JudikaturJustizBsw11146/11

Bsw11146/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
29. Januar 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Horváth und Kiss gg. Ungarn, Urteil vom 29.1.2013, Bsw. 11146/11.

Spruch

Art. 14 EMRK, Art. 2 1. Prot. EMRK - Unterbringung von Roma-Kindern in Sonderschulen.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der angeblichen Unangemessenheit des Testverfahrens (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. sind zwei junge Roma, bei denen eine geistige Behinderung diagnostiziert wurde. Aufgrund dieser Diagnose wurden sie in einer Sonderschule für geistig behinderte Kinder unterrichtet.

Der 1994 geborene ErstBf. Herr Horváth begann seine Grundschulausbildung auf Vorschlag eines Expertenausschusses an der Göllesz Viktor Sonderschule. Seine Untersuchung war im April 2001 von seinem Kindergarten beantragt worden, da seine geistigen und sozialen Fähigkeiten nicht seinem Alter entsprochen hätten. Die beantragte Untersuchung fand im Mai 2001 statt. Nach verschiedenen Tests ergab sich ein IQ zwischen 64 und 83, wobei der Expertenausschuss auf die Gründe der völlig ungleichen Ergebnisse nicht näher einging. Es wurde eine leichte geistige Behinderung unbekannter Ursache diagnostiziert. Bereits vor der Untersuchung wurden die Eltern des ErstBf. gebeten, das Ergebnis zu unterzeichnen, und wurde ihnen durch den Expertenausschuss mitgeteilt, dass eine Zuweisung zu einer Sonderschule erfolgen werde. In den Jahren 2002, 2005 und 2007 fanden weitere Untersuchungen statt, bei denen die Eltern nicht anwesend sein durften. Obwohl der Expertenausschuss bei der letzten Untersuchung die guten schulischen Leistungen des ErstBf. zur Kenntnis nahm, wurde erneut eine leichte geistige Behinderung festgestellt. Seinen Eltern wurden die Ergebnisse zwar mitgeteilt, jedoch nicht näher erläutert. Es ist unklar, ob sie eine Rechtsmittelbelehrung erhielten.

Der 1992 geborene ZweitBf. Herr Kiss begann seine Grundschulausbildung 1999 in einer gewöhnlichen Grundschule. Im Dezember 1999 beantragte die Schule eine Expertendiagnose aufgrund der angeblich schlechten schulischen Leistungen des ZweitBf. im ersten Viertel des Schuljahres. Im Mai 2000 wurde durch den Expertenausschuss eine leichte geistige Behinderung diagnostiziert. Der IQ lag zwischen 63 und 83, wobei die Diskrepanz der Testergebnisse nicht erläutert wurde. Herr Kiss wurde daraufhin trotz des Widerspruchs seiner Eltern, die keine Rechtsmittelbelehrung erhielten, in der Göllesz Viktor Sonderschule untergebracht. Während seiner Schullaufbahn gewann Herr Kiss mehrere Wettbewerbe und erbrachte ausschließlich sehr gute Leistungen. In den Jahren 2002 und 2005 bewertete der Expertenausschuss Herrn Kiss erneut. Dabei wurde festgestellt, dass trotz guter schulischer Leistungen sein analytisches Denken unterentwickelt sei und er daher weiterhin an der Sonderschule unterrichtet werden solle.

Im Rahmen eines Sommercamps im Jahre 2005 wurden beide Bf. durch unabhängige Experten untersucht, die für keinen der beiden Bf. eine geistige Behinderung  feststellten.

Am 13.11.2006 erhoben die Bf. beim Landesgericht Klage auf Schadenersatz gegen den Expertenausschuss, den örtlichen Kreistag sowie die Sonderschule. Am 27.5.2009 stellte das Gericht fest, dass die gesamte Behandlung der Bf. bezüglich ihrer Ausbildung eine Verletzung ihres Rechts auf Gleichbehandlung darstelle, und ordnete daher für die Bf. eine Entschädigung von jeweils 1.000.000 ungarischer Forinten (HUF) (ca. € 3.400) an.

Dagegen legten die Sonderschule und der Kreistag, nicht aber der Expertenausschuss, Berufung ein. Das Berufungsgericht hob am 5.11.2009 das erstinstanzliche Urteil auf.

