JudikaturJustizBsw60125/11

Bsw60125/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Juli 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache V. M. u.a. gg. Belgien, Urteil vom 7.7.2015, Bsw. 60125/11.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 2 EMRK, Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK - Erniedrigende Aufnahmebedingungen für Asylwerberfamilie.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 3 EMRK (5:2 Stimmen).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 2 EMRK (mehrheitlich).

Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK (4:3 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 22.750,– für immateriellen Schaden, € 8.120,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um V. M. und G. S. M., die Eltern von fünf 2001, 2004, 2007 bzw. 2011 geborenen Kindern. Ihre 2001 geborene älteste Tochter, die auch Bf. war, starb nach Erhebung der Beschwerde am 18.12.2011. Sie litt von Geburt an einer zerebralen und motorischen Behinderung und epileptischen Anfällen.

Die Bf. sind Roma und entschieden sich, ihr Heimatland Serbien aufgrund von Diskriminierungen und Misshandlungen zu verlassen, die sie aufgrund ihrer Herkunft erlitten hätten.

Im März 2010 begaben sich die Bf. nach Frankreich, wo ihr Asylantrag am 4.6.2010 zurückgewiesen wurde. Nachdem sie nach Serbien zurückgekehrt waren, kamen sie im März 2011 nach Belgien, wo sie am 1.4.2011 Asyl beantragten.

Am 17.5.2011 verweigerte das Ausländeramt einen Aufenthalt der Bf. und ordnete an, dass sie das Land nach Frankreich verlassen sollten, da Belgien nach der Dublin II-VO nicht für die Untersuchung ihres Asylantrags zuständig wäre. Es gebe keine Beweise dafür, dass sie nach ihrem Aufenthalt in Frankreich wieder in ihre Heimat zurückgekehrt wären. Aufgrund der Schwangerschaft der Bf. wurde die Ausweisungsanordnung bis zum 25.9.2011 ausgesetzt.

Die Bf. riefen am 16.6.2011 den Rat für Ausländerstreitsachen (»RfA«) mit einem Antrag auf Nichtigerklärung und ordentliche Aussetzung der Entscheidungen über die Verweigerung des Aufenthalts mit Anordnung zum Verlassen des Landes an. Die strittigen Entscheidungen hätten keine von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK geforderte Prüfung dargestellt.

Am 23.9.2011 beantragten die Bf. einen neuerlichen Aufschub der Anordnung zum Verlassen des Landes bis zum Ausgang des Verfahrens vor dem RfA, doch wurde der Antrag zurückgewiesen. Letzterer hob aber mit Urteil vom 29.11.2011 die angefochtene Entscheidung auf, weil das Ausländeramt nicht dargelegt hätte, auf welcher gesetzlichen Grundlage die Zuständigkeit Frankreichs für den Asylantrag beruhe. Dagegen berief der belgische Staat an den Conseil d'État. Dieser erklärte die Beschwerde am 28.2.2013 für unzulässig.

Zwischenzeitlich hatten die Bf. am 22.9.2011 auf Basis von Art. 9ter Ausländergesetz vom 15.12.1980 einen Antrag auf Aufenthaltsbewilligung aus medizinischen Gründen im Namen ihrer ältesten Tochter gestellt, da sie im Kosovo oder in Serbien keine ausreichende Versorgung ihrer Tochter garantiert sahen. Sie ersuchten um eine Aufenthaltserlaubnis bis zum Ende ihres Asylverfahrens in Belgien. Das Ausländeramt erklärte diesen Antrag am 20.9.2011 für unzulässig, da das medizinische Attest entgegen den gesetzlichen Vorgaben die Schwere der Krankheit nicht belege. Von dieser Entscheidung hätten die Bf. ihnen zufolge erst im Rahmen des Verfahrens vor dem GH erfahren.

