JudikaturJustiz1Ob61/22k

1Ob61/22k – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. April 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj J*, vertreten durch Dr. Alexander Katholnig, Rechtsanwalt in Kitzbühel, gegen die beklagte Partei A*, vertreten durch Mag. Christian Fuchs, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 11.519,10 EUR sowie Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 18. Februar 2022, GZ 5 R 7/22y 100, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Kitzbühel vom 20. Oktober 2021, GZ 1 C 149/18m 96, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Die Beklagte veranstaltete anl ässlich einer Kindergeburtstagsfeier ihrer sechsjährigen Tochter ein Spiel, bei dem die eingeladenen fünf- bis sechsjährigen Kinder abwechselnd versuchen sollten, eine mit Überraschungen gefüllte, mit einer Schnur über ihren Köpfen befestigte Figur aus Karton bzw Pappmasché („Piñata“) zu zerschlagen. Als Schlaginstrument wurde ein durch einen Schraubmechanismus verstellbarer Teleskop-Wanderstock mit einem Gummiaufsatz an der Spitze verwendet. Nachdem es den Kindern nicht gelang, die Piñata damit zu zerstören, versetzte ihr die Beklagte – ohne die Verschraubung des Stocks erneut zu prüfen – einen Schlag, wobei sich dessen unterer Teil löste und die als Gast anwesende Klägerin im Augenbereich verletzte .

[2] Die Klägerin begehrt den Ersatz der ihr dadurch entstandenen Schäden sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schadensfolgen.

[3] Das Berufungsgericht änderte das Teilzwischenurteil, mit dem das Erstgericht das Zahlungsbegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte, dahin ab, dass es die Klage zur Gänze abwies, weil nicht festgestellt werden konnte, ob das Ablösen des unteren Teils des Wanderstocks darauf zurückzuführen war, dass dessen Schraubmechanismus defekt war, dieser von der Beklagten zu Beginn des Spiels nicht ausreichend fest angezogen oder währenddessen irrtümlich gelockert wurde. Die Beklagte hafte für keine dieser theoretisch in Betracht kommenden Schadensursachen.

[4] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Streitgegenstands zweiter Instanz 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

[5] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Klägerin zeigt keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.

Rechtliche Beurteilung

[6] 1. Sorgfaltspflichten dürfen grundsätzlich nicht überspannt werden (vgl RIS Justiz RS0023487; RS0022778 [T10, T11, T33]). Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfalt die Erkennbarkeit bzw Vorhersehbarkeit der drohenden Gefahr voraus (vgl RS0023801; RS0022778 [T9, T26, T27]; RS0023487 [insb T5, T12, T14]), wobei es maßgeblich auf die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung ankommt (RS0023487 [T6, T7]; RS0022778 [T24]). Die Beurteilung des konkreten Umfangs einer Sorgfaltspflicht hängt jeweils von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet daher regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO (vgl RS0023487 [T20]).

[7] 2. Dass der Beklagten nicht per se vorgeworfen werden kann, für das Piñata-Spiel einen Teleskop-Wanderstock verwendet zu haben, wurde bereits im ersten Rechtsgang zu 1 Ob 215/20d dargelegt. Eine Haftung käme daher nur in Betracht, wenn sie den Schraubmechanismus vor Beginn des Spiels nicht ausreichend festgezogen hätte oder dieser defekt war bzw während des Spiels (irrtümlich) gelockert wurde und ihr dies bei entsprechender Sorgfalt auffallen hätte müssen. Da die konkrete Ursache dafür, dass sich der untere Teil des Wanderstocks beim Schlag der Beklagten löste (und die Klägerin im Gesicht traf), nicht feststeht, den Geschädigten aber die Beweislast für die objektive Pflichtverletzung des Schädigers trifft (vgl RS0037797 [T27]; RS0022560 [T20]; siehe auch RS0023498 [T9]: RS0026290 [T1] und RS0026338 [T1] zu vertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten), könnte eine Haftung der Beklagten nur dann angenommen werden, wenn jede der (drei) theoretisch möglichen Ursachen für das „Ablösen“ eines Teils des Stocks auf einer objektiven Sorgfaltspflichtverletzung beruhen würde, was das Berufungsgericht in unbedenklicher Weise verneint hat.