Die Bf. legten Revision beim Obersten Gerichtshof ein und brachten vor, dass in Ungarn kein nationaler Standard im Hinblick auf die Erstellung von Diagnosen bestehe. Dieser bestätigte am 11.8.2010 das zweitinstanzliche Urteil dahingehend, dass die Rechte der Bf. auf Gleichbehandlung weder durch die Schule noch den Kreistag verletzt worden seien, sowie das erstinstanzliche Urteil dahingehend, dass der Expertenausschuss – mangels Rechtsmittelbelehrung der Eltern – zur Schadenersatzzahlung in Höhe von je 1.000.000 HUF an die Bf. verpflichtet sei, wovon 300.000 HUF (ca. € 1.020) der Kreistag aufgrund seiner fehlenden Kontrolle über den Expertenausschuss zu leisten habe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung) in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), da ihre Ausbildung in einer Sonderschule eine ethnische Diskriminierung im Hinblick auf ihr Recht auf Bildung darstelle.

Zur Zulässigkeit

Die Regierung bringt vor, dass den Bf. die Opfereigenschaft fehle und sie darüber hinaus weder den innerstaatlichen Instanzenzug ausgeschöpft noch die sechsmonatige Frist zur Beschwerdeerhebung eingehalten hätten.

Im Hinblick auf eine Diskriminierung oder Fehldiagnose bezüglich der Bf. hat der Oberste Gerichtshof das Vorbringen der Diskriminierung oder Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht bestärkt. Er bestätigte insbesondere die Ansichten der unteren Instanzen hinsichtlich der Gesamthaftung der Verantwortlichen, indem er wie das Landesgericht – auch wenn dessen Urteil bezüglich des Expertenausschusses mangels einer Berufung rechtskräftig wurde – feststellte, dass bei der Entscheidung das Verhalten der Schule und des Kreistages in Bezug auf das unrechtmäßige Handeln des Expertenausschusses zu berücksichtigen sei. Im Hinblick auf diese festgestellte Gesamthaftung wird der GH die behaupteten Verletzungen vom gemeinsamen Handeln der Schule, des Kreistages und des Expertenausschusses ableiten. Die Bf. erhielten jedoch nur Schadenersatz aufgrund des Verhaltens des Expertenausschusses, und dies nicht aufgrund einer Diskriminierung. Unter diesen Umständen kommt den Bf. nach Ansicht des GH ein Opferstatus gemäß Art. 34 EMRK zu.

Weiters stellt der GH fest, dass die Bf. vor allen innerstaatlichen Instanzen Beschwerden wegen Diskriminierung und ungleicher Behandlung erhoben haben, einschließlich des Obersten Gerichtshofes, der jedoch im Wesentlichen feststellte, dass der von den Bf. vorgebrachte systemische Missstand im vorliegenden Fall nicht mit innerstaatlichen rechtlichen Maßnahmen beseitigt werden könne. Der GH ist somit der Meinung, dass die Bf. alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft haben.

Die Unangemessenheit des Testverfahrens betreffend nimmt der GH zur Kenntnis, dass die Bf. diesbezüglich eine Beschwerde gegen die Bildungsbehörden hätten einbringen können, was sie jedoch nicht getan haben. Dies kann jedoch nicht als mangelndes Ausschöpfen des innerstaatlichen Instanzenzuges in der Sache selbst angesehen werden.

Aufgrund der gemachten Feststellungen begann die sechsmonatige Frist mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofes am 11.8.2010 und wurde folglich gewahrt.

Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig). Der Beschwerdepunkt über die Unangemessenheit des Testverfahrens muss mangels Ausschöpfens des innerstaatlichen Instanzenzuges als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK

Die Bf. bringen vor, dass die Zuweisung zu einer Sonderschule ihr Recht auf Bildung verletze und gegen das Diskriminierungsverbot verstoße. Demnach ist festzustellen, ob sie ohne sachlichen und nachvollziehbaren Grund einer Schule zugewiesen wurden, wo sie aufgrund des begrenzten Lehrplans schlechter behandelt wurden als Nicht-Roma-Kinder in einer vergleichbaren Situation und dies in ihrem Fall einer indirekten Diskriminierung gleichkam.

