vorzeitigen Abberufung als Präsident des Obersten Gerichtshofs seine Rechte zu verteidigen. Er behauptete, seine Abberufung hätte aus Gesetzgebung auf Verfassungsebene resultiert, was ihm die Möglichkeit genommen hätte, eine gerichtliche Überprüfung zumindest durch das Verfassungsgericht anzustrengen. [...]

Grundsätze der ständigen Rechtsprechung

(103) [...] Im Urteil Vilho Eskelinen/FIN entwickelte der GH neue Kriterien für die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf arbeitsrechtliche Streitigkeiten von Beamten. Nach diesen Kriterien müssen zwei Kriterien erfüllt sein, damit sich der belangte Staat auf den Beamtenstatus des Bf. berufen kann, wenn er den von Art. 6 EMRK gewährten Schutz ausschließt. Erstens muss der Staat den Zugang zu einem Gericht für die fragliche Stelle oder Bedienstetenkategorie in seinem nationalen Recht ausdrücklich ausgeschlossen haben. Zweitens muss der Ausschluss durch objektive Gründe im staatlichen Interesse gerechtfertigt sein. [...] Grundsätzlich gibt es keine Rechtfertigung für den Ausschluss gewöhnlicher arbeitsrechtlicher Streitigkeiten von den Garantien des Art. 6 EMRK [...]. Hier wird eine Vermutung gelten, dass Art. 6 EMRK anwendbar ist. [...]

(104) Während der GH in seinem Urteil Vilho Eskelinen/FIN erklärte, dass seine Begründung in diesem Fall auf die Situation von Verwaltungsbeamten beschränkt sei, bemerkt die GK, dass die in diesem Urteil festgelegten Kriterien von verschiedenen Kammern des GH auf Streitigkeiten angewendet wurden, die Richter – einschließlich Präsidenten von Obersten Gerichtshöfen – betrafen. Die GK sieht keinen Grund dafür, von diesem Zugang abzuweichen. Obwohl die Gerichtsbarkeit kein Teil der gewöhnlichen Verwaltung ist, wird sie als Teil des typischen öffentlichen Dienstes angesehen.

(105) Der GH bemerkt, dass die in Vilho Eskelinen/FIN dargelegten Kriterien auf alle Arten von Streitigkeiten betreffend Beamte und Richter angewendet wurden, einschließlich solcher über die Bestellung, Beförderung, Versetzung und Beendigung des Dienstverhältnisses. [...]

(106) Weiters betont der GH, dass die Eskelinen-Kriterien betreffend die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK [...] auch für Fälle passen, in denen es um das Recht auf Zugang zu einem Gericht geht [...]. Die GK sieht bei der Entscheidung über die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Licht der genannten Kriterien keinen Grund, eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Garantien zu treffen.

Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall

Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK

Bestehen eines Rechts

(107) Der Bf. wurde am 22.6.2009 [...] für eine Amtszeit von sechs Jahren zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofs gewählt. [...] Aus den Bestimmungen [des Gesetzes LXVI aus 1997 über die Organisation und Verwaltung der Gerichte] geht hervor, dass der Inhaber eines Amts das Recht hatte, bis zum Ablauf seiner Amtszeit oder der Beendigung seines richterlichen Mandats tätig zu sein. Dies wird weiters daran deutlich, dass eine Person, falls ihr Amt ohne ihre Zustimmung zu einem früheren Zeitpunkt beendet wird – nämlich durch eine Entlassung – eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung beantragen kann.

(109) Angesichts des zur Zeit seiner Bestellung und seiner Amtsausübung geltenden innerstaatlichen gesetzlichen Rahmens konnte der Bf. nach Ansicht des GH vertretbar behaupten, während dieser Zeitspanne nach ungarischem Recht einen Anspruch auf Schutz vor Abberufung aus seinem Amt als Präsident des Obersten Gerichtshofs gehabt zu haben. [...]