[8] 3.1. Dafür, dass ein allfälliger (vom Erstgericht nicht festgestellter) Defekt des Schraubmechanismus des Wanderstocks für die Beklagte erkennbar gewesen wäre, gibt es keine Anhaltspunkte. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach es auch unter der Annahme, dass dieser Mechanismus defekt war, nicht objektiv sorgfaltswidrig gewesen wäre, dass sie den Stock ohne dessen eingehende „Untersuchung“ für das Spiel verwendete, begründet daher keine im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung. Allein daraus, dass sich die Beklagte den („nicht alt aussehenden“) Stock von einer Nachbarin ausgeborgt hatte und dessen „Zustand“ nicht genau kannte, würde noch keine Verpflichtung zur „eingehenden“ Untersuchung des Schraubmechanismus, der „von außen bzw beim Fixieren […]“ keinen auffallenden Defekt erkennen ließ, resultieren.

[9] 3.2. Es begegnet auch keinen Bedenken, dass das Berufungsgericht darin, dass die Beklagte den Stock nicht unmittelbar vor ihrem Schlag darauf prüfte, ob sich der Schraubmechanismus zwischenzeitig gelockert hat (was ebenfalls nicht feststeht, aber als weitere theoretische Schadensursache in Betracht kommt), keine solche Sorgfaltswidrigkeit erblickte, steht doch fest, dass die vorhergehende Beanspruchung durch die Kinder nicht geeignet war, die Verschraubung zu lockern; dem Sachverhalt ist auch nicht zu entnehmen, dass für die Beklagte konkrete Anhaltspunkte bestanden hätten, dass die Verschraubung sonst von den Kindern gelockert worden wäre, was die Revisionswerberin auch gar nicht behauptet.

[10] 3.3. Da nicht feststeht, welche der drei denkbaren Schadensursachen sich tatsächlich verwirklicht hat, und die Beklagte zumindest für zwei mögliche Schadensursachen nicht haften würde, muss auf die dritte theoretisch denkbare Ursache für die Verletzung der Klägerin (die unzureichende Verschraubung des Wanderstocks durch die Beklagte vor Beginn des Spiels) nicht weiter eingegangen werden,

[11] 4. Der Vorwurf der Revisionswerberin, das Berufungsgericht hätte die erstinstanzlichen Feststellungen ohne ergänzende Beweisaufnahme abgeändert, ist nicht nachvollziehbar. Ein Abweichen vom erstinstanzlichen Sachverhalt oder dessen unrichtige bzw „verzerrte“ Wiedergabe ist nicht ersichtlich. Die in diesem Zusammenhang behauptete Aktenwidrigkeit sowie eine – auf die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gestützte – Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegen nicht vor.

[12] 5. Daraus, dass der Oberste Gerichtshof im ersten Rechtsgang (zu 1 Ob 215/20d) darauf hinwies, dass die Teilnahme der Klägerin am Piñata-Spiel jedenfalls kein „echtes“ Handeln auf eigene Gefahr begründe, was nur bei einer festgestellten Sorgfaltspflichtverletzung der Beklagten eine Rolle spielen könnte, kann entgegen der Ansicht der Revisionswerberin keine Haftung der Beklagten abgeleitet werden. Ihr Argument, die Beklagte hätte die Verletzung der Klägerin unabhängig von einer Sorgfaltspflichtverletzung zu vertreten, würde zu einer vom Verschulden (und Handlungsunrecht) losgelösten Haftung führen (vgl RS0022778 [T10, T11]; RS0023487 [T2, T10]).

[13] 6. Wenn die Klägerin der Beklagten auch in dritter Instanz vorwirft, sie habe den gebotenen Sicherheitsabstand nicht eingehalten, um die Klägerin vor einer Verletzung durch ein Ablösen und Wegschleudern des unteren Teils des Wanderstocks zu schützen, übersieht sie, dass nicht feststeht, dass eine solche Gefahr für die Beklagte bei gebotener Sorgfalt vorhersehbar gewesen wäre.