Der GH nimmt zur Kenntnis, dass der Großteil der Schüler an der betroffenen Sondergrundschule Roma-Kinder waren und es den Anschein hat, dass in der Vergangenheit Sonderschulen aufgrund der systematischen Fehldiagnosen bezüglich geistiger Behinderung hauptsächlich von Roma besucht wurden. Da dies von der Regierung weder bestritten noch eine andere Statistik als Beweis vorgelegt wurde, betrachtet der GH diese Umstände als herrschenden Trend. Es ist daher zu beurteilen, ob eine generelle Methode oder Maßnahme einen unverhältnismäßig nachteiligen Effekt auf die Roma, eine besonders gefährdete Gruppe, ausübte. Für den GH ist dieser unverhältnismäßige Effekt auch dann erkennbar, wenn die Methode oder das fragliche Testverfahren einen ähnlichen Effekt auch auf andere benachteiligte Gruppen haben könnte. Er akzeptiert zwar das Argument der Bf. nicht, dass die unterschiedliche Behandlung als solche aus einer Situation resultierte, die nur Roma betraf, jedoch ist unbestritten, dass die unterschiedliche und möglicherweise benachteiligende Behandlung bei Roma häufiger vorkam als bei anderen Personen. Die Regierung kann dafür keine nachvollziehbare Rechtfertigung vorbringen und verweist generell auf den schlechten sozialen Hintergrund der Roma.

Auch wenn die Politik und das fragliche Testverfahren nicht besonders auf diese Gruppe abzielte, besteht für den GH dennoch prima facie eine indirekte Diskriminierung. Es ist nun Sache der Regierung zu beweisen, dass im Fall der Bf. die unterschiedliche Behandlung keinen unverhältnismäßig nachteiligen Effekt aufgrund einer allgemeinen, neutral formulierten Maßnahme oder Methode mit sich brachte, und daher die unterschiedliche Behandlung nicht diskriminierend war.

Die Regierung bringt vor, dass die angefochtene Behandlung neutral – auf objektiven Kriterien beruhend – sei und sich aus der unterschiedlichen Behandlung unterschiedlicher Betroffener ergebe, und darüber hinaus das bestehende Bildungsprogramm Schüler mit unterschiedlichen Fähigkeiten begünstige. Der GH akzeptiert, dass das System von Sonderschulen und Förderklassen das Ziel verfolgt, eine Lösung für Kinder mit besonderen Bildungsbedürfnissen zu finden. Er teilt jedoch die Bedenken anderer Institutionen des Europarates bezüglich des begrenzten Lehrplans in diesen Schulen und insbesondere bezüglich der Abschottung, die dieses System hervorruft – auch wenn im vorliegenden Fall die Bf. nicht in ethnisch abgegrenzten Klassen untergebracht waren.

Die ungarischen Behörden haben einige Maßnahmen ergriffen, um Fehldiagnosen bei der Unterbringung von Kindern zu verhindern. Dennoch stellte der Menschenrechtskommissar des Europarats im Jahr 2006 fest, dass weiterhin 20?% der Roma-Kinder in besonderen Klassen untergebracht werden, im Vergleich dazu nur 2?% der ungarischen Kinder. Darüber hinaus zeigte der 2009 veröffentlichte Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz eine hohe Zahl falsch untergebrachter Kinder. Dies gibt Anlass zu Bedenken darüber, ob die bisherigen Maßnahmen ausreichend sind. Darüber hinaus hat die falsche Unterbringung von Roma-Kindern in Sonderschulen eine lange Geschichte innerhalb Europas.

Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass den Staaten eine besondere Verpflichtung zukommt, die Beibehaltung der diskriminierenden Maßnahmen, die sich hinter den angeblich neutralen Tests verbergen, zu verhindern.

Während der GH im vorliegenden Fall nicht die strukturellen Probleme der voreingenommen durchgeführten Tests untersucht, da dieser Beschwerdepunkt als unzulässig zurückgewiesen werden musste, ist es dennoch die Pflicht des Staates zu zeigen, dass diese Tests und ihre Anwendung die schulische Eignung und die mentalen Fähigkeiten der Bf. fair und objektiv feststellen konnten.

