JudikaturJustizBsw60101/09

Bsw60101/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. Oktober 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Peltereau-Villeneuve gg. die Schweiz, Urteil vom 28.10.2014, Bsw. 60101/09.

Spruch

Art. 6 Abs. 2 EMRK - Verletzung der Unschuldsvermutung bei Einstellung von Sexualstrafverfahren gegen Priester wegen Verjährung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 12.000,– für immateriellen Schaden, € 15.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 21.1.2008 wurde der Generalstaatsanwalt des Kantons Genf von der Diözese Lausanne, Genf und Freiburg informiert, dass eine Untersuchung nach kanonischem Recht gegen den Bf., einen Erzpriester, wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eröffnet worden sei. Der Bf. wurde von der Diözese suspendiert.

Der Generalstaatsanwalt eröffnete ein Verfahren gegen den Bf., insbesondere wegen sexueller Nötigung, Vergewaltigung und Schändung. Die Kriminalpolizei nahm die Aussagen von zwei mutmaßlichen Opfern auf und vernahm auch den Bf. Dieser gestand zunächst ohne Beisein eines Anwalts, bevor er seine Aussage zwei Tage später widerrief.

Mit Beschluss vom 25.9.2008 stellte der Generalstaatsanwalt das Verfahren ein. Er wies darauf hin, dass es zwar erwiesen sei, dass der Bf. zumindest gegenüber zwei Personen das Delikt der Ausnützung einer Notlage begangen habe, die Strafverfolgung allerdings verjährt sei, da die Taten bereits 1991 und 1992 begangen worden wären. Der Beschluss wurde von der Presse rezipiert. Man konnte dort lesen, dass der Bf. die Taten, wegen derer er verfolgt wurde, begangen und gestanden hätte.

Der Bf. erhob in der Folge Berufung an die Genfer Anklagekammer, verlangte die Verfügung der Einstellung bzw. subsidiär, den Fall dem Generalstaatsanwalt zurückzuverweisen, damit dieser einen neuen Einstellungsbeschluss verfasse und sich dabei darauf beschränke festzustellen, dass die angeführten Taten verjährt seien.

Mit Beschluss vom 5.11.2008 erklärte die Anklagekammer die Berufung für unzulässig. Der Bf. formulierte daraufhin eine Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragte die Aufhebung des Beschlusses, soweit dieser seinem Antrag auf eine neuerliche Einstellungsentscheidung keine Folge gab. Das Bundesgericht wies die Beschwerde am 19.3.2009 zurück. Es befand insbesondere, dass durch die Einstellungsentscheidung die Unschuldsvermutung nicht verletzt worden sei und die angefochtene Entscheidung nichts beinhalten würde, was über das hinausging, was nötig war, um den Grund der Einstellung zu rechtfertigen.

Von Januar 2008 bis Dezember 2012 war der Bf. einem Verfahren nach kanonischem Recht unterworfen. Der Wortlaut des Beschlusses vom 25.9.2008 wurde im Verfahren mehrfach zitiert, unter anderem auch in der Anklage. Am 4.2.2011 wurde gegenüber dem Bf. die Strafe der Entlassung aus dem Klerikerstand ausgesprochen. Diese Verurteilung wurde am 13.12.2012 mit einem Dekret der Kongregation, der der Bf. angehörte, aufgehoben. Mit Entscheidung vom 13.3.2013 verurteilte das Arbeitsgericht die römisch-katholische Kirche von Genf zur Zahlung einer Genugtuung von CHF 1,–.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) durch den Wortlaut des Einstellungsbeschlusses des Generalstaatsanwalts und die späteren, damit in Zusammenhang stehenden Entscheidungen der Gerichte.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK

(25) Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(33) Der GH muss entscheiden, ob das Ergebnis des Strafverfahrens die Unschuld des Bf. in Zweifel zieht, obwohl er nicht für schuldig befunden wurde.

(34) Im vorliegenden Fall wurde die Verfolgung des Bf. vom Generalstaatsanwalt aufgrund der Verjährung der Strafverfolgung eingestellt. Es trifft zwar zu, dass – wie von der Regierung betont – die Zuordnung der behaupteten Taten notwendig war um zu entscheiden, mit welchen Strafen gerechnet werden musste und welche Verjährungsfrist daher zur Anwendung kam. Der GH bemerkt dennoch, dass die Anwendung von Art. 116 Abs. 1 StPO des Kantons Genf die Gewissheit, das die Straftat begangen wurde, weder voraussetzt noch verlangt.

(35) Trotzdem lässt der Wortlaut des Beschlusses vom 25.9.2008 keinen Zweifel an der Ansicht des Generalstaatsanwalts zur Schuld des Bf. Insbesondere kam dieser, nachdem er befunden hatte, dass die Taten erwiesen seien, und er die Voraussetzungen für die Begründung des Delikts untersucht hatte, zum Schluss, dass »die Strafverfolgung (...) wegen der Verjährung nicht durchgeführt werden kann, auch wenn die Fakten zur Feststellung führen, dass eine Straftat gegenüber den Opfern sehr wohl begangen wurde«. Zudem gesellten sich zu dieser Feststellung überflüssige Angaben, wie die »schamlose Weise«, auf welche der Bf. die Straftat »allermindestens« gegenüber den zwei vermeintlichen Opfern begangen hätte. Folglich gibt es keinen Zweifel, dass der Beschluss vom 25.9.2008 die Meinung des Generalstaatsanwalts zur Schuld des Bf. zum Ausdruck bringt und sich nicht darauf beschränkt, einen Verdacht zu beschreiben. Mag nun die Zuordnung der mutmaßlichen Taten nötig gewesen sein, so verpflichtete nichts in den anwendbaren Bestimmungen den Generalstaatsanwalt dazu, die entsprechenden Tatsachen festzustellen. Es war allein Sache des Generalstaatsanwalts, im Hinblick auf die Schuld des Bf. Worte zu wählen, die sich darauf beschränkten, lediglich einen Verdacht zu beschreiben.

(36) Die Anklagekammer und das Bundesgericht haben die Beschwerden des Bf. beide zurückgewiesen, ohne den Inhalt des Beschlusses abzulehnen. Obwohl es den Wortlaut der Äußerungen des Generalstaatsanwalts untersucht hat, hat das Bundesgericht befunden, der Beschluss beinhalte »nichts, was über das hinausgeht, was nötig ist, um den Grund der Einstellung zu rechtfertigen«.

(37) Zudem wurde der Inhalt des Beschlusses vom 25.9.2008 in der Presse übernommen und hatte großes Gewicht im kanonischen Verfahren. Wenn auch die Öffentlichkeit ein Interesse haben mag, informiert zu werden, so erfordert ein solches Interesse trotzdem nicht, irgendeine Meinung hinsichtlich der Schuld des Bf. zu äußern. Es besteht allerdings kein Zweifel, dass der Ruf des Bf. durch den Umstand, dass der Einstellungsbeschluss öffentlich gemacht wurde, schwerwiegend geschädigt wurde.

(38) Diese Elemente reichen für den GH, um zum Schluss zu kommen, dass die Begründung des Einstellungsbeschlusses vom 25.9.2008, die im Wesentlichen von der Anklagekammer und dem Bundesgericht bestätigt wurde, das Prinzip der Unschuldsvermutung missachtet hat.

(39) Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 12.000,– für immateriellen Schaden, € 15.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Virabyan/AM v. 2.10.2012 (GK) = NL 2012, 318

Allen/GB v. 12.7.2013 (GK) = NL 2013, 257

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.10.2014, Bsw. 60101/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 410) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_5/Peltereauvilleneuve.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.