JudikaturJustizBsw74839/10

Bsw74839/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. Juli 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Mudric gg. Moldawien, Urteil vom 16.7.2013, Bsw. 74839/10.

Spruch

Art. 3, 14 EMRK - Nichtverfolgung häuslicher Gewalt aufgrund Gender basierter Diskriminierung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK und Art. 14 iVm. Art. 3 EMRK und iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 3 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden; € 2.150,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist moldawische Staatsangehörige, wurde 1939 geboren und lebt in Lipcani. Sie hatte sich zweiundzwanzig Jahre vor den jetzt relevanten Ereignissen von ihrem Mann A.M. scheiden lassen. Seither lebte sie zwar in ihrem eigenen Haus, doch grenzte dieses direkt an das Haus des Ex-Mannes. Dieser hatte nach einer Kopfverletzung aus dem Jahr 1965 eine Schizophrenie entwickelt und im Jahr 1981 angefangen zu glauben, dass seine Frau ihn vergiften wolle. Er begann sie daraufhin körperlich zu misshandeln, indem er sie wiederholt schlug. Von Juni bis September 1987 war er stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt worden und es war paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden. Danach wurde er psychiatrisch überwacht und unterzog sich fünf weitere Male einer psychiatrischen Behandlung, wobei jedes Mal dieselbe Diagnose wie beim ersten Mal gestellt wurde. Die letzte Behandlung fand im Jahr 2004 statt.

Am 31.12.2009 brach der Ex-Mann der Bf. in ihr Haus ein und schlug sie. Zwei Monate später geschah dasselbe nochmals und nach dem Angriff blieb der Ex-Mann dauerhaft im Haus der Bf. Sie suchte ab und zu Zuflucht bei ihren Nachbarn. Nach der zweiten Attacke wurde ihr durch einen medizinischen Befund bestätigt, dass sie körperlich misshandelt worden war. Mit diesem Befund und mit Hilfe ihres Anwalts ersuchte die Bf. die örtliche Polizei sowie auch den Staatsanwalt mehrmals um Hilfe, doch nichts geschah. Sie beschwerte sich daraufhin bei anderen Behörden, dass die Polizei untätig geblieben war. Nachdem sie einen Monat später erneut von ihrem Ex-Mann zusammengeschlagen worden war und dies wieder bei der Polizei meldete, sah diese die Vorkommnisse als erwiesen an, schritt aber nicht ein, da ihr Ex-Mann geisteskrank sei und deswegen nicht bestraft werden könne.

Erst im Juni des Jahres 2010 wurde ein Untersuchungsverfahren wegen des Einbruchs im Februar eingeleitet, die körperliche Gewalt gegen die Ex-Frau wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Ende Juni wurde dann ein Betretungsverbot für das Haus sowie ein Näherungsverbot gegenüber dem Ex-Mann verhängt. Diese Verbote wurden allerdings nicht durchgesetzt. Die Bf. wurde daraufhin wieder von ihrem Ex-Mann geschlagen. Auch ein zweites Betretungs- und Näherungsverbot wurde nicht durchgesetzt. Im August wurde ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen den Ex-Mann eingeleitet, weil er sich nicht an das Betretungsverbot gehalten hatte, dieses Verfahren wurde mit jenem von dem Einbruch zusammengeführt. Im Oktober übergab der Staatsanwalt den Fall an das Gericht, um festzustellen, ob der Ex-Mann wieder psychiatrisch behandelt werden sollte. Im November kamen zwei lokale Polizisten, V.V. und R.P., und ein Sozialhelfer für ein Gespräch in das Haus der Bf., das der Ex-Mann noch immer nicht verlassen hatte. Er weigerte sich auch im Gespräch mit den Polizisten, das Haus zu verlassen und wollte auch nicht unterschreiben, dass er zukünftige Gewalttaten unterlassen werde. Daraufhin wurde die Bf. im Dezember 2010 wieder misshandelt und das Gericht verhängte dieselben Verbote wie zweimal zuvor. Das Gericht hielt fest, dass die Polizei nach der Misshandlung zwar zum Haus der Bf. kam, aber nur eine Verwaltungsstrafe gegen den Ex-Mann wegen absichtlicher Zerstörung von Eigentum verhängte und nichts gegen die Körperverletzung unternahm.

Im Jänner 2011 verurteilte das Bezirksgericht Ocni?a den Ex-Mann wegen Einbruchs, sprach ihn aber in strafrechtlicher Verantwortung frei, weil er die Tat im Zustand von Geisteskrankheit begangen hätte.