Die ungarischen Behörden setzten den Grenzwert für eine geistige Behinderung bei einem IQ von 86 fest, wesentlich höher als die Empfehlung der WHO mit einem IQ von 70. Der Expertenausschuss stellte unterschiedliche Messwerte bei Herrn Horváth fest, die zwischen einem IQ von 61 und 83 lagen. Die Werte von Herrn Kiss lagen zwischen 63 und 83. In dem Test, der während des Sommercamps stattfand, erreichte Herr Horváth einen IQ von 83 und Herr Kiss einen IQ von 90.

Der GH kann keine Stellung zu der Tatsache beziehen, dass IQ-Werte die einzigen Anhaltspunkte für eine Schuleignung darstellten. Er beurteilt es jedoch als beunruhigend, dass die nationalen Behörden wesentlich von den WHO-Standards abwichen.

Weiters geben die mit den Bf. durchgeführten Tests Anlass zu Diskussionen und sind weiterhin Gegenstand  wissenschaftlicher Untersuchungen. Es ist nicht die Aufgabe des GH, die Gültigkeit solcher Tests zu beurteilen. Es ist nur zu klären, ob ein Bemühen um ein nicht-diskriminierendes Testverfahren bestand. Es sprechen jedoch zahlreiche Faktoren dafür, dass den Bf. bezüglich ihrer Testergebnisse nicht die notwendigen Schutzmechanismen gegen eine Fehldiagnose zur Verfügung standen, die sich aus der Verpflichtung des Staates in einer Situation ergeben, in der ein historischer Hintergrund bezüglich der Diskriminierung von Kindern ethnischer Minderheiten besteht.

Zunächst nimmt der GH zur Kenntnis, dass es zwischen den Parteien unbestritten ist, dass alle untersuchten Kinder denselben Test absolvierten, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Die Regierung räumt ein, dass zumindest ein Teil des Testverfahrens aus kulturellen Gründen voreingenommen durchgeführt wurde. Darüber hinaus wurden einige der auf die Bf. angewandten Tests von unabhängigen Experten als veraltet angesehen.

Unter diesen Umständen besteht nach Ansicht des GH letztendlich die Gefahr, dass die Tests aus kulturellen Gründen voreingenommen durchgeführt wurden. Es ist daher festzustellen, welche Schutzmechanismen vorlagen, durch die die Behörden bei ihrer Prüfung besondere Charaktermerkmale der Bf. im Hinblick auf das hohe Risiko einer diskriminierenden Fehldiagnose oder falschen Unterbringung hätten berücksichtigen können.

Der GH verweist in diesem Zusammenhang auf die durch das Landesgericht festgestellten Tatsachen, die im Berufungsverfahren nicht bestritten wurden. Danach hat es der Expertenausschuss versäumt, die Diagnosen der Bf. zu individualisieren oder die Gründe für deren besondere Bildungsbedürfnisse näher auszuführen, und dadurch die Rechte der Bf. auf Gleichberechtigung verletzt. Darüber hinaus wurden die für die Unterbringung zuständigen sozialen Einrichtungen dauernd neu organisiert. In dieser Hinsicht wurden nach Ansicht des GH die für die Arbeitsweise des Expertenausschusses notwendigen Bedingungen nicht erfüllt. Folglich konnten der Expertenausschuss und der Kreistag nicht die notwendigen Schutzmechanismen gegen eine für Roma besonders wahrscheinliche falsche Unterbringung liefern. Nach einer Analyse des geltenden Rechts kamen das Berufungsgericht und der Oberste Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass vor 2003 zu Kindern mit besonderen Bildungsbedürfnissen auch Schüler mit psychischen Entwicklungsstörungen (Lernschwächen) zu zählen waren. Es ist nicht geklärt, ob die Bf. unter einer geistigen Behinderung litten, die nicht innerhalb des normalen Bildungssystems mit zusätzlicher Unterstützung zur Bewältigung des normalen Lehrplans hätte berücksichtigt werden können. Aufgrund von Gesetzesänderungen bestand nach Ansicht der Gerichte von 1.1. bis 1.9.2007 keine eindeutige Gesetzeslage. Im Hinblick auf diese Feststellungen ist es schwierig anzunehmen, dass ein geeigneter Schutzmechanismus zur Gewährleistung der richtigen Unterbringung der Bf. bestand. Daher können die fraglichen Tests, unabhängig davon, ob sie voreingenommen durchgeführt wurden, nicht als Rechtfertigung für die angefochtene Behandlung bezeichnet werden.

