JudikaturJustizBsw47274/15

Bsw47274/15 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
09. November 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Hentschel und Stark gg. Deutschland, Urteil vom 9.11.2017, Bsw. 47274/15.

Spruch

Art. 3 EMRK - Polizeieinsatz bei Fußballspiel ohne ausreichende Kennzeichnung der Beamten.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem materiellrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.000,– für immateriellen Schaden an jeden der Bf.; € 6.575,41 für Kosten und Auslagen an jeden der Bf. (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 9.12.2007 besuchten beide Bf. ein Fußballspiel in München. Da Ausschreitungen befürchtet wurden, wurden für dieses Spiel 227 Polizisten abgestellt, einschließlich Einheiten des Münchener Unterstützungskommandos. Letzterem gehörten auch so genannte »Videobeamte« an, welche die Vorfälle filmten. Die Beamten des Unterstützungskommandos trugen dunkle Anzüge und schwarze Helme mit Visier. Auf den Uniformen waren weder Namensschilder noch andere Erkennungszeichen befestigt. Nach Ende des Spiels sperrte die Polizei für 15 Minuten eine der Tribünen ab, auf denen sich die Anhänger eines Teams und auch die beiden Bf. aufhielten, um Konflikte zwischen rivalisierenden Fangruppen zu vermeiden.

Nach Angabe des ErstBf. verließ er die Tribüne, nachdem die Blockade aufgehoben worden war. Da sei eine Gruppe von Polizeibeamten in schwarzen Uniformen mit erhobenen Schlagstöcken auf die Besucher zugelaufen gekommen. Einige der Beamten hätten begonnen, ohne Warnung auf die Besucher einzuschlagen. Der ErstBf. sei mit einem Schlagstock am Kopf getroffen worden, wodurch er eine blutende Platzwunde erlitten hätte. Er sei vor Ort von einem Rettungssanitäter erstversorgt worden, dann aber in seine Heimatstadt zurückgekehrt, wo er sich im Krankenhaus behandeln lassen hätte. Der ZweitBf. habe die Tribüne nach Auflösung der Blockade ebenfalls verlassen, sei dann aber an der Schulter gepackt und gedreht worden und es sei ihm aus nächster Nähe Pfefferspray ins Gesicht gesprüht worden. Er habe Schwellungen und Rötungen im Gesicht erlitten sowie Schmerzen am Arm gehabt, auf welchen er geschlagen worden sei. Beide Bf. waren in der Lage, Polizeibeamte als Täter zu identifizieren, konnten aber aufgrund fehlender Erkennungszeichen auf den Uniformen keine weiteren Unterscheidungen treffen.

Die Staatsanwaltschaft München leitete am 2.1.2008 nach Presseberichten zu den Ereignissen eine Voruntersuchung ein. Am 21.1.2008 erstattete der ZweitBf. aufgrund der angeblichen Polizeigewalt Anzeige und legte zugleich einen medizinischen Befund vom selben Tag betreffend die Wirkung des Pfeffersprays auf ihn vor. Am 7.3.2008 erstatte er eine formale Strafanzeige. Der ErstBf. erstattete am 25.4.2008 Strafanzeige gegen einen unbekannten Polizisten und unterbreitete ebenfalls einen am 10.12.2007 ausgestellten medizinischen Befund, der eine Platzwunde bestätigte. Ferner brachten weitere Besucher Anzeige gegen unbekannte Polizeibeamte ein. Die daraufhin eröffneten Ermittlungen wurden unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft von einer Einheit der Münchener Polizei geführt, die für Vergehen von Beamten zuständig war. Im Rahmen des Verfahrens wurden 20 Zeugen befragt, einschließlich der Bf., des Einsatzleiters des Unterstützungskommandos sowie der Gruppenführer. Zudem standen der Ermittlungseinheit Ausschnitte von Aufnahmen der Videoüberwachung durch das Unterstützungskommando zur Verfügung, die von den Videobeamten zusammengestellt worden waren und die nach deren Ansicht die strafrechtlich relevanten und eine ausreichende Qualität aufweisenden Teile der Aufnahmen umfassten. Der Rest wurde später gelöscht. Am 10.9.2008 stellte der zuständige Staatsanwalt die Ermittlungen ein, da die Untersuchungen weder feststellen konnten, ob die Verletzungen der Bf. von Polizeibeamten zugefügt worden waren, noch wer als konkreter Täter in Frage kam. Die Bf. beriefen gegen diese Entscheidung.

Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft am 14.10.2008 wiedereröffnet und es wurden weitere Untersuchungen angeordnet. Daraufhin wurden 22 weitere Zeugen befragt, einschließlich Zugführer, Gruppenführer und Videobeamte der eingesetzten Polizeieinheiten. Die einzelnen Mitglieder der drei Einheiten des Münchener Unterstützungskommandos wurden hingegen nicht befragt, obgleich die Bf. angemerkt hatten, dass die mutmaßlichen Täter einer dieser drei Einheiten angehört hätten. Am 4.8.2009 stellte der Staatsanwalt die Ermittlungen erneut ein, da kein unverhältnismäßiges Verhalten einzelner Polizeibeamten ersichtlich wäre. Am 3.2.2011 bestätigte der Münchener Generalstaatsanwalt diese Entscheidung.

Am 19.9.2011 erklärte das OLG München den Antrag der Bf., weitere Untersuchungen durchzuführen, der von dem Gericht als Klageerzwingungsantrag gewertet wurde, für unzulässig, da ein entsprechender Antrag nur zulässig wäre, wenn die Verfolgung von einem oder mehreren identifizierten Beschuldigten verlangt worden wäre. Am 25.10.2011 brachten die Bf. eine Verfassungsbeschwerde ein, deren Zulassung das BVerfG am 23.3.2015 verweigerte.

Weitere Verfahren im Hinblick auf Anzeigen der Bf. betreffend das Delikt der Strafvereitelung im Amt oder jenes der Beweismittelunterdrückung wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), weil sie von Polizeibeamten geschlagen worden wären sowie Pfefferspray gegen sie eingesetzt worden wäre. Diese Polizisten seien aufgrund einer mangelhaften Untersuchung zudem weder identifiziert noch bestraft worden.

Zulässigkeit

(63) Der GH stellt fest, dass die Regierung vorbrachte, die Bf. hätten im Hinblick auf die behauptete Unterdrückung von Beweismitteln und Videomaterial keinen Antrag auf ein Klageerzwingungsverfahren eingebracht. In diesem Zusammenhang erwägt er, dass diese Verfahren eine unterschiedliche Ermittlung betroffen hätten. Während die Bf. erfolglos einen Antrag auf ein Klageerzwingungsverfahren bezüglich der Untersuchung von behaupteter Polizeigewalt einbrachten, taten sie dies nicht im Hinblick auf die Untersuchung der Beweismittelunterdrückung. Da die vorliegende Beschwerde der Bf. an den GH die Behauptung von Polizeigewalt betrifft, betrachtet es der GH für diese als nicht erforderlich, dass sie die innerstaatlichen Instanzen betreffend eine zweite, separate Ermittlung erschöpft haben.

(64) Überdies erhob die Regierung Einwände betreffend die Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs im Hinblick auf zwei Argumente der Bf., weil die Bf. diese Argumente in ihrer Verfassungsbeschwerde nicht angeführt hätten. Der GH stellt fest, dass der Umstand, dass die Bf. die Wirksamkeit der Untersuchung vor dem BVerfG anfochten, zwischen den Parteien unstreitig ist. Ferner bezogen sich die Bf. in ihrer Verfassungsbeschwerde auf die Rechtsprechung des GH betreffend die Verpflichtungen der Staaten unter dem verfahrensrechtlichen Zweig von Art. 2 und Art. 3 EMRK, gemäß denen Untersuchungen unverzüglich, sorgfältig und unabhängig erfolgen müssen. Der GH nimmt auch zur Kenntnis, dass die Bf. den Verlauf und die Dauer der Ermittlungen und der folgenden Gerichtsverfahren im Detail beschrieben. Somit versorgten die Bf. das BVerfG mit allen relevanten Informationen, um die Wirksamkeit der Ermittlungen zu beurteilen, die sie in ihrer Verfassungsbeschwerde angefochten haben.