Am 24.01.2011 wurde der Ex-Mann von der Polizei in eine psychiatrische Anstalt überstellt. Die Staatsanwaltschaft unterließ jegliche Untersuchung wegen der von der Bf. zur Anzeige gebrachten Anschuldigung gegen die beiden Polizisten V.V. und R.P., die sie als Beitragstäter der Körperverletzung beschuldigte, weil diese von ihrer Situation wussten und fast zwei Jahre nichts unternommen hatten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt, dass der Staat seiner positiven Verpflichtung gemäß Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), sie vor der häuslichen Gewalt zu schützen, nicht nachgekommen sei. Außerdem sieht sie sich in ihrem Recht nach Art. 14 (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 3 und Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verletzt, da die lokale Polizei die moldawischen Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt nicht durchgesetzt habe, weil sie ein klischeehaftes und vorgefertigtes Bild von Frauen und deren Rolle in der Familie hätte.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Der GH hält fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet im Sinne des Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK ist und dass sie auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Deswegen muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur Frage, ob die Bf. einer dem Art. 3 EMRK entgegenstehenden Behandlung ausgesetzt wurde, hält der GH fest, dass die Bf. zweimal medizinisches Zeugnis davon erhalten hat, dass sie von ihrem Ex-Mann geschlagen wurde. Außerdem stellten die lokale Polizei und die Gerichte fest, dass sie weitere Male von ihrem Mann attackiert worden war. Die Angst vor weiteren Angriffen des Ex-Mannes war ernst genug, um bei der Bf. Angst und Leiden in dem Umfang hervorzurufen, dass es als unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bezeichnet werden kann. Der GH erklärt Art. 3 EMRK daher im vorliegenden Fall für anwendbar.

Zur Frage, ob die lokalen Behörden ihren positiven Verpflichtungen nach Art. 3 EMRK nachgekommen sind, ist festzuhalten, dass es dem Staat nach Art. 3 EMRK einerseits obliegt, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um der Misshandlung von Privatpersonen vorzubeugen und diese unter Strafe zu stellen, sowie andererseits, bei einem akuten Risiko der Misshandlung einer Privatperson oder wenn bereits eine Misshandlung erfolgte, die betreffenden Gesetze in der Praxis anzuwenden, und so den Opfern Schutz zu bieten und die Verantwortlichen zu bestrafen.

Hinsichtlich des rechtlichen Rahmens gibt es im moldawischen Gesetz  spezielle Normen, die Gewaltakte auch gegen (frühere) Familienmitglieder verbieten. Außerdem enthält das Gesetz Schutzmaßnahmen für Opfer von Gewaltakten und Sanktionen für die Personen, die sich nicht an gerichtlich verhängte Schutzmaßnahmen halten. Der GH befindet, dass der Staat  rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen hat, die es erlauben, gegen Personen, die in Verdacht von Gewaltakten gegen Familienmitglieder stehen, vorzugehen.

Der GH versucht im Folgenden festzustellen, ob die lokalen Behörden von der Gewalt, der die Bf. ausgesetzt war, und dem Risiko von weiteren Gewaltakten wussten bzw. hätten wissen müssen und ob alle angemessenen Maßnahmen, um die Bf. zu schützen und den Täter zu bestrafen, getroffen wurden. Bei der Untersuchung, ob die lokalen Behörden ihrer positiven Verpflichtung nach Art. 3 EMRK nachgekommen sind, hält der GH fest, dass er die nationalen Behörden bei der Auswahl der geeigneten Maßnahme zum Schutz vor häuslicher Gewalt nicht ersetzt.

Es geht aus verschiedenen Dokumenten hervor, dass den lokalen Behörden die langwierige psychische Erkrankung des Ex-Mannes der Bf. bekannt war. Er wurde von einem Psychiater überwacht und galt als gefährlich. Außerdem war bekannt, dass er speziell seiner Ex-Frau gegenüber sehr negativ eingestellt war und sie verdächtigte, ihn vergiften zu wollen. Diese Faktoren alleine sprechen nicht automatisch für eine Gefahr für das körperliche Wohlbefinden der Bf., aber spätestens als der Ex-Mann im Dezember in ihr Haus einbrach und sie misshandelte, wurde die Gefahr für die lokalen Behörden, die darüber informiert wurden, sehr klar. Deswegen ist im Folgenden zu prüfen, ob die für die Bf. getroffenen Schutzmaßnahmen ausreichend waren und die positiven Verpflichtungen nach Art. 3 EMRK erfüllten.

Das Gericht hält fest, dass die Bf. zum relevanten Zeitpunkt eine alleinstehende, 72-jährige Frau war. Daraus ergibt sich, dass sie besonders verletzlich für Attacken ihres Ex-Mannes war. Er brach in ihr Haus ein und verblieb dort für über ein Jahr, sodass er jederzeit die Möglichkeit hatte, sie zu misshandeln und die Bf. oft Zuflucht bei ihren Nachbarn suchen musste. Der GH hält das Risiko für das psychische und physische Wohlbefinden der Bf. für unmittelbar und ernst genug, dass es eines raschen Handelns der Behörden bedurfte. Die nationalen Behörden hätten ihren Ex-Mann bis Dezember 2009 wegen mindestens drei Straftaten anklagen können: Körperverletzung bzw. die Androhung einer solchen Verletzung, Einbruch und Missachtung des vom Gericht verhängten Näherungsverbotes. All diese Gründe hätten es den nationalen Gerichten erlaubt, sofort zu handeln, entweder durch strafrechtliche Sanktionen oder, wie es dann schlussendlich doch passiert ist, durch die Einweisung des Ex-Mannes in eine psychiatrische Anstalt.