Am 1.4.2011 wurde den Bf. von der Agentur für die Aufnahme von Asylsuchenden (Fedasil) ein Betreuungsplatz im Aufnahmezentrum für Asylwerber von Morlanwetz zugewiesen. Am 26.6.2011 wurde die älteste Tochter von einem Neuropsychiater untersucht, der ein medizinisches Attest erstellte. Nachdem die Bf. am 26.7.2011 ein Kind zur Welt gebracht hatte, wurde die Familie in einer für Familien geeigneten Einrichtung in Saint-Trond untergebracht. Diese verließen sie am 26.9.2011 nach Auslaufen des Aufschubs der Anordnung zum Verlassen des Landes, nachdem sie nicht mehr in den Genuss der materiellen Hilfe für Flüchtlinge kamen. Die Bf. begaben sich daraufhin nach Brüssel, wo sie von 27.9. bis 5.10.2011 auf einem öffentlichen Platz lebten. Nachdem sie zwei Tage in einem Transitzentrum verbracht hatten, wurde ihnen ein Platz im Aufnahmezentrum von Bovigny, 160 km von Brüssel entfernt, zugewiesen. Dort wurden sie allerdings nie aufgenommen. Zurück in Brüssel blieben sie ab 7.10.2011 für fast drei Monate ohne Unterhalt und Unterkunft am Gare du Nord. Am 25.10.2011 verließen sie mithilfe einer karitativen Organisation Belgien in Richtung Serbien.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) durch ihren Ausschluss aus den Betreuungseinrichtungen ab 26.9.2011 und durch ihre Abschiebung nach Serbien bzw. die Verweigerung der Regularisierung ihres Aufenthalts. Sie rügen weiters unter Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), ihre Aufnahmebedingungen und die Abschiebung bzw. die Verweigerung der Regularisierung ihres Aufenthalts hätten den Tod ihrer ältesten Tochter verursacht. Unter Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) beschweren sie sich darüber, dass sie im Hinblick auf ihre Rügen wegen der Abschiebung und der Verweigerung der Regularisierung ihres Aufenthalts keinen wirksamen Rechtsbehelf besessen hätten.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK (Aufnahmebedingungen)

Zur Zulässigkeit

(114) Die Regierung erhob eine Einrede wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe. [...]

(116) Der GH ist der Ansicht, dass die durch die Einrede der Regierung aufgeworfenen Fragen sich teilweise mit jenen überlappen, die er im Rahmen der Untersuchung der Begründetheit der Beschwerden unter Art. 3 EMRK untersuchen muss. Sie ist daher mit der Untersuchung der Begründetheit dieser Beschwerden zu verbinden und in diesem Zusammenhang zu prüfen (mehrheitlich).

(117) Er stellt weiters fest, dass dieser Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich).

In der Sache

(142) Der GH bemerkt, dass gemäß Art. 6 des Aufnahmegesetzes vom 12.1.2007 (Anm: Gesetz über die Aufnahme von Asylwerbern und anderen Kategorien von Ausländern, welches die RL 2003/9/EG zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten umsetzt.) materielle Hilfe während des ganzen Asylverfahrens gewährt werden musste und erst endete, wenn die Frist zur Vollstreckung der dem Asylwerber bekanntgemachten Anordnung zum Verlassen des Staatsgebiets abgelaufen war. Zur Zeit der Ereignisse hatte [...] Fedasil diese Bestimmung im Hinblick auf Asylwerber, die wie die Bf. dem Dublin-Verfahren unterlagen, eng ausgelegt. Den Betroffenen wurde die materielle Hilfe ab Ablauf der Frist zur Befolgung der Anordnung zum Verlassen des Staatsgebiets aberkannt [...] – und zwar auch, wenn gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel anhängig war.

(143) Der GH stellt fest, dass laut der Beschreibung der Situation im belgischen Recht durch die Parteien daraus nicht abgeleitet werden kann, dass die Bf. als Familie mit minderjährigen Kindern – darunter ein schwer krankes Kind – [...] nicht die Möglichkeit hatten, weiter in den Genuss jeder Form von materieller und medizinischer Hilfe zu kommen. Wie die Regierung selbst vorbringt, war die Gesamtheit der Regelungen durch das Aufnahmegesetz vom 12.1.2007 oder das Gesetz vom 8.7.1976 über die öffentlichen Sozialhilfezentren (ÖSHZ) so konzipiert, dass in besonderen Situationen wie jener der Bf. die materielle und medizinische Hilfe theoretisch verlängert werden hätte können.

(144) Die Regierung wirft den Bf. im Übrigen vor, dass sie sich nicht auf diese anderen Bestimmungen berufen hätten. Sie hätten [...] beim zuständigen ÖSHZ Sozialhilfe beantragen oder von Fedasil eine Verlängerung der materiellen Hilfe unter Art. 7 des Aufnahmegesetzes verlangen können und müssen. Die Bf. machen ihrerseits geltend, dass diese Möglichkeiten aufgrund der Auslastung des Aufnahmenetzes während des strittigen Zeitraums praktisch aussichtslos waren.