(110) Die Tatsache, dass das Mandat des Bf. ex lege durch die Anwendung des neuen Gesetzes, das am 1.1. 2012 in Kraft trat [...] und auf der neuen Verfassung beruhte, beendet wurde, konnte nach Ansicht des GH die Vertretbarkeit seines Rechts nach den zur Zeit seiner Wahl geltenden Regeln nicht beseitigen. Wie oben dargelegt, sahen diese Regeln eindeutig eine sechsjährige Amtsdauer des Präsidenten und spezifische Gründe für eine vorzeitige Beendigung vor. Da es diese neue Gesetzgebung war, die die früheren Regeln außer Kraft setzte, stellte gerade sie den Gegenstand dieser »Streitigkeit« dar, auf die die Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sein sollten. Unter den Umständen des vorliegenden Falls kann daher die Frage, ob nach innerstaatlichem Recht ein Recht existierte, nicht anhand der neuen Gesetzgebung beantwortet werden.

(111) Angesichts des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass es im vorliegenden Fall eine echte und ernsthafte Streitigkeit über ein »Recht« gab, dessen Bestehen der Bf. nach innerstaatlichem Recht vertretbar behaupten konnte.

»Zivilrechtlicher« Charakter des Rechts: der Eskelinen-Test

(114) Im vorliegenden Fall [...] war der Bf. als Inhaber des fraglichen Amts in der Zeit, bevor der Streit begann, nicht »ausdrücklich« vom Recht auf Zugang zu einem Gericht ausgeschlossen. Das innerstaatliche Recht sah vielmehr unter jenen eingeschränkten Umständen, in denen eine Abberufung eines Gerichtsvorstehers möglich war, ein Recht auf ein Gericht vor. [...]

(115) Dennoch wurde der Zugang des Bf. zu einem Gericht durch die Tatsache behindert, dass die angefochtene Maßnahme, nämlich die vorzeitige Beendigung seines Mandats als Präsident des Obersten Gerichtshofs, in den Übergangsbestimmungen des Gesetzes über die Organisation und Verwaltung der Gerichte enthalten war, das am 1.1.2012 in Kraft trat. Dies hinderte ihn daran, die Maßnahme vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst anzufechten, was er im Fall einer Entlassung aufgrund des bestehenden rechtlichen Rahmens hätte tun können.

(116) In Anbetracht der obigen Überlegungen ist der GH der Ansicht, dass er unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls entscheiden muss, ob der Zugang zu einem Gericht nach innerstaatlichem Recht vor und nicht erst zu der Zeit, als die den Bf. betreffende umstrittene Maßnahme ergriffen wurde, ausgeschlossen war. Anders vorzugehen würde bedeuten, dass die angefochtene Maßnahme, die den behaupteten Eingriff in das »Recht« des Bf. begründete, selbst zugleich die rechtliche Grundlage für den Ausschluss des Anspruchs des Bf. vom Zugang zu einem Gericht sein könnte. Dies würde den Weg für Missbrauch öffnen, indem es den Vertragsstaaten erlaubt, den Zugang zu einem Gericht in Hinblick auf ihre Beamten betreffende individuelle Maßnahmen zu versperren, indem sie diese Maßnahmen einfach in eine gesetzliche ad hoc-Bestimmung einschließen, die nicht der gerichtlichen Überprüfung unterliegt.

(117) Der GH betont, dass eine den Zugang zu einem Gericht ausschließende nationale Gesetzgebung mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar sein muss, wenn sie in einem bestimmten Fall irgendeine Wirkung unter Art. 6 Abs. 1 EMRK haben soll. Dieser Grundsatz [...] erfordert unter anderem, dass jeder Eingriff grundsätzlich auf einem allgemein anwendbaren Instrument beruht. Auch die Venedig-Kommission hat in Hinblick auf den Fall des Bf. festgestellt, dass gegen eine bestimmte Person gerichtete Gesetze dem Rechtsstaatsprinzip widersprechen.