Ihr Handeln ist als nicht effektiv zu bewerten, da sie nicht verhindert haben, dass der Ex-Mann über ein Jahr nach der Beschwerde der Bf. in ihrem Haus verblieb. Die Behörden brauchten sechs Monate, um das Ermittlungsverfahren wegen Einbruchs und acht Monate, um das Verfahren über die Nichteinhaltung des Näherungs- und Betretungsverbotes einzuleiten. Wegen der gewalttätigen Angriffe selbst wurde überhaupt kein Verfahren eingeleitet.

Außerdem war die Weigerung des Ex-Mannes, die Verbote zu befolgen, derart klar und beharrlich, dass die Gerichte zwei weitere Verbote verhängen mussten. Dennoch hat die lokale Polizei die Urteile nicht exekutiert und den Ex-Mann nicht vom Grundstück entfernt – im Gegenteil, die Polizei informierte die Bf., dass solcherlei Handeln nicht in ihrer Kompetenz läge. Erst am 24.1.2011 wurde er von der Polizei entfernt.

Am Ende wurde der Ex-Mann für geisteskrank befunden, doch diese Erkenntnis und die Zwangseinweisung hätten viel früher stattfinden können, hätten die Ermittlungen früher begonnen. Es gibt keine akzeptable Entschuldigung, weder im Akt selbst noch in der Stellungnahme der Regierung, warum dies ein Jahr lang nicht geschah.

Der GH befindet, dass die Art, wie die lokalen Behörden den Fall gehandhabt haben, vor allem die langen, unerklärten Verzögerungen bei der Durchsetzung des Näherungs- und Betretungsverbotes und der Unterwerfung des Ex-Mannes unter medizinische Behandlung, eine Verletzung ihrer positiven Verpflichtungen nach Art. 3 EMRK darstellt. Deswegen liegt hier eine Verletzung des besagten Artikels vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 3 und Art. 8 EMRK

Der GH hält fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet im Sinne des Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK und auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Deswegen muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Im vorliegenden Fall bezieht sich der GH auf die vorangehenden Feststellungen, dass die Bf. oft der Gewalt des Ex-Mannes ausgesetzt war und die Behörden davon wussten. Weiters hält er fest, dass der Ex-Mann über ein Jahr im Haus der Bf. leben durfte und dass von den Gerichten drei Näherungs- und Betretungsverbote ausgesprochen werden mussten, die zudem niemals durchgesetzt wurden. Außerdem weigerte sich der Ex-Mann offen vor den lokalen Polizeibeamten und den Sozialarbeitern, schriftlich anzuerkennen, dass er gewarnt worden war, der Bf. nicht zu schaden und wiederholte seine gewalttätigen Handlungen gegen sie. Obwohl es Verdacht für einige Gesetzesverletzungen gab, die die Einleitung eines Strafverfahrens und daher eine Unterwerfung des Ex-Mannes unter eine psychiatrische Untersuchung zur Entscheidung, ob er einer psychiatrischen Zwangsbehandlung unterzogen werden solle, ermöglicht hätten, brauchten die Behören fast ein Jahr, um das zu tun.

In den Augen des GH zeigt die Kombination der obigen Faktoren, dass es sich hier nicht bloß um ein Versäumnis oder eine Verzögerung bei der Behandlung der Gewalt gegen die Bf. durch die Behörden handelte, sondern, dass diese das gewalttätige Verhalten wiederholt tolerierten und dass dies eine diskriminierende Haltung der Bf. als Frau gegenüber zeigt. Die Erkenntnisse des UN-Sonderberichterstatters zu Gewalt gegen Frauen im Bericht über Moldawien unterstützen noch den Eindruck, dass die Behörden die Schwere und das Ausmaß des Problems häuslicher Gewalt und den diskriminierenden Effekt auf Frauen nicht ernst nehmen. Der GH sieht daher im vorliegenden Fall eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 3  EMRK als gegeben (einstimmig).

Die Beschwerde unter Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK wirft kein gesondertes Problem auf und ist deswegen nicht eigens zu untersuchen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 17 EMRK

Die Bf. rügte das Versäumnis der lokalen Behörden, dem gewalttätigen Verhalten des Ex-Mannes aufgrund von dessen Geisteskrankheit Einhalt zu gebieten, wodurch er die Möglichkeit hatte, ihre Rechte aus der Konvention straflos zu verletzen. Der GH befindet diese Beschwerde nach Durchsicht der Materialien als unbegründet. Dieser Teil der Beschwerde ist daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden, € 2.150,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Opuz/TR v. 9.6.2009 = NL 2009, 154

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.7.2013, Bsw. 74839/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 265) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_4/Mudric.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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