(145) Der GH stellt fest, dass die Behauptungen der Bf. durch die Feststellungen verstärkt werden, die sowohl von jenen Akteuren getroffen wurden, die zur Zeit der Ereignisse vor Ort arbeiteten, [...] als auch von den nationalen Gerichten und zuständigen Verwaltungsbehörden, insbesondere vom ÖSHZ der Stadt Brüssel und von Fedasil. Alle konsultierten Entscheidungen und Berichte stimmen in diesem Punkt überein: zur Zeit der Ereignisse hatte das Aufnahmenetz für Asylwerber aufgrund einer zu großen Zahl an Asylwerbern seine Auslastung erreicht; in diesem Zusammenhang verfolgten das ÖSHZ der Stadt Brüssel, von dem die Bf. abhingen, und Fedasil die Politik, von minderjährigen Kindern begleitete Familien von der Aufnahme auszuschließen, die sich in der Situation der Bf. befanden – die also illegal aufhältig waren, weil eine Anordnung zum Verlassen des Staatsgebiets erlassen worden war, und auf eine endgültige Entscheidung im Rahmen ihres Asylverfahrens warteten. Die Mehrheit der betroffenen Familien fand sich ohne Unterkunft und ohne jede Form von Hilfe wieder, sei es auf Grundlage des Aufnahmegesetzes oder des Organgesetzes der ÖSHZ.

(146) Es kommt noch hinzu, dass entgegen der These der Regierung von der Vertreterin der Bf. und vom Generalbeauftragten der französischen Gemeinschaft für Kinderrechte bei den zuständigen Behörden Schritte gesetzt wurden, damit eine dringende Lösung für die Unterbringung der bf. Familie gefunden werden konnte.

(147) Unter diesen Umständen kann den Bf. nur schwer vorgeworfen werden, keine Lösung gesucht zu haben, um ihre Existenz sicherzustellen, nachdem sie aus der Beherbergungseinrichtung weggewiesen worden waren.

(148) Dieser Schlussfolgerung schadet es nicht, dass die Bf. – wie von der Regierung hervorgehoben wurde – kein Rechtsmittel vor den Arbeitsgerichten gegen die fehlende Entscheidung von Fedasil zur Aufnahme erhoben haben. Ein solches Verfahren [...] entspricht nicht den Erfordernissen der Wirksamkeit nach der Konvention. [...] Selbst wenn die Bf. die Arbeitsgerichte anrufen und ein Urteil erlangen hätten können, das Fedasil gezwungen hätte, sie unterzubringen, wäre zusätzlich noch dessen Vollstreckung nötig gewesen, was zur damaligen Zeit mehrere Wochen in Anspruch nehmen konnte.

(150) Die Regierung erwägt schließlich, dass die Bf. zum Teil selbst für ihre Situation verantwortlich wären, da sie sich nicht in die Beherbergungseinrichtung begeben hätten, an die sie nach Aufnahme im Transitzentrum Bovigny am 5. und 6.10.2011 verwiesen worden waren. Die Bf. versichern, sich zur bezeichneten Einrichtung begeben zu haben und [...] von Fedasil zurückgeschickt worden zu sein [...].

(151) Der GH ist offenkundig nicht in der Lage zu prüfen, was wirklich geschehen ist. Daneben hat der GH keine Schwierigkeiten nachzuvollziehen, dass die Bf., die mit dem zu verfolgenden Verfahren nicht vertraut waren, angesichts der Umstände mit der Situation überfordert waren und nicht die gesamte mögliche Sorgfalt an den Tag legten, um in den Genuss einer Unterkunft mehr als 150 km von Brüssel entfernt zu kommen. Der GH befindet, dass dies nicht zu ihrem Schaden gereichen darf, sondern dass es vielmehr den belgischen Behörden oblag, bei der Suche nach einer Lösung für die Unterkunftsfrage noch sorgfältiger zu sein.

(152) Angesichts des Vorgesagten weist der GH die von der Regierung erhobene Einrede der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zurück (mehrheitlich).

(153) Der GH beobachtet sodann, dass die Bf., obwohl sie eine Anordnung erhalten hatten, das Land zu verlassen, bei den belgischen Behörden für die Zwecke von Art. 3 EMRK Asyl beantragt hatten und sich im Verfahren zur Bestimmung des für die Untersuchung dieser Anträge zuständigen Staates befanden. Um zu vermeiden, dass ein solches Verfahren durch die Verweigerung des Schutzes der grundlegendsten Rechte jeder Wirksamkeit beraubt wird, ist es angebracht zu erwägen, dass die Bf. genau wie die Bf. im Fall M. S. S./B und GR zu »einer besonders benachteiligten und verwundbaren und besonders schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppe« gehörten. Wie der GH im Fall Tarakhel/CH betont hat, ist dieses Erfordernis eines »besonderen Schutzes« umso wichtiger, wenn die betroffenen Personen Kinder sind. Es wird nach Ansicht des GH im vorliegenden Fall noch verstärkt durch die Beteiligung von Kindern in niedrigem Alter, darunter ein Säugling, und eines behinderten Kindes, welche in Anbetracht der Entziehung ihrer grundlegenden Bedürfnisse bereits per se zerbrechlich und verwundbarer als die Erwachsenen sind.