(118) In Anbetracht des Vorgesagten kann nicht angenommen werden, dass das innerstaatliche Recht den Zugang zu einem Gericht für eine Geltendmachung der behaupteten Unrechtmäßigkeit der Beendigung des Mandats des Bf. ausdrücklich ausschloss. Die erste Bedingung des Eskelinen-Tests wurde somit nicht erfüllt und Art. 6 EMRK ist unter seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar. Da beide Bedingungen für den Ausschluss der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK erfüllt sein müssen, hält es der GH nicht für notwendig zu prüfen, ob die zweite Bedingung des Eskelinen-Tests erfüllt gewesen wäre.

(119) Daraus folgt, dass die Verfahrenseinrede der Regierung betreffend die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu verwerfen ist.

Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 EMRK

(121) Im vorliegenden Fall wurde die vorzeitige Beendigung des Mandats des Bf. als Präsident des Obersten Gerichtshofs nicht von einem ordentlichen Gericht oder von einem anderen Spruchkörper mit richterlichen Befugnissen überprüft und sie war einer solchen Überprüfung auch nicht zugänglich. Dieses Fehlen einer gerichtlichen Überprüfung resultierte aus einer Gesetzgebung, deren Vereinbarkeit mit den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit zweifelhaft ist. [...] Der GH muss die wachsende Bedeutung zur Kenntnis nehmen, die internationale Instrumente sowie solche des Europarats und die Rechtsprechung internationaler Gerichte und die Praxis internationaler Spruchkörper der prozessualen Fairness in Fällen beimessen, in denen es um die Ablösung oder Entlassung von Richtern geht, einschließlich der Beteiligung einer von der Exekutive und Legislative unabhängigen Instanz an jeder Entscheidung über die Amtsenthebung eines Richters. Daher befindet der GH, dass der belangte Staat den Wesenskern des Rechts des Bf. auf Zugang zu einem Gericht beeinträchtigte.

(122) Folglich hat eine Verletzung des von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts des Bf. auf Zugang zu einem Gericht stattgefunden (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Pejchal und Wojtyczek; im Ergebnis übereinstimmendes gemeinsames Sondervotum der Richter Pinto de Albuquerque und Dedov; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Sicilianos).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(123) Der Bf. rügt, sein Mandat als Präsident des Obersten Gerichtshofs wäre wegen seiner Ansichten über Gesetzesreformen, die sich auf die Gerichtsbarkeit bezogen, beendet worden, die er in seiner Eigenschaft als Präsident des Obersten Gerichtshofs und des Nationalen Justizrats öffentlich geäußert hatte. [...]

Bestehen eines Eingriffs

(140) [...] In Fällen, die Disziplinarverfahren, die Abberufung oder die Bestellung von Richtern betreffen, musste sich der GH zunächst vergewissern, ob die in Beschwerde gezogene Maßnahme einen Eingriff in die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit durch den Bf. darstellte [...] oder ob die umstrittene Maßnahme lediglich die Ausübung des von der EMRK nicht garantierten Rechts betraf, eine Stelle des öffentlichen Dienstes in der Gerichtsbarkeit innezuhaben. [...]

(143) [...] Um diese Frage zu beantworten, muss die Reichweite der Maßnahme bestimmt werden, indem diese in den Kontext des vorliegenden Sachverhalts und der relevanten Gesetzgebung gestellt wird. Angesichts der Tatsachen des vorliegenden Falls und der Art der vorgebrachten Behauptungen sollte diese Angelegenheit nach Ansicht des GH anhand der allgemeinen Grundsätze geprüft werden, die sich aus seiner Judikatur zur Beweiswürdigung ergeben. [...] Nach seiner ständigen Rechtsprechung kann ein Beweis aus dem Vorliegen ausreichend starker, eindeutiger und übereinstimmender Schlussfolgerungen oder aus ähnlichen unwiderlegten Tatsachenvermutungen folgen. [...] Unter bestimmten Umständen hat nur die belangte Regierung Zugang zu Informationen, die geeignet sind, die Behauptungen des Bf. zu bestätigen oder zu widerlegen. Folglich ist eine strenge Anwendung des Grundsatzes affirmanti, non neganti, incumbit probatio unmöglich (Anm: Nach diesem Grundsatz liegt die Beweislast bei demjenigen, der etwas behauptet, und nicht bei jenem, der etwas bestreitet.). [...]

