JudikaturJustizBsw6009/10

Bsw6009/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
02. Juni 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache K. M. gg. die Schweiz, Urteil vom 2.6.2015, Bsw. 6009/10.

Spruch

Art. 8 EMRK - Ausweisung eines straffällig gewordenen Familienvaters nach 24 Jahren.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der 1962 geborene Bf. ist albanischer Staatsangehöriger und wohnt in Genf. Er kam im April 1991 mit seiner Frau und seiner 1989 geborenen Tochter in die Schweiz und stellte einen Asylantrag. Im Februar 1992 gebar die Frau einen Sohn. Wegen der gesundheitlichen Probleme der Tochter erhielt die Familie eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung. Der Bf. arbeitete dann als Feinmechaniker.

Am 1.11.2001 verurteilte das Strafgericht La Côte des Kantons Waadt den Bf. wegen gewerbsmäßiger Geldwäscherei im Zusammenhang mit Drogenhandel zu zweieinhalb Jahren Haft und verfügte eine zehnjährige Ausweisung aus der Schweiz, davon fünf Jahre zur Bewährung. Ihm wurde vorgeworfen, den Ertrag aus einem Drogenhandel in Höhe von circa CHF 200.000,– in Umlauf gebracht und daraus 10?% Profit erzielt zu haben. Diese Entscheidung wurde von den Berufungsinstanzen bestätigt. Ab August 2004 kam der Bf. wegen seiner guten Führung in den Genuss der sogenannten Halbfreiheit (Anm: Diese Form des Strafvollzugs dient am Ende einer längeren Freiheitsstrafe der Vorbereitung auf die Entlassung des Häftlings. Dieser kann einen Teil des Tages außerhalb des Gefängnisses verbringen, z.B. an einem regulären Arbeitsplatz arbeiten und einen Teil seiner Freizeit zuhause nutzen.) und begann im September dieses Jahres wieder zu arbeiten.

Mit Entscheidung vom 15.1.2003 hob das Bundesamt für Migration (BfM) auf Basis des früheren Art. 14a Abs. 6 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) unter Verweis auf die Straffälligkeit des Bf. dessen provisorische Aufenthaltserlaubnis auf. Die Asylrekurskommission wies die Berufung dagegen am 14.12.2006 zurück und ordnete an, dass der Bf. bis spätestens 15.1.2007 die Schweiz zu verlassen habe.

Bereits am 30.12.2004 hatte der Bf. beim Amt für Bevölkerung des Kantons Genf einen Antrag auf Genehmigung seines Aufenthalts gestellt und dabei auf sein Recht auf familiäre Bindungen iSv. Art. 8 EMRK zu seinen beiden minderjährigen Kindern verwiesen. Dieser Antrag wurde mit Entscheidung vom 31.10.2005 aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung des Bf. zurückgewiesen.

Am 11.1.2007 stellte der Bf. einen neuen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Mit Entscheidung vom 13.3.2007 wurde auch dieser zurückgewiesen, doch erhob der Bf. dagegen Berufung an die Rekurskommission der Fremdenpolizei des Kantons Genf, der mit Entscheidung vom 9.10.2007 stattgegeben wurde. Am 9.11.2007 leitete das kantonale Amt für Bevölkerung die Akte an das BfM zur Bewilligung der Zuerkennung der Aufenthaltsgenehmigung weiter. Letzteres verweigerte allerdings eine entsprechende Bewilligung.

Der Bf. brachte daraufhin eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein. Dieses wies selbige am 5.6.2009 ab und verwies insbesondere auf die Schwere der begangenen Tat und die komplett fehlende Reue beim Bf., womit das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung auch bei Berücksichtigung seiner familiären Bezüge überwiegen würde. Nachdem der Bf. Beschwerde an das Bundesgericht erhoben hatte, wies Letzteres diese am 21.10.2009 mit im Wesentlichen gleicher Begründung wie das Bundesverwaltungsgericht ab.

Nach zwischenzeitlicher Scheidung am 4.2.2004 heirateten der Bf. und seine Exfrau, die indes die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten hatte, am 5.3.2007 erneut.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, dass die Weigerung, ihm eine Aufenthaltsgenehmigung zuzuerkennen, und die Anordnung seiner Ausweisung nach einem langen Aufenthalt in der Schweiz nicht verhältnismäßig seien und daher seine Rechte nach Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) missachten würden.