(154) Der Umstand, dass die Bf. im vorliegenden Fall auf eine endgültige Entscheidung zur Bestimmung des für die Prüfung ihres Asylantrags zuständigen Staates warteten, versetzte sie im Hinblick auf die Konvention in keine andere Situation als die Bf. in den vorzitierten Entscheidungen, da die Behörden des Rücksendestaates in keinem dieser Fälle über die Begründetheit der Befürchtungen absprachen, welche die Betroffenen hinsichtlich Art. 3 EMRK zuwiderlaufender Behandlungen für den Fall ihrer Rückkehr in das Land hatten, aus dem sie geflohen waren. [...]

(155) [...] Laut dem EuGH (Anm. EuGH 27.9.2012, CIMADE und Gisti/Minister für Inneres, Überseegebiete, Gebietskörperschaften und Einwanderung, C-179/11; 27.2.2014, Federaal agentschap voor de opvang van asielzoekers/Selver Saciri u.a., C- 79/13. Beide Entscheidungen ergingen allerdings erst nach den Ereignissen des vorliegenden Falles.) verlangt die Aufnahmerichtlinie von den Mitgliedstaaten, dass sie für die ganze Dauer des Verfahrens zur Bestimmung der Zuständigkeit zur Prüfung ihres Asylantrags ausreichende materielle Hilfe gewähren, um einen würdigen und gesundheitlich angemessenen Lebensstandard zu garantieren sowie Unterhalt und Unterkunft der Betroffenen sicherzustellen. Die Aufnahmestaaten müssen auch die Situation von Personen mit besonderen Bedürfnissen und das Kindeswohl berücksichtigen.

(156) Der GH muss sodann [...] darüber absprechen, ob die Bedingungen, unter denen die Bf. zwischen dem 26.9. und dem 25.10.2011 in Belgien gelebt haben, die Verantwortlichkeit des belgischen Staates nach Art. 3 EMRK auf den Plan rufen.

(158) Der GH stellt fest, dass die von den Bf. durchlebte Situation von besonderer Schwere war. Sie erklären, dass sie sich ab Verlassen der Beherbergungseinrichtung am 26.9.2011 auf der Straße wiederfanden und sich auf einem öffentlichen Platz im Zentrum von Brüssel eingerichtet hätten [...]. Sie verblieben dort – ohne Hilfe für die Bewältigung ihrer grundlegendsten Bedürfnisse: sich ernähren, sich waschen und wohnen – bis zum 5.10.2011. Der Umstand, dass ihnen von den Behörden eine Unterkunft im Aufnahmezentrum vorgeschlagen wurde, hat an der Situation der Bf. nichts verändert. Nach zwei Nächten im Transitzentrum landeten die Bf. am 7.10.2011 [...] am Gare du Nord von Brüssel, wo sie noch beinahe drei Wochen blieben, bevor durch eine karitative Organisation ihre Rückkehr nach Serbien organisiert wurde.

(161) Schließlich bemerkt der GH, dass die Situation, in der sich die Bf. befunden haben, vermieden oder zumindest verkürzt werden hätte können, wenn die Beschwerde auf Nichtigerklärung und Aufschiebung der Entscheidungen zur Verweigerung des Aufenthalts mit Anordnung zum Verlassen des Landes, die sie am 16.6.2011 eingebracht hatten, vom RfA rascher behandelt worden wäre. Letzterer urteilte tatsächlich erst am 29.11.2011, also mehr als zwei Monate, nachdem die Bf. von den Betreuungseinrichtungen ausgeschlossen worden waren und mehr als einen Monat, nachdem sie Belgien verlassen hatten.

(162) Angesichts des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass die von den Bf. durchlebte Situation dieselbe Schlussfolgerung verlangt wie im Fall M. S. S./B und GR. Er erwägt, dass die belgischen Behörden die Verwundbarkeit der Bf. als Asylwerber und jene ihrer Kinder nicht gebührend berücksichtigt haben. Ungeachtet dessen, dass die Krisensituation (Anm: Zwischen 2008 und 2013 und besonders 2011 befand sich das belgische Asylsystem in dem Sinn in einer »Krise«, als es zu einem beträchtlichen und außergewöhnlichen Anstieg der Zahl der Asylwerber und einer andauernden Übersättigung des Betreuungsnetzwerks kam.) eine außergewöhnliche Situation darstellte, befindet der GH, dass die belgischen Behörden ihre Verpflichtung missachtet haben, die Bf. nicht für vier Wochen (mit Ausnahme von zwei Nächten) Bedingungen extremen Elends auszusetzen, indem sie sie auf der Straße zurückließen, mittellos, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen und ohne Mittel zur Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse. Der GH befindet, dass die Bf. so Opfer einer Behandlung waren, die von fehlendem Respekt für ihre Würde zeugt und dass diese Situation ohne Zweifel bei ihnen Gefühle der Angst oder Minderwertigkeit auslöste, die geeignet waren, zu Verzweiflung zu führen. Er erwägt, dass solche Existenzbedingungen verbunden mit dem Fehlen einer Perspektive zur Verbesserung ihrer Situation das Maß an Schwere erreicht haben, das von Art. 3 EMRK verlangt wird, und eine erniedrigende Behandlung darstellen.