(65) Was den von der Regierung erhobenen Einwand der Nichterschöpfung bezüglich der fehlenden Möglichkeit, die Wirksamkeit der Untersuchung anzufechten, betrifft, beobachtet der GH, dass sich die Bf. unter Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG darüber beschwerten, dass das OLG München die Wirksamkeit der Untersuchung nicht beurteilt und nicht eingehend auf die verschiedenen behaupteten Mängel reagiert hätte, welche die Bf. in ihrem Antrag auf ein Klageerzwingungsverfahren erläuterten. Unter Berücksichtigung des Vorbringens der Bf. im Rahmen der Verfassungsbeschwerde beim BVerfG erwägt der GH, dass die Bf. diese Beschwerde ausdrücklich und der Sache nach erhoben haben.

(66) In Anbetracht des Vorstehenden stellt der GH fest, dass die Beschwerde nicht aufgrund des Versäumnisses der Bf. abgewiesen werden kann, die innerstaatlichen Rechtsmittel auszuschöpfen. Er befindet zudem, dass die Beschwerde […] nicht offensichtlich unbegründet und auch nicht wegen anderer Gründe unzulässig ist. Somit ist sie unter dem materiellen sowie verfahrensrechtlichen Zweig des Art. 3 EMRK zulässig (einstimmig).

In der Sache

Materiellrechtlicher Aspekt der Beschwerde

(67) Der GH erwägt, dass er mit einem Streit über die genauen Ereignisse nach dem Fußballspiel am 9.12.2007 und die Handlungen, die zu den Verletzungen der Bf. führten, konfrontiert ist.

(72) Für die Beurteilung des vorliegenden Falls hält der GH zunächst fest, dass die Bf. das Fußballspiel freiwillig besuchten, aber von der Polizei auf der Tribüne für etwa 15 Minuten unfreiwillig festgehalten wurden. Jedoch beachtet der GH ebenso, dass die Blockade nur durch die Absperrung der Ausgänge aufrechterhalten wurde und sich die Besucher innerhalb der Tribüne frei bewegen konnten. Außerdem kam es zur behaupteten Polizeigewalt gemäß den Bf. erst, nachdem die Blockade aufgehoben worden war und die Bf. die Tribüne verlassen hatten. Daraus schließt der GH, dass die Bf. nicht im Sinne der Rechtsprechung des GH »unter der Kontrolle der Polizei« standen und dass die Beweislast nicht auf die Regierung verlagert werden konnte. Somit lag es an den Bf., ihr Tatsachenvorbringen mit den erforderlichen Beweisen zu belegen.

(73) Der GH stellt fest, dass die Bf. Teile der Untersuchungsakte vorgelegt haben, einschließlich ihrer eigenen und anderer Zeugenaussagen, medizinischer Befunde bezüglich ihrer Verletzungen und verschiedener Zeitungsartikel betreffend den Polizeieinsatz beim Fußballspiel. Ebenso übermittelten sie ihre Korrespondenz mit dem Büro des Staatsanwalts und ihre Beschwerden an den Generalstaatsanwalt und die innerstaatlichen Gerichte.

(74) […] Der GH beobachtet, dass der medizinische Befund des ErstBf. in der Nacht nach dem Fußballspiel ausgestellt wurde und eine blutende Platzwunde von drei Zentimetern Länge hinter seinem rechten Ohr attestierte. Der Befund gab auch an, dass gemäß den Angaben des Patienten, somit des ErstBf., die Platzwunde durch den Schlag mit einem Schlagstock verursacht wurde. Der medizinische Befund des ZweitBf. stellte eine Rötung in dessen Gesicht, möglicherweise aufgrund von Pfefferspray, fest. Jedoch wurde dieser Befund erst am 21.1.2008 ausgestellt und basierte auf den Angaben des ZweitBf. und auf Bildern, die laut seiner Aussage nach dem Fußballspiel aufgenommen wurden. Der GH erwägt, dass beide Befunde mögliche Konsequenzen einer Misshandlung untermauern, nämlich mit einem Schlagstock auf den Kopf geschlagen worden zu sein und Pfefferspray aus einer kurzen Distanz in das Gesicht gesprüht bekommen zu haben. Obgleich die Befunde die Verletzungen bestätigen, belegen sie nicht ihre spezielle Ursache. Darüber hinaus wurde der medizinische Befund des ZweitBf. erst sechs Wochen nach den behaupteten Verletzungen ausgestellt und basierte nicht auf einer Untersuchung der tatsächlichen Verletzungen.