(36) Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinen anderen Gründen unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(47) [...] Angesichts der sehr langen Dauer des Aufenthalts des Bf. in der Schweiz begründen die Weigerung, seine Aufenthaltsgenehmigung zu erneuern, und die Anordnung seiner Ausweisung einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens. Die Frage, ob im vorliegenden Fall auch das Familienleben des Bf. betroffen ist, ist schwieriger zu beantworten. Tatsächlich waren die Kinder des Bf. 21 bzw. 25 Jahre alt. Zudem hat das Ehepaar erst im März 2007 wieder geheiratet, also nach der Aufhebung der Aufenthaltsgenehmigung des Bf. und dessen Aufenthalt im Gefängnis. Unter Berücksichtigung der nachfolgenden Erwägungen (Rn. 54-62) hält es der GH aber nicht für nötig zu entscheiden, ob die Beziehungen des Bf. zu seiner Frau und seinen Kindern unter das Recht auf Achtung seines Familienlebens fallen.

(50) Es ist [...] nicht umstritten, dass der fragliche Eingriff völlig mit der Konvention vereinbare Zwecke verfolgte, nämlich insbesondere die »Aufrechterhaltung der Ordnung« und die »Verhütung von Straftaten«.

(51) Die grundlegende Frage, die im vorliegenden Fall zu entscheiden ist, ist jene, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. Die Grundprinzipien betreffend die Ausweisung einer Person, die eine beträchtliche Zeit in einem Gastland verbracht hat, aus dem sie nach der Begehung von Straftaten ausgewiesen werden soll, sind in der Rechtsprechung wohl gefestigt [...]. Im Fall Üner/NL hatte der GH Gelegenheit, die Kriterien zusammenzufassen, die die nationalen Behörden in solchen Fällen leiten sollen: die Natur und Schwere der vom Bf. begangenen Straftat; die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll; die Zeitspanne, die seit der Straftat vergangen ist und das Verhalten des Bf. während dieser Zeitspanne; die Nationalität der verschiedenen betroffenen Personen; die familiäre Situation des Bf. [...]; ob der Ehepartner zum Zeitpunkt der Schaffung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob die Kinder der Ehe entstammten und diesfalls deren Alter; das Maß an Schwierigkeiten, welchem der Ehepartner in dem Land riskiert zu begegnen, in das der Bf. ausgewiesen werden soll; das Kindeswohl, insbesondere der Grad an Schwierigkeiten, dem die Kinder des Bf. in dem Land, in das der Bf. ausgewiesen werden soll, ausgesetzt sind; und die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen mit dem Gaststaat und dem Bestimmungsland.

(54) [...] [D]er GH nimmt zur Kenntnis, dass die Verurteilung, die am 1.11.2001 vom Strafgericht La Côte des Kantons Waadt für gewerbsmäßige Geldwäscherei im Rahmen eines Drogenhandels [...] ausgesprochen wurde und die sich auf Fakten aus 1999 bezog, die einzige ist, die gegenüber dem Bf. erfolgte. Es ist zwischen den Parteien unstrittig, dass das Verhalten, das der Bf. im Gefängnis und nach Gewährung der Halbfreiheit im April 2004 an den Tag gelegt hat, einwandfrei war. Diese positive Entwicklung, vor allem der Umstand, dass er bedingt entlassen wurde, nachdem er einen Teil seiner Strafe verbüßt hatte, kann bei der Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen berücksichtigt werden.

(55) Der Bf. ist aber für schwerwiegende Taten in Verbindung mit Drogenhandel, die hohe Geldsummen betrafen, verurteilt worden. Bei einer Straftat im Bereich von Drogen hat der GH jedoch angesichts der schädlichen Auswirkungen selbiger auf die Bevölkerung stets nachvollziehen können, dass die Behörden große Entschiedenheit gegenüber jenen beweisen, die aktiv zur Verbreitung dieser Plage beitragen.