(163) Daraus folgt, dass die Bf. sich durch die Behörden in einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Situation wiederfanden. Daher kam es zu einer Verletzung dieser Bestimmung (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Sajó und Kjølbro).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK (Tod der Tochter der Bf.)

(165) Der GH stellt fest, dass dieser Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich).

(166) Die Bf. behaupten, dass der Tod ihrer älteren Tochter nach einer Lungenentzündung weniger als einen Monat nach ihrer Rückkehr nach Serbien nicht erfolgt wäre, wenn die belgischen Behörden sie in Belgien nicht Bedingungen totalen materiellen Elends ausgesetzt und sie so nicht dazu »gezwungen« hätten, nach Serbien zurückzukehren, wo auf sie die Bedingungen warteten, unter denen die Roma lebten und vor denen sie aufgrund des Gesundheitszustands ihrer Tochter geflüchtet waren.

(169) Im Lichte des Vorgesagten muss der GH untersuchen, ob die belgischen Behörden wussten oder wissen mussten, dass es ein wirkliches und unmittelbares Risiko gab, dass der Gesundheitszustand der älteren Tochter der Bf. sich nach ihrer Wegweisung aus der Beherbergungseinrichtung derart verschlimmern würde, das dies zu ihrem Tod führen konnte.

(170) Diesbezüglich müssen mehrere Elemente berücksichtigt werden. Der GH bemerkt zunächst, dass – auch wenn den belgischen Behörden die Situation des Elends, in welcher sich die Bf. nach ihrer Wegweisung aus der Einrichtung befanden, ebensowenig unbekannt sein konnte, wie der Umstand, dass die ältere Tochter der Bf. an mehreren Krankheiten litt – das medizinische Attest, das zur Stützung des Antrags auf Regularisierung aus medizinischen Gründen ausgestellt wurde, den Grad an Schwere dieser Krankheiten nicht erwähnte. Vor allem geht aus der Chronologie der Ereignisse hervor, dass mehrere Faktoren zum Tod der Tochter der Bf. beitragen konnten – insbesondere auch der Umstand, dass die Bf. nach ihrer Rückkehr nach Serbien für mehrere Wochen unter ungesunden Bedingungen lebten.

(171) Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass die Bf. nicht über jeden vernünftigen Zweifel hinaus zeigten, dass der Tod ihrer älteren Tochter durch die Bedingungen ihres Aufenthalts in Belgien verursacht wurde und dass die belgischen Behörden diesbezüglich irgendeiner positiven Verpflichtung nicht nachgekommen wären.

(172) Es erfolgte daher keine Verletzung [...] [von Art. 2 EMRK] (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2, 3 und 13 EMRK (Asyl- und Regularisierungsverfahren)

(176) Die belgischen Behörden haben die Begründetheit der [...] Beschwerden weder hinsichtlich Asyl noch hinsichtlich Regularisierung geprüft. Es obliegt dem GH nicht, sich zu diesem Gegenstand zu äußern. Es liegt tatsächlich bei den nationalen Behörden, die in dem Bereich verantwortlich sind, die Befürchtungen der Bf. und die von ihnen vorgelegten Dokumente zu prüfen und die Gefahren zu beurteilen, denen sie bei Abschiebung in ihr Herkunftsland oder in ein Zwischenland im Hinblick auf Art. 2 und 3 EMRK begegnen. [...]

(177) Dennoch entbindet der Umstand, dass die Befürchtungen der Bf. nicht Gegenstand einer nationalen Entscheidung waren, den GH nicht davon zu prüfen, ob die Bf. vertretbare Behauptungen eines Risikos erheben konnten, eine Art. 2 oder 3 EMRK widersprechende Behandlung zu erleiden und ob sie bejahendenfalls in den Genuss von wirksamen Garantien iSd. Art. 13 EMRK kamen, womit sie diese Rügen geltend machen konnten und die sie gegen eine willkürliche Abschiebung in das Land, aus dem sie geflüchtet waren, schützten.

