JudikaturJustizBsw60457/00

Bsw60457/00 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
05. Februar 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Kosmopoulou gegen Griechenland, Urteil vom 5.2.2004, Bsw. 60457/00.

Spruch

Art. 8 EMRK - Besuchsrecht einer nicht obsorgeberechtigten Mutter. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 10.000,- für immateriellen Schaden, EUR 6.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. trennte sich im November 1997 von ihrem Ehemann und zog nach Großbritannien. Die 1988 geborene gemeinsame Tochter blieb bei ihrem Vater in Griechenland. Auf Antrag des Vaters wurde ihm vom Athener Gericht erster Instanz am 2.5.1997 vorläufig und am 12.1.1998 endgültig die alleinige Obsorge übertragen.

Am 6.6.1997 wurde der Bf. ein vorläufiges Besuchsrecht eingeräumt, das jedoch auf Antrag des Kindesvaters bereits am 10.6.1997 wieder ausgesetzt wurde. Ein psychologisches Gutachten vom 26.6.1997 empfahl eine vorübergehende Aussetzung des Kontakts zwischen der Bf. und ihrer Tochter. Die Gutachter hatten die Tochter und ihren Vater, nicht jedoch die Bf. befragt.

Am 30.7.1997 entschied das Athener Gericht erster Instanz, dass die Tochter der Bf. einen Tag pro Woche und einige Tage in den Schulferien bei ihrer Mutter verbringen sollte. Das Gericht hielt in seinem Urteil fest, dass die Mutter, nachdem sie die gemeinsame Wohnung 1996 verlassen und sich in England niedergelassen hatte, erst nach etwa einem Monat ihre Tochter kontaktiert hätte. Diese war völlig verzweifelt gewesen, weil sie die lange Abwesenheit ihrer Mutter nicht verstehen konnte. Als sie am 17.12.1996 ihre Mutter in einem Hotel in Bristol besuchte, wäre sie von dieser alleine im Hotelzimmer zurückgelassen worden, wodurch sie starke Gefühle der Angst und Unsicherheit erlitten hätte.

Nachdem die Bf. im August 1997 einen Tag mit ihrer Tochter verbracht hatte, weigerte sich diese bei den nächsten Besuchsterminen, bei ihrer Mutter zu bleiben. Nachdem sie sich auch am 23.8.1997 weigerte, im Haus der Bf. zu bleiben, wurden beide auf eine Polizeistation gebracht. Dort versetzte die Bf. ihrer Tochter unter ungeklärten Umständen einen Fußtritt und riss sie an den Haaren. In Folge dessen wurde der Bf. auf Antrag des Kindesvaters das Besuchsrecht entzogen. Die Bf. hatte keine Möglichkeit, dazu vor Gericht Stellung zu nehmen. Am 11.12.1997 stellte das Gericht erster Instanz fest, dass es von essentieller Bedeutung für das Kind wäre, Kontakt zur Mutter zu haben und dass der Vater verpflichtet wäre, diesen Kontakt zu erleichtern. Das Gericht führte die Weigerung des Kindes, die Bf. zu sehen, auf das Verhalten seines Vaters zurück, der es in seine persönlichen Probleme und Streitigkeiten mit der Bf. hineingezogen hätte. Trotz eines entsprechenden Antrags der Bf. leistete ihr Exmann diesem Urteil nicht Folge.

Die Bf. ersuchte den StA des Jugendgerichtshofs um eine Intervention zur Erleichterung der Kommunikation mit ihrer Tochter. Nachdem dieser sie an ein Kinderspital verwies, wurden die Tochter der Bf. und beide Elternteile von einer Psychologin untersucht. In ihrem Gutachten vom 25.6.1998 stellte die Psychologin fest, dass die Probleme des Kindes nur gelöst werden könnten, wenn es regelmäßigen Kontakt zu seiner Mutter hätte. Dieses Gutachten wurde dem StA übermittelt, der jedoch keine weiteren Schritte unternahm. Der Bf. wurde die Einsicht in das Gutachten verwehrt. Erst am 22.2.2002 erhielt sie eine Kopie.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die Bf. macht die griechischen Gerichte für die Entfremdung zwischen ihr und ihrer Tochter verantwortlich. Die Gerichte hätten es zu Beginn der Auseinandersetzung verabsäumt, für eine unverzügliche Wiedervereinigung mit ihrem Kind zu sorgen. Dieses Versäumnis hätte weit reichende Auswirkungen gehabt, da der Vater des Kindes und seine Verwandten diese Zeitspanne genützt hätten, um sie ihrer Tochter zu entfremden.