Die elterliche Zustimmung betreffend erkennt der GH das Vorbringen der Regierung an, dass diesbezüglich eine Verletzung des Rechts auf Bildung bestand und im nationalen Verfahren angemessene Rechtsbehelfe vorgesehen waren. Im Fall von Herrn Kiss haben die fehlende Beteiligung der Eltern und deren ausdrücklicher Widerspruch gegen die Unterbringung jedoch zur Diskriminierung beigetragen.

Der GH nimmt zur Kenntnis, dass die Schaffung eines geeigneten Bildungsprogrammes für geistig behinderte oder lernschwache Schüler, insbesondere für Roma, sowie die Auswahl einer bestimmten Schule für eine Person keine leichte Aufgabe darstellen, da das richtige Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden Interessen gefunden werden muss. Das Aufstellen des Lehrplans richtet sich hauptsächlich nach der Zweckmäßigkeit, worüber der GH nicht entscheidet. Wenn staatliches Ermessen geeignet ist, in ein Konventionsrecht einzugreifen, sind die dem Einzelnen zur Verfügung stehenden prozessrechtlichen Schutzmechanismen besonders ausschlaggebend.

Die Tatsachen des vorliegenden Falles weisen darauf hin, dass die Maßnahmen, die die schulische Unterbringung von Roma mit angeblicher leichter geistiger Behinderung betrafen, keine geeigneten Schutzmechanismen beinhalteten, die gewährleisteten, dass der Staat bei seiner Ermessensausübung im Bildungsbereich die besonderen Bedürfnisse von Roma als einer benachteiligten Gruppe berücksichtigte. Weiters wurden die Bf. in Schulen für geistig behinderte Kinder mit einem gegenüber gewöhnlichen Schulen begrenzten Lehrplan untergebracht, wo sie von der übrigen Bevölkerung isoliert waren. Folglich beinhaltete ihre Ausbildung nicht die notwendigen Schutzmechanismen, die sich aus der Verpflichtung des Staates ergeben, eine Abschottung in Sonderschulen aus Gründen der Rasse zu verhindern. Die Ausbildung der Bf.  könnte deren Schwierigkeiten verstärkt und deren Entwicklung beeinträchtigt haben  anstatt sie dabei zu unterstützen, sich an einer gewöhnlichen Schule zu integrieren und Fähigkeiten zu entwickeln, die das Leben im Großteil der Bevölkerung erleichtern würden.

Der GH sieht mit Interesse, dass die neue Gesetzgebung darauf abzielt, lernschwache Schüler nicht Sonderschulen zuzuweisen und für Schüler mit besonderen Bildungsbedürfnissen, sozial unterentwickelte Kinder miteingeschlossen, eine Ausbildung in gewöhnlichen Schulen vorsieht, was die Verringerung der statistisch hohen Rate von Roma an Sonderschulen ermöglicht. Dieser Integrationsprozess erfordert den Gebrauch eines modernen Testverfahrens. Im vorliegenden Fall untersucht der GH jedoch nicht die Geeignetheit von Bildungstests wie solcher in Ungarn.

Da sich herausgestellt hat, dass die relevante Gesetzgebung, die in der fraglichen Zeit galt, einen unverhältnismäßig nachteiligen Effekt auf die Gruppe der Roma hatte und dass der Staat in einem prima facie-Fall von Diskriminierung nicht bewiesen hat, dass er die benötigten Schutzmechanismen gegen Fehldiagnosen oder falsche Unterbringung der Bf. bereitgestellt hat, stellt der GH fest, dass die Bf. eine diskriminierende Behandlung erleiden mussten. Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK  (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 4.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Valsamis/GR v. 18.12.1996 = NL 1997, 18 = ÖJZ 1998, 114

D.H. u.a./CZ v. 13.11.2007 (GK) = NL 2007, 299 = EuGRZ 2009, 90

Oršuš u.a./HR v. 16.3.2010 (GK) = NL 2010, 96

Alajos Kiss/H v. 20.5.2010 = NL 2010, 166

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.1.2013, Bsw. 11146/11 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 29) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_1/Horvath.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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