(75) Im Hinblick auf die anderen übermittelten Dokumente erwägt der GH, dass manche der Zeugen und Presseberichte den Polizeieinsatz ähnlich wie die Bf. beschrieben. Ferner waren die Berichte der Bf. vor der Polizei und vor dem GH im Wesentlichen dieselben. Jedoch legten die Bf. dem GH keinerlei Zeugenaussagen oder andere Beweise vor, die ihre Berichte bestätigen, und keine der in den innerstaatlichen Ermittlungen befragen Personen beobachtete die angeblich gegen sie vorgenommenen Handlungen.

(76) Zuletzt stellt der GH fest, dass der ZweitBf. die behauptete Polizeigewalt erst am 21.1.2008 anzeigte und eine formelle Strafanzeige erst am 7.3.2008 einreichte. Der ErstBf. erstattete erst am 25.4.2008 Anzeige.

(77) Unter Berücksichtigung der vorliegenden Beweise erkennt der GH, dass manche der Beweise die Berichte der Bf. bestätigen. Insgesamt ist er jedoch nicht in der Lage zweifelsfrei festzustellen, dass der ErstBf. von einem Polizeibeamten mit einem Schlagstock auf den Kopf geschlagen und dass dem ZweitBf. aus nächster Nähe Pfefferspray in sein Gesicht gesprüht und er danach mit einem Schlagstock von einem Polizeibeamten auf seinen linken Oberarm geschlagen wurde.

(78) Dementsprechend stellt der GH fest, dass keine Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem materiellrechtlichen Aspekt vorliegt (einstimmig).

Verfahrensrechtliche Aspekte der Beschwerde

Vertretbare Behauptung

(79) Der GH hat seine allgemeinen Grundsätze im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Pflichten von Staaten, Behauptungen von Polizeigewalt unter Art. 3 EMRK wirksam zu untersuchen, kürzlich im Fall Bouyid/B zusammengefasst. Obwohl sich die Grundsätze auf die Anwendung von Art. 3 EMRK bei Behauptungen von Misshandlungen inhaftierter Personen oder anderer unter der Kontrolle von Beamten stehenden Personen beziehen, können sie auch auf Fälle betreffend den Einsatz von Gewalt zu Zwecken der Massenkontrolle übertragen werden [...].

(80) Zu Beginn hält der GH fest, dass die Uneinigkeit der Parteien hinsichtlich des Sachverhaltes auch die Frage betrifft, ob die Bf. eine »vertretbare Behauptung« erhoben haben, dass sie von der Polizei misshandelt wurden, und ob dadurch unter Art. 3 EMRK eine wirksame offizielle Ermittlung erforderlich geworden war.

(81) Während die Regierung argumentierte, dass eine glaubwürdige Behauptung von Polizeigewalt nicht stattgefunden hätte, unterbreiteten die Bf., dass von Beginn an ausreichend Hinweise für eine ungerechtfertigte und unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt durch die Polizei vorgelegen seien. Der GH stellt fest, dass der Staatsanwalt betreffend den Polizeieinsatz ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte, das nach § 160 StPO den Verdacht einer Straftat voraussetzte. Er beobachtet ferner, dass der Staatsanwalt in der ersten Entscheidung, die Ermittlungen einzustellen, festgehalten hat, dass die Untersuchungen Beweise hervorgebracht hätten, wonach manche Polizeibeamte auf eine unverhältnismäßige Weise und ohne dienstlichen Befehl oder offizielle Genehmigung Schlagstöcke gegen die Zuschauer, einschließlich Frauen und Kinder, eingesetzt hatten. Jedoch wiederholt der GH, dass er nicht in der Lage war zweifelsfrei festzustellen, dass der ErstBf. von einem Polizeibeamten mit einem Schlagstock auf den Kopf geschlagen und dem ZweitBf. mit einem Pfefferspray aus nächster Nähe in das Gesicht gesprüht und er danach von einem Polizeibeamten mit dem Schlagstock auf den linken Arm geschlagen wurde.

(82) In dieser Hinsicht wiederholt der GH, dass der Begriff »vertretbare Behauptung« nicht mit der Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK unter seinem materiellrechtlichen Aspekt gleichgesetzt werden kann. Eine »vertretbare Behauptung« erfordert lediglich einen begründeten Verdacht, dass Bf. von der Polizei oder einer anderen nationalen Behörde misshandelt wurden. Angesichts der von den Bf. bei der Polizei getätigten Aussagen – welche […] mit einer gewissen Verspätung erfolgten und nicht widerspruchsfrei waren –, der Presseberichte, die ihre Angaben untermauerten, und der medizinischen Befunde, die die Verletzungen der Bf. bestätigten, ist der GH der Auffassung, dass eine »vertretbare Behauptung« einer Misshandlung durch die Polizei vorlag, welche durch eine unabhängige nationale Behörde wirksam untersucht werden hätte müssen.