(145) [...] Der Bf. äußerte in seiner beruflichen Funktion als Präsident des Obersten Gerichtshofs und des Nationalen Justizrats öffentlich seine Ansichten über verschiedene die Gerichtsbarkeit betreffende Gesetzesreformen. [...] Am 3.11.2011 hielt er eine Rede im Parlament, in der er seine Besorgnis über den Vorschlag ausdrückte, den Nationalen Justizrat durch eine externe Verwaltung (das Nationale Justizamt) zu ersetzen, die für die Verwaltung der Gerichte zuständig wäre. In seiner Rede kritisierte der Bf. diesen Vorschlag stark und sagte, diese neue Einrichtung hätte »übermäßige«, »verfassungswidrige« und »unkontrollierbare« Befugnisse. Der Bf. kritisierte auch erneut das neue Pensionsalter für Richter, das ernsthafte Auswirkungen auf den Obersten Gerichtshof haben würde.

(146) [...] Alle Vorschläge, sein Mandat als Präsident des Obersten Gerichtshofs zu beenden, wurden zwischen 19. und 23.11.2011 öffentlich gemacht und dem Parlament übermittelt, also kurz nach seiner Rede im Parlament vom 3.11.2011, und in bemerkenswert kurzer Zeit angenommen. Die Beendigung des Mandats des Bf. wurde mit 1.1.2012 wirksam, als das Verfassungsgesetz in Kraft trat und die neue Kúria Rechtsnachfolgerin des Obersten Gerichtshofs wurde.

(147) Zudem bemerkt der GH, das am 9.11.2011 das Gesetz über die Organisation und Verwaltung der Gerichte geändert und ein neues Kriterium für die Eignung als Präsident der Kúria eingeführt wurde. Kandidaten für diese Stelle mussten unbefristet bestellte Richter sein, die zumindest fünf Jahre in Ungarn als Richter tätig waren. Die als Richter eines internationalen Gerichtshofs verbrachte Zeit war nicht erfasst, was dazu führte, dass der Bf. nicht für die Stelle des Präsidenten der neuen Kúria in Frage kam.

(148) Die Abfolge der Ereignisse in ihrer Gesamtheit und nicht als gesonderte und eigenständige Ereignisse betrachtet bringt den GH zur Ansicht, dass ein prima facie-Beweis für eine kausale Verbindung zwischen der Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. und der Beendigung seines Mandats besteht. Dies wird durch die zahlreichen vom Bf. vorgelegten Dokumente untermauert, die auf die verbreitete Auffassung über das Bestehen einer solchen kausalen Verbindung hinweisen. [...]

(149) Sobald es einen prima facie-Beweis zugunsten der vom Bf. geschilderten Version der Ereignisse gibt, muss sich die Beweislast nach Ansicht des GH zur Regierung verlagern. Dies ist im vorliegenden Fall besonders wichtig, da der Regierung die hinter der Beendigung des Mandats des Bf. stehenden Gründe bekannt sind und diese nie von einem unabhängigen Gericht oder Spruchkörper festgestellt oder überprüft wurden [...]. Die damaligen Erklärungen zu den Gesetzen, mit denen die Änderungen betreffend die Beendigung des Mandats des Bf. eingeführt wurden, waren nicht sehr detailliert. [...] Zudem wurden weder die Fähigkeit des Bf., seine Funktionen als Präsident des obersten gerichtlichen Spruchkörpers auszuüben, noch sein berufliches Verhalten von den innerstaatlichen Behörden in Frage gestellt.

(150) Was die von der Regierung vorgebrachten Gründe betrifft, scheinen die Änderungen der Funktionen der obersten gerichtlichen Instanz oder der Aufgaben ihres Präsidenten nicht derart grundlegend gewesen zu sein, dass sie Anlass für die vorzeitige Beendigung des Mandats des Bf. sein konnten oder mussten. [...]