(178) Wie er im Fall Sharifi u.a./I und GR beobachtet hat, könnte der Umstand, dass der GH von den Bf. im Hinblick auf ihre (direkte oder indirekte) Abschiebung nach Serbien unter Art. 2 und 3 EMRK direkt angerufen wurde, einerseits gewiss als dem Grundsatz der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel zuwiderlaufend angesehen werden. Andererseits könnte das behauptete Fehlen eines wirksamen Zugangs zum Asylverfahren die Bf. praktisch in Missachtung von Art. 13 EMRK auf nationaler Ebene jeden Schutzes gegen eine willkürliche Abschiebung beraubt haben.

(180) Daher sind die Rügen betreffend die Abschiebung der Bf. nach Serbien und das Fehlen eines Zugangs zu einem wirksamen Rechtsbehelf in der Praxis unter Art. 13 iVm. Art. 2 und 3 EMRK zu prüfen und nicht unter Art. 2 und 3 EMRK allein.

Zur Zulässigkeit

(184) [...] Die Einreden der Regierung sind, da sie die Zulässigkeit der Beschwerden auf Grundlage der Gefahr einer Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK betreffen, gegenstandslos und müssen aus diesem Grund zurückgewiesen werden (mehrheitlich).

(186) Der GH stellt im Übrigen fest, dass der Art. 13 EMRK betreffende Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich).

In der Sache

Zum Vorliegen von vertretbaren Behauptungen

(190) Im Hinblick auf die Befürchtung einer indirekten Rückkehr nach Serbien über Frankreich im Rahmen des Dublin-Verfahrens bemerkt der GH, dass der von den Bf. in Frankreich eingebrachte Asylantrag von dessen Behörden vor fast einem Jahr zurückgewiesen worden war, als das Ausländeramt Frankreich ersuchte, die Bf. nach der Dublin II-VO zu übernehmen. Die Bf. besaßen daher keine Garantie, dass die französischen Behörden sie nicht nach Serbien abschieben würden.

(191) Was die Situation in Serbien angeht, von wo die Bf. geflohen waren, verfügt der GH über mehrere Berichte, die zeigen, dass Serben mit Roma-Hintergrund in Serbien Diskriminierungen ausgesetzt waren, unter bedauernswerten Verhältnissen lebten und keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnung oder Bildung hatten. Nach Ansicht des GH müssen diese Informationen mit den von den Bf. vor den belgischen Asylbehörden geltend gemachten Behauptungen von in Serbien erlittener Diskriminierung und Misshandlung kombiniert werden, und mit den Faktoren der Verwundbarkeit, die den Bf. aufgrund der Beteiligung einer jungen, schwer behinderten Tochter und von jungen Kindern – darunter ein Säugling – eigen war. Diese Elemente in ihrer Gesamtheit genügen dem GH um zu erwägen, dass die Rügen im Hinblick auf die Gefahren bei einer Rückkehr nach Serbien vertretbar waren.

(193) Zudem hat der Umstand, dass die Bf. letztlich ausgereist sind, [...] keine Folgen für die Vertretbarkeit ihrer Rügen. Der GH erinnert nämlich daran, dass er für die Beurteilung, ob die Rügen vertretbar sind, von dem Zeitpunkt ausgehen muss, wo die nationalen Behörden sie untersucht haben, auch wenn sich die Gefahr von Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlungen zwischenzeitlich entwickelt hat.

(194) Im Ergebnis ist es angebracht zu befinden, dass die Rügen der Bf. unter Art. 2 und 3 EMRK würdig gewesen wären, vor einer nationalen Instanz inhaltlich in einem Verfahren untersucht zu werden, das den Erfordernissen der Wirksamkeit nach Art. 13 EMRK entsprach.

Zur Wirksamkeit der Beschwerde

(203) [...] Im vorliegenden Fall wurde die Anordnung gegenüber den Bf. vom 26.5.2011, das Land zu verlassen, bis 25.9.2011 aufgeschoben und konnte daher ab 26.9.2011 jederzeit vollstreckt werden. Am 16.6.2011 fochten die Bf. die Anordnung zum Verlassen des Landes beim RfA an und beantragten ihre ordentliche Aussetzung.