(83) Der GH erkennt die Schwierigkeiten an, die bei der Kontrolle großer Menschengruppen während Massenveranstaltungen auftreten können, bei denen die Polizei nicht nur die Pflicht trifft, die öffentliche Ordnung und den Schutz der Öffentlichkeit, sondern ebenso das Vertrauen in die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu wahren.

Angemessenheit der Ermittlungen

(84) Betreffend die Angemessenheit der Ermittlungen erwägt der GH zu Beginn, dass der Staatsanwalt laut dem BVerfG Herr des Verfahrens und sowohl für die Untersuchung der Straftaten als auch für die Anklageerhebung zuständig war. Basierend auf den Dokumenten in seinem Besitz ist der GH jedoch der Auffassung, dass insbesondere während der ersten Phase der Ermittlungen, bevor die erste Entscheidung zur Einstellung getroffen wurde, die Untersuchung tatsächlich in erster Linie von der Polizei durchgeführt wurde und dem Staatsanwalt lediglich eine Aufsichtsfunktion zukam.

(85) Was die zweite Phase der Ermittlungen betrifft, war die Untersuchungseinheit wiederum mit Beamten der Münchener Polizei besetzt und stand erneut unter der Aufsicht des Staatsanwalts. Der GH hat festgestellt, dass wenn Ermittlungen vor allem aufgrund praktischer Zwecke von der Polizei durchgeführt werden, die Überwachung der Polizei durch eine unabhängige Behörde nicht ausreicht, um ausreichende Garantien zu gewähren. Somit hat der GH zu beurteilen, ob die die behauptete Polizeigewalt untersuchende Einheit von den Beamten des Unterstützungskommandos, deren Einsatz untersucht wurde, ausreichend unabhängig war. In dieser Hinsicht stellt der GH fest, dass die Untersuchung nicht durch eine separate Polizeieinheit, sondern von einer auf durch Beamte begangene Straftaten spezialisierte Abteilung der Münchener Polizei unter der Aufsicht des Staatsanwalts durchgeführt wurde. Er beobachtet zudem, dass der ermittelnde Beamte kein direkter Kollege der Beamten des Unterstützungskommandos und dass die einzige Verbindung zwischen diesen beiden Abteilungen ihr gemeinsamer Polizeipräsident sowie der Umstand war, dass sie beide zur Münchener Polizei gehörten. Obwohl es der GH für erstrebenswert erachtet, dass Untersuchungen im Hinblick auf den Einsatz von Gewalt durch die Polizei – sofern möglich – von unabhängigen und getrennten Einheiten durchgeführt werden, sieht er keine ausreichende hierarchische, institutionelle oder praktische Verbindung zwischen der Untersuchungsabteilung und dem Unterstützungskommando, die die Untersuchungen an sich unzuverlässig oder unwirksam machen würden.

(86) Der GH stellt ferner fest, dass am 20.10.2008 ein internes Treffen betreffend die Untersuchung zwischen dem Leiter der Untersuchungseinheit und unterschiedlichen Abteilungsleitern der Münchener Polizei, einschließlich der Zugführer der Unterstützungskommandos, stattgefunden hatte, an denen der zuständige Staatsanwalt nicht teilnahm. Wo die Untersuchung wie im vorliegenden Fall durch eine Einheit derselben Polizei durchgeführt wird und nur unter Aufsicht einer unabhängigen Behörde steht, ist es von erhöhter Bedeutung, dass die Art und Weise, auf welche sie durchgeführt wird, auch den Anschein von Unabhängigkeit verleiht, um so das Vertrauen der Öffentlichkeit zu erhalten.