(151) Folglich hat es die Regierung nach Ansicht des GH verabsäumt, überzeugend darzulegen, dass die umstrittene Maßnahme durch die Aufhebung der Stelle und der Funktionen des Bf. im Zusammenhang mit der Reform der obersten gerichtlichen Instanz veranlasst wurde. Dementsprechend stimmt der GH dem Bf. darin zu, dass die vorzeitige Beendigung seines Mandats durch seine in amtlicher Funktion öffentlich geäußerten Ansichten und seine Kritik ausgelöst wurde.

(152) Angesichts der obigen Feststellungen kommt der GH zu dem Schluss, dass die vorzeitige Beendigung des Mandats des Bf. als Präsident des Obersten Gerichtshofs einen Eingriff in die Ausübung seines durch Art. 10 EMRK garantierten Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit darstellte. [...]

Zur Rechtfertigung des Eingriffs

(154) Was den individualisierten Charakter des umstrittenen Gesetzes betrifft, hat der GH bereits oben in Rn. 117 und 121 Zweifel geäußert, ob es mit den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips vereinbart werden kann. Der GH wird aber von der Annahme ausgehend fortfahren, dass der Eingriff iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK »gesetzlich vorgesehen« war, da der angefochtene Eingriff aus anderen Gründen gegen Art. 10 EMRK verstößt.

(155) Die Regierung brachte vor, die Beendigung des Mandats des Bf. als Präsident des Obersten Gerichtshofs habe auf die Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK abgezielt. [...]

(156) [...] Ein Staat kann sich nach Ansicht des GH nicht auf die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit berufen, um eine Maßnahme wie die vorzeitige Beendigung des Mandats eines Gerichtspräsidenten aus Gründen, die nicht vom Gesetz festgelegt waren und sich nicht auf irgendein berufliches Unvermögen oder Fehlverhalten bezogen, zu rechtfertigen. [...] Die vorzeitige Beendigung des Mandats des Bf. als Präsident des Obersten Gerichtshofs scheint weniger dem Ziel der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit gedient zu haben, als vielmehr unvereinbar mit diesem Ziel zu sein.

(157) Folglich kann der GH nicht akzeptieren, dass der Eingriff das von der Regierung genannte legitime Ziel [...] verfolgte. Wo nicht gezeigt wurde, dass der Eingriff einem »legitimen Ziel« diente, erübrigt es sich zu prüfen, ob er »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls erachtet es der GH allerdings als wichtig, auch zu prüfen, ob der umstrittene Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

(168) Der GH wiederholt seine Feststellung, wonach der umstrittene Eingriff durch die Ansichten und die Kritik veranlasst wurde, die der Bf. in Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung öffentlich geäußert hatte. Er stellt in dieser Hinsicht fest, dass der Bf. seine Ansichten über die fraglichen Gesetzesreformen in seiner beruflichen Funktion als Präsident des Obersten Gerichtshofs und des Nationalen Justizrats geäußert hatte. Es war nicht nur sein Recht, sondern seine Pflicht als Präsident des Nationalen Justizrats, nach Einholung und Zusammenfassung der Meinungen der unteren Gerichte seine Ansichten über die Gerichtsbarkeit betreffende gesetzliche Reformen auszudrücken. Der Bf. machte auch von seiner Befugnis Gebrauch, einige der relevanten Gesetze vor dem Verfassungsgericht anzufechten und er nutzte zweimal die Möglichkeit, seine Meinung direkt im Parlament zu äußern [...]. Der GH misst daher dem Amt des Bf. besondere Bedeutung zu, dessen Aufgaben und Pflichten auch die Äußerung seiner Ansichten über gesetzliche Reformen einschloss, die Auswirkungen auf die Gerichtsbarkeit und ihre Unabhängigkeit haben konnten. [...]

(170) Der vorliegende Fall ist auch von anderen Fällen zu unterscheiden, in denen es um das öffentliche Vertrauen in die Gerichtsbarkeit und die Notwendigkeit ging, dieses vor destruktiven Angriffen zu schützen. [...]