Die Beziehung zwischen der Bf. und ihrer Tochter fällt unbestritten unter den Begriff des Familienlebens iSv. Art. 8 EMRK. Der GH hat wiederholt festgestellt, dass diese Bestimmung Eltern ein Recht auf staatliche Maßnahmen zur Wiedervereinigung mit ihren Kindern einräumt. Diesem Recht korrespondiert eine Pflicht der Behörden, entsprechende Maßnahmen zu setzen. Dies gilt auch, wenn die Eltern über Obsorge und Besuchsrecht streiten.

Die Pflicht der Behörden, Maßnahmen zur Erleichterung einer Zusammenführung zwischen einem Elternteil und seinem Kind zu treffen, ist nicht absolut. Eine Wiederherstellung des Kontakts zwischen einem Elternteil und einem Kind, das längere Zeit beim anderen Elternteil gelebt hat, erfordert oft Vorbereitungsmaßnahmen und kann nicht immer sofort stattfinden. Die Art dieser Maßnahmen hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Die Verpflichtung der Behörden, Zwang anzuwenden, ist insofern beschränkt, als die Interessen aller Betroffener und insbesondere das Wohl des Kindes und dessen durch Art. 8 EMRK garantierte Rechte zu berücksichtigen sind. In Fällen, in denen die Herstellung von Kontakt zu den Eltern diese Interessen gefährden oder diese Rechte verletzen könnte, müssen die nationalen Behörden einen fairen Ausgleich herbeiführen.

Im vorliegenden Fall geht es daher um die Frage, ob die griechischen Gerichte alle Schritte unternahmen, um der Bf. nach deren Trennung von ihrem Ehemann die Wiederherstellung und Entwicklung eines Familienlebens mit ihrer Tochter zu ermöglichen. Der GH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es der Bf. trotz ihres Besuchsrechts nicht möglich war, regelmäßigen Kontakt zu ihrer Tochter herzustellen.

Der GH weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens darstellt, selbst wenn die Beziehung zwischen den Eltern zerbrochen ist, und dass innerstaatliche Maßnahmen, die die Betroffenen an diesem Zusammensein hindern, einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht bedeuten. Es ist nicht Sache des GH festzustellen, wie die nationalen Behörden das Kindeswohl hätten beurteilen sollen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass keine weiteren Maßnahmen gesetzt wurden, nachdem eine Psychologin ausdrücklich regelmäßigen Kontakt zwischen Mutter und Tochter empfohlen hatte.

Die Gerichte setzten zweimal das Besuchsrecht der Bf. aus, ohne sie anzuhören. Das Besuchsrecht wurde zu einem Zeitpunkt aufgehoben, der besonders kritisch für die Zusammenführung der neuneinhalbjährigen Tochter und der Bf. war. Der GH stellt auch fest, dass das am 25.6.1998 erstellte psychologische Gutachten der Bf. erst am 22.2.2002 übermittelt wurde. Der GH ruft in Erinnerung, dass es von überragender Bedeutung für die Eltern ist, immer in der Lage zu sein, alle Argumente vorzubringen, die für einen Kontakt zu ihrem Kind sprechen, und Zugang zu allen relevanten Informationen zu haben, die den Gerichten vorliegen. Der GH stellt weiters fest, dass keiner der drei Psychologen, die das erste Gutachten im Juni 1997 erstellten, die Bf. befragt hat. Die Bf. war daher im vorliegenden Fall nicht in einem Maße in den Entscheidungsprozess eingebunden, das ihr einen ausreichenden Schutz ihrer Interessen garantiert hätte. Sie verfügte daher nicht über angemessene verfahrensrechtliche Garantien, die ihr eine wirksame Bekämpfung der Aufhebung ihres Besuchsrechts ermöglicht hätten.

Der GH ist nicht davon überzeugt, dass die Verfahrensführung der griechischen Gerichte angemessen war und eine ausreichende Grundlage für eine wohldurchdachte Entscheidung über die Frage des Besuchsrechts der Bf. darstellte. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 10.000,-- für immateriellen Schaden, EUR 6.000,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Hokkanen/SF v. 23.9.1994, A/299 (= NL 1994, 333 = ÖJZ 1995, 271).

Johansen/N v. 7.8.1996 (= NL 1996, 133 = ÖJZ 1997, 75).

Nuutinen/SF v. 27.6.2000 (= NL 2000, 138).

Elsholz/D v. 13.7.2000 (= NL 2000, 143 = EuGRZ 2002, 595 = ÖJZ 2002,

71).

Glaser/GB v. 19.9.2000 (= NL 2000, 180).

Sahin/D v. 8.7.2003 (= NL 2003, 196).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.2.2004, Bsw. 60457/00, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 18) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_1/Kosmopoulou_GR.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.