(204) Da sie im Hinblick auf ihre Rückführung nicht angehalten wurden, erhielten die Bf. keinen Aufschub aufgrund äußerster Dringlichkeit für ihre Abschiebung, bis der RfA über ihre Anfechtung inhaltlich entschied. Sie stellten somit zur gleichen Zeit mit der Anfechtung einen Antrag auf ordentliche Aussetzung der Anordnung zum Verlassen des Landes. Sie rügen, dass Fedasil – da die Vollstreckung der Anordnung zum Verlassen des Landes durch diesen Antrag ab 26.9.2011 nicht aufgeschoben wurde – die materielle Hilfe aussetzte, von der sie bis dahin profitiert hatten, was sie zwang, Belgien in das Land zu verlassen, aus dem sie geflohen waren, ohne dass die Begründetheit ihrer Befürchtungen im Hinblick auf dieses Land von den Behörden untersucht worden wäre, die sie um Schutz ersucht hatten.

(208) Der GH stellt fest, dass eine Beschwerde an den RfA mit dem Ziel der Nichtigerklärung einer Anordnung zum Verlassen des Landes die Vollstreckung der Abschiebung nicht aufschiebt. Das Ausländergesetz sieht dennoch spezielle Verfahren vor, um ihre Aufschiebung zu beantragen, entweder das Verfahren für äußerste Notfälle oder das Verfahren zur ordentlichen Aussetzung.

(209) Der Antrag auf Aussetzung wegen äußerster Notfälle bewirkt von Rechts wegen den Aufschub der Abschiebung. Nach dem zur Zeit der Ereignisse anwendbaren Recht [...] konnte der RfA [...] binnen 72 Stunden die Aussetzung der Vollstreckung der angefochtenen Entscheidungen anordnen und verhindern, dass die Betroffenen vor einer gründlichen Prüfung ihrer Rechtsmittel im Rahmen der Anfechtung des Landes verwiesen wurden.

(210) Die Aussetzung von Rechts wegen konnte auch über eine Kombination von Rechtsbehelfen erlangt werden: zunächst durch eine Anfechtung und einen Antrag auf ordentliche Aussetzung binnen dreißig Tagen ab Zustellung der beschwerdegegenständlichen Entscheidung; sodann, wenn der Fremde einer Zwangsmaßnahme unterworfen wurde, durch einen Antrag auf vorläufige Maßnahmen aufgrund äußerster Dringlichkeit. Der RfA war damit rechtlich verpflichtet, binnen 72 Stunden und gleichzeitig den Antrag auf vorläufige Maßnahmen aufgrund äußerster Dringlichkeit und den zuvor gestellten Antrag auf ordentliche Aussetzung zu untersuchen. Die Stellung eines Antrags auf vorläufige Maßnahmen aufgrund äußerster Dringlichkeit hatte ab seiner Stellung von Rechts wegen die Wirkung einer Aussetzung der Abschiebung.

(211) Dennoch bedurften nach der Auslegung des Begriffs der äußersten Dringlichkeit durch den RfA sowohl der Antrag auf Aussetzung aufgrund äußerster Dringlichkeit als auch der Antrag auf vorläufige Maßnahmen aufgrund äußerster Dringlichkeit, um für zulässig und begründet erklärt zu werden, des Vorliegens einer Zwangsmaßnahme, also grundsätzlich der Anhaltung der Betroffenen.

(212) Der GH beobachtet, dass dieses System [...] bewirkte, dass der Fremde, der unter dem Eindruck einer Abschiebemaßnahme stand, und der behauptete, dass Dringlichkeit gegeben war, die Aussetzung der Vollstreckung dieser Maßnahme zu beantragen, dazu verpflichtet war, einen vorsorglichen Rechtsbehelf einzulegen, gegenständlich einen Antrag auf ordentliche Aussetzung. Dieser Rechtsbehelf, der von Rechts wegen keine aufschiebende Wirkung hatte, musste mit dem Ziel eingelegt werden, sich das Handlungsrecht zu bewahren, sollte sich die wirkliche äußerste Dringlichkeit iSd. Rechtsprechung des RfA realisieren – also für den Moment, wo der Fremde einer Zwangsmaßnahme unterworfen wurde.

(213) Der GH ist der Ansicht, dass dieses System mehrfache Kritik auf den Plan ruft.

(214) Erstens kann man in einem System, wo die Aussetzung lediglich auf Antrag zuerkannt wird, nicht ausschließen, dass sie im Einzelfall unrechtmäßig verweigert werden könnte– insbesondere, wenn sich später herausstellen sollte, dass die inhaltlich entscheidende Instanz die strittige Abschiebeentscheidung trotzdem wegen Missachtung der Konvention aufheben muss, weil sie z.B. nach einer gründlicheren Prüfung befindet, dass der Betroffene dennoch Gefahr laufen würde, im Zielstaat Misshandlungen zu erleiden. In einem solchen Fall würde der durch den Betroffenen erhobene Rechtsbehelf wegen äußerster Dringlichkeit nicht die von Art. 13 EMRK gewünschte Wirksamkeit bieten.