(171) Vielmehr äußerte der Bf. seine Ansichten und seine Kritik über Verfassungs- und Gesetzesreformen, die die Gerichtsbarkeit betrafen, zu Fragen des Funktionierens und der Reform des Gerichtssystems, der Unabhängigkeit und Unversetzbarkeit von Richtern und der Senkung des Pensionsalters von Richtern. All dies sind Fragen von öffentlichem Interesse. Seine Äußerungen gingen nicht über reine Kritik aus einer strikt professionellen Perspektive hinaus. Dementsprechend verlangten die Stellung und die Äußerungen des Bf., die eindeutig in den Kontext einer Debatte von großem öffentlichen Interesse fielen, einen hohen Grad an Schutz seiner Meinungsäußerungsfreiheit und eine strenge Prüfung jedes Eingriffs mit einem entsprechend engen Ermessensspielraum der Behörden des belangten Staates.

(172) Auch wenn der Bf. als Richter und Vorsitzender einer Zivilkammer der neuen Kúria im Amt blieb, wurde er dreieinhalb Jahre vor dem Ablauf der [...] fixen Amtszeit aus dem Amt des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs entfernt. Das ist kaum vereinbar mit der besonderen Rücksicht, die der Art der Funktion der Gerichtsbarkeit als unabhängiger Zweig der Staatsgewalt zu geben ist, und mit dem Prinzip der Unabsetzbarkeit von Richtern, die [...] ein Schlüsselelement für die Aufrechterhaltung der richterlichen Unabhängigkeit ist. Vor diesem Hintergrund scheint die vorzeitige Absetzung des Bf. als Präsident des Obersten Gerichtshofs entgegen der Behauptung der Regierung den Zweck der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit eher vereitelt als ihm gedient zu haben.

(173) Die vorzeitige Beendigung des Mandats des Bf. hatte zudem ohne Zweifel eine abschreckende Wirkung, indem sie nicht nur ihn, sondern auch andere Richter und Gerichtspräsidenten entmutigen musste, sich in Zukunft an öffentlichen Debatten über Gesetzesreformen, die sich auf die Gerichtsbarkeit auswirken, und allgemeiner über Fragen betreffend die Unabhängigkeit der Justiz zu beteiligen.

(174) Schließlich ist auch der prozessuale Aspekt von Art. 10 EMRK zu beachten. Angesichts der Überlegungen, die ihn zur Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK führten, findet der GH, dass die umstrittenen Einschränkungen der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK durch den Bf. nicht von effektiven und angemessenen Sicherungen gegen Missbrauch begleitet waren.

(175) Selbst unter der Annahme, die von der Regierung geltend gemachten Gründe wären relevant, können sie trotz des den nationalen Behörden zustehenden Ermessensspielraums nicht als ausreichend angesehen werden, um zu zeigen, dass der umstrittene Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

(176) Folglich hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Pejchal und Wojtyczek).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 10 EMRK sowie von Art. 14 iVm. Art. 6 Abs. 1 und Art. 10 EMRK

Die GK erachtet es nicht als notwendig, die Beschwerde gesondert unter Art. 13 iVm. Art. 10 EMRK sowie unter Art. 14 iVm. Art. 6 Abs. 1 und Art. 10 EMRK zu prüfen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 70.000,– für materiellen und immateriellen Schaden; € 30.000,– für Kosten und Auslagen (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Pejchal und Wojtyczek).

Vom GH zitierte Judikatur:

Wille/FL v. 28.10.1999 = NL 1999, 190 = ÖJZ 2000, 647 = EuGRZ 2001, 475

Vilho Eskelinen u.a./FIN v. 19.4.2007 (GK) = NL 2007, 94 = ÖJZ 2008, 35

Olujic/HR v. 5.2.2009 = NL 2009, 34

Kudeshkina/RUS v. 26.2.2009

Roland Dumas/F v. 15.7.2010 = NLMR 2010, 232

Ohneberg/A v. 18.9.2012 = NLMR 2012, 304 = ÖJZ 2013, 429

Harabin/SK v. 20.11.2012

Olexandr Volkov/UA v. 9.1.2013 = NLMR 2013, 11

Morice/F v. 23.4.2015 (GK) = NLMR 2015, 153

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.6.2016, Bsw. 20261/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 267) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_3/Baka.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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