(56) Der GH erinnert sodann daran, dass der Bf. im April 1991 mit seiner Frau und Tochter in die Schweiz eingereist ist. Er kam dort sieben Jahre lang in den Genuss einer provisorischen Aufenthaltsbewilligung, bis er 1999 festgenommen wurde. Zudem wohnte er dort bereits für zwölf Jahre, als seine provisorische Genehmigung 2003 aufgehoben wurde. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 2004 hielt sich der Bf. während der Prüfung seiner Anträge auf Aufenthaltsgenehmigung und der folgenden Rechtsmittel im Inland auf. Insgesamt befindet sich der Bf. daher seit 24 Jahren in der Schweiz. Die aus Albanien stammende Gattin des Bf. erhielt die Schweizer Staatsbürgerschaft am 18.12.2006 zugleich mit ihrem Sohn. Ihre Tochter war bereits am 10.9.2003 Schweizer Staatsbürgerin geworden.

(57) [...] Die Gattin des Bf. erlangte nach einer mehr als 14-jährigen Ehe im Februar 2004 die Scheidung, die sie wegen des kriminellen Verhaltens ihres Mannes beantragt hatte. Sie heirateten am 3.3.2007 erneut. Daher gibt es keinen Zweifel, dass die Frau des Bf. im Zeitpunkt der neuerlichen Ehe Kenntnis von der Straftat und der nachfolgenden Aufhebung seiner provisorischen Aufenthaltsgenehmigung hatte und dass sie daher die Gefahr einer möglichen Ausweisung vorhersehen konnte.

(58) Da die Gattin des Bf. albanischen Ursprungs ist und in diesem Land bis zum Alter von 29 gelebt hat, erkennt der GH keine besonderen Schwierigkeiten für den Fall der Rückkehr nach Albanien.

(59) Im Übrigen sind aus dieser Verbindung zwei Kinder entstanden, die heute 21 bzw. 25 Jahre alt sind. Diesbezüglich erinnert der GH daran, dass die Beziehungen zwischen Erwachsenen nicht notwendigerweise in den Genuss des Schutzes von Art. 8 EMRK kommen, wenn neben den normalen emotionalen Bindungen nicht das Vorliegen zusätzlicher Elemente der Abhängigkeit gezeigt wird. Die beiden Kinder besitzen die Schweizer Staatsbürgerschaft und nur die Tochter des Paares hat – für weniger als zwei Jahre – in Albanien gelebt. Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass sie ihrem Vater im Fall von dessen Rückkehr nach Albanien nachfolgen. Unter der Annahme, dass diese Bindungen in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fallen, würde die Abschiebung des Bf. aus der Schweiz dennoch keineswegs bedeuten, dass die familiären Bindungen mit seinen Angehörigen endgültig zertrennt würden, da regelmäßige Kontakte über die verschiedenen Kommunikationsmittel wie auch durch Besuche seiner Familie in Albanien aufrechterhalten werden könnten.

(60) Gewiss verweist der Bf. auf das Fehlen von Verwandtschaft in Albanien, da seine Eltern und seine zwei Brüder in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind, und darauf, dass er seit seiner Ankunft in der Schweiz nie mehr in sein Herkunftsland zurückgekehrt ist. Der Bf. ist allerdings erst im Alter von 29 Jahren in der Schweiz angekommen. Davor verbrachte er sein ganzes Leben in Albanien. Er lebte dort während seiner ganzen Schulzeit, heiratete dort und bekam dort sein erstes Kind.

(61) Unter Berücksichtigung des Vorangehenden und insbesondere der Schwere der Verurteilung des Bf. für ein Drogendelikt sowie des Umstands, dass er die meiste Zeit seines Lebens in seinem Herkunftsland verbracht hat, was annehmen lässt, dass er sich dort integrieren kann, befindet der GH, dass der belangte Staat den Ermessensspielraum nicht überschritten hat, über den er im gegenständlichen Fall verfügte.

(62) Daher erfolgte keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Üner/NL v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 251

Maslov/A v. 23.6.2008 (GK) = NL 2008, 157 = ÖJZ 2008, 779

Emre/CH (Nr. 2) v. 11.10.2011 = NL 2011, 297

Kissiwa Koffi/CH v. 15.11.2012 = NL 2012, 377

Shala/CH v. 15.11.2012 = NL 2012, 379

Udeh/CH v. 16.4.2013 = NL 2013, 125

Hasanbasic/CH v. 11.6.2013 = NL 2013, 190

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.6.2015, Bsw. 6009/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 225) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_3/K.M..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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