(216) Auch wenn sich zweitens die sich aus dem belgischen Recht ergebende Konstruktion theoretisch als wirksam erweisen kann, kann sie in der Praxis schwer funktionsfähig und sehr komplex sein. Im vorliegenden Fall bewirkte der fehlende aufschiebende Charakter des Antrags auf ordentliche Aussetzung das Ende der materiellen Hilfe und »zwang« die Bf. dazu, in das Land zurückzukehren, aus dem sie geflohen waren, ohne dass die Begründetheit ihrer Befürchtungen von Belgien (dessen Zuständigkeit vom Ausländeramt verneint worden war) oder von Frankreich (dessen Zuständigkeit sie bestritten hatten) geprüft worden wäre, während der RfA ihnen einige Monate später diesbezüglich Recht gab. Der GH ist der Ansicht, dass das belgische System unter den besonderen Umständen des Falles nicht die von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK verlangten Garantien der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Rechtsbehelfen aufwies – und zwar weder im Hinblick auf das Recht noch im Hinblick auf die Praxis.

(217) Drittens beobachtet der GH, dass das System die Betroffenen, die sich bereits in einer verwundbaren Position befinden, zwingt, noch im letzten Augenblick der Zwangsvollstreckung der Maßnahme zu handeln. Diese Situation ist umso besorgniserregender im Fall einer Familie mit minderjährigen Kindern, wohlwissend dass die Vollstreckung der Maßnahme in Form von Haft, wenn sie schon nicht vermeidbar ist, doch [...] auf das absolute Minimum begrenzt werden muss.

(218) Viertens kann der GH die Fristen des fraglichen Verfahrens nicht außer Acht lassen. Die Anfechtung gegen die Anordnung zum Verlassen des Landes wurde am 16.6.2011 eingebracht und die Plädoyers erfolgten am 26.8.2011. Der RfA hat sein für die Bf. günstiges Urteil nun aber erst am 29.11.2011 erlassen, nachdem diese in das Land zurückgegangen waren, aus dem sie geflohen waren, und ohne dass die Begründetheit ihrer Befürchtungen wie sie sie vor den belgischen Asylbehörden formuliert hatten, durch diese Behörden oder die französischen Behörden geprüft worden wäre. Diese Situation beraubte sie praktisch der Möglichkeit, das Verfahren in Belgien und in Frankreich zu verfolgen. Angesichts der Natur der vor dem RfA geltend gemachten Rechtsmittel und der schwerwiegenden Folgen der vor ihm angefochtenen Entscheidung für die rechtliche und materielle Situation der Bf. befindet der GH, dass die Anfechtung auch im Hinblick auf die Dauer ihrer Prüfung unangemessen war.

(219) Der GH stellt schließlich fest, dass die Bf. einen anderen Weg versucht haben, um ihre Abschiebung zu vermeiden. Sie haben nämlich gestützt auf Art. 9ter des Ausländergesetzes einen Antrag auf Regularisierung ihres Aufenthalts aus medizinischen Gründen gestellt. Doch haben die Bf. von der Existenz der diesbezüglichen Entscheidung erst später im Verfahren vor dem GH erfahren. Daraus folgt, dass sie auch keinen wirksamen Rechtsbehelf besaßen, um diese Entscheidung anzufechten.

(220) Angesichts der Analyse des belgischen Systems so wie es sich zum Zeitpunkt der Ereignisse in Geltung befand, kommt der GH zum Schluss, dass die Bf. über keinen wirksamen Rechtsbehelf verfügten, der gleichzeitig von Rechts wegen aufschiebend war und eine rasche und wirksame Prüfung der Beschwerdegründe betreffend die Verletzung von Art. 3 EMRK erlaubte. Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK (4:3 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richterin Keller und der Richter Sajó und Kjølbro).

(221) Angesichts des Vorgesagten und der Umstände des Falles befindet der GH, dass es nicht nötig ist, die Rügen der Bf. unter Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK zu untersuchen (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 22.750,– für immateriellen Schaden; € 8.120,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Sajó und Kjølbro).

Vom GH zitierte Judikatur:

Müslim/TR v. 26.4.2005

Gebremedhin (Gaberamadhien)/F v. 26.4.2007

Muskhadzhiyeva u.a./B v. 19.1.2010 = NL 2010, 34

M. S. S./B und GR v. 21.1.2011 (GK) = NL 2011, 26 = EuGRZ 2011, 243

Singh u.a./B v. 2.10.2012

Sharifi u.a./I und GR v. 21.10.2014 = NL 2014, 433

Tarakhel/CH v. 4.11.2014 (GK) = NL 2014, 478

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.7.2015, Bsw. 60125/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 305) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_4/V.M.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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