JudikaturVwGhRa 2023/20/0474

Ra 2023/20/0474 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
24. April 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. M. Mayr als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann Preschnofsky, in der Rechtssache der Revision der K K in W, vertreten durch Mag. Thomas Egerth, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stubenring 16/14a, dieser vertreten durch Mag.a Sarah Moschitz Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Frauengasse 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. August 2023, W231 2269046 1/6E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in den Rechtssachen C 608/22 und C 609/22 über die mit den Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes jeweils vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

1 Die Revisionswerberin, eine am 20. August 2022 in Wien geborene Staatsangehörige Afghanistans, stellte vertreten durch ihre Mutter am 20. Jänner 2023 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2 Mit Bescheid vom 13. Februar 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte der Revisionswerberin jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit der Gültigkeit bis 20. August 2023.

3 Die gegen die Versagung der Gewährung von Asyl erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revisionswerberin im Bundesgebiet als Tochter afghanischer Staatsangehöriger geboren sei. Sie sei afghanische Staatsangehörige, sei jedoch selbst nie in Afghanistan gewesen. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerberin bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Entscheidungszeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuelle, konkret gegen ihre Person gerichtete Bedrohung oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Gesinnung durch staatliche Organe oder durch Privatpersonen drohe. Die Revisionswerberin sei auch nicht von Maßnahmen im Sinn der genannten Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022 betroffen.

5 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin die gegenständliche Revision. Sie macht unter Hinweis auf die beim Gerichtshof der Europäischen Union zu den Zlen. C 608/22 und C 609/22 anhängigen Verfahren, die auf die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028) zurückgehen, u.a. geltend, dass eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darin liege, ob die Revisionswerberin infolge der Machtübernahme durch die Taliban aufgrund ihres Geschlechtes durch die massive Einschränkung der Rechte der Frauen und Mädchen einer asylrelevanten Verfolgung im Herkunftsland ausgesetzt sei. Das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht jede Möglichkeit der Verfolgung allein aufgrund des Kleinkindalters der Revisionswerberin ausgeschlossen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten vorgelegte Revision das Vorverfahren eingeleitet. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

7 Mit den Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,

- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

- der Zugang zu Bildung gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) verwehrt wird, sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben, keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen in ihrer Kumulierung zu betrachtenden Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“

8 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union, der dem Verwaltungsgerichtshof mitgeteilt hat, dass er die beiden bei ihm unter den Zlen. C 608/22 und C 609/22 registrierten Verfahren zur gemeinsamen Verfahrensführung und Entscheidung verbunden hat (vgl. VwGH 19.1.2023, Ra 2022/20/0201 bis 0204), kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat auszusetzen war (vgl. VwGH 9.5.2023, Ra 2022/20/0342, mwN).

Wien, am 24. April 2024

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