(87) […] [Im Hinblick auf die Unverzüglichkeit der Ermittlungen] erwägt der GH, dass die Münchener Polizei am 2.1.2008 eine Voruntersuchung einleitete, nachdem sie durch Presseberichte auf Behauptungen von Polizeigewalt im Zusammenhang mit dem Fußballspiel vom 9.12.2007 aufmerksam geworden war. Die Untersuchung dauerte 19 Monate und wurde schließlich am 4.8.2009 durch den Staatsanwalt eingestellt. Basierend auf all den sich in seinem Besitz befindenden Dokumenten stellt der GH keine besonders langen Zeiträume der Inaktivität während der Ermittlungen fest. In Summe wurden etwa 40 Zeugen befragt, Videomaterial überprüft, ärztliche Befunde untersucht und weitere Ermittlungsschritte gesetzt. Die Ermittlungen scheinen somit hinreichend unverzüglich und zweckmäßig gewesen zu sein.

(88) Im Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeit der Ermittlung beobachtet der GH ebenfalls, dass die Bf. erst am 7.3. und am 25.4.2008 offiziell Anzeige erstatteten. Folglich konnten ihre spezifischen Anzeigen erst nach den jeweiligen Daten untersucht werden. Darüber hinaus hielt die Verzögerung bei der Erhebung der Anzeigen die zuständigen Behörden davon ab, unverzüglich eine forensische Untersuchung der Verletzungen der Bf. anzuordnen und trug somit zu den Schwierigkeiten im Rahmen der Ermittlungen bei. Der GH wiederholt in diesem Zusammenhang, dass eine unverzügliche forensische Untersuchung wesentlich ist, da Anzeichen von Verletzungen oftmals relativ rasch verschwinden und gewisse Verletzungen innerhalb von Wochen oder sogar wenigen Tagen heilen.

(89) Darüber hinaus stellt der GH fest, dass die Bf., die während der Ermittlungen von einem Anwalt unterstützt wurden, Zugang zu den Ermittlungsakten hatten, gewisse Untersuchungsmaßnahmen anfordern konnten und über den Fortschritt der Ermittlungen informiert wurden. Obgleich nicht alle der beantragten Maßnahmen vorgenommen wurden und die Bf. bei der Sitzung am 20.10.2008 nicht beteiligt waren, erwägt der GH, dass sie effektiv in der Lage waren, an der Untersuchung teilzunehmen.

(90) Im Hinblick auf die tatsächlich gesetzten Untersuchungsmaßnahmen befindet der GH, dass die eingesetzten Polizisten des Unterstützungskommandos keine Namensschilder oder andere individuelle Erkennungszeichen, sondern lediglich Identifikationsnummern der Einheit auf der Rückseite der Helme trugen.

(91) Der GH wiederholt, dass wenn die zuständigen nationalen Behörden maskierte Polizeibeamte einsetzen, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten oder Festnahmen durchzuführen, diese Beamten dazu verpflichtet sein müssen, sichtbare Unterscheidungsmerkmale wie etwa eine Identifikationsnummer zu tragen. Das Tragen solcher Abzeichen würde deren Anonymität sicherstellen, während es die Identifizierung und Befragung im Falle von Anfechtungen betreffend die Art und Weise der Durchführung des Einsatzes ermöglichte. Die sich [ansonsten] ergebende Unmöglichkeit für Augenzeugen und Opfern, Beamte, die angeblich Misshandlungen begangen haben, zu identifizieren, kann zu faktischer Straffreiheit für eine gewisse Gruppe von Polizisten führen.

(92) In den vorherigen Fällen des GH betreffend die Effektivität von Untersuchungen gegen maskierte Polizeibeamte konnten die Misshandlungen eindeutig einem der eingesetzten Polizisten zugerechnet werden. Im vorliegenden Fall war der GH basierend auf den ihm vorliegenden Beweisen nicht in der Lage, eine andere Schlussfolgerung als die nationalen Behörden zu ziehen und festzustellen, dass die Verletzungen der Bf. ein direktes Ergebnis des Verhaltens von einem oder mehreren der eingesetzten Polizisten waren. Somit konnte der Einsatz von behelmten Polizisten ohne individuelle Erkennungszeichen an sich die folgenden Ermittlungen nicht unwirksam machen.

(93) In Abwesenheit solcher Erkennungszeichen für behelmte Polizisten waren die Ermittlungsmaßnahmen, die den Behörden offen standen, um die Identität jener Personen festzustellen, die für die behauptete Anwendung von exzessiver Gewalt und dadurch verursachte Misshandlungen verantwortlich waren, jedoch von größerer Bedeutung.

(94) Gemäß der Rechtsprechung des GH müssen die Behörden alle ihnen verfügbaren angemessenen Maßnahmen setzen, um Beweise über die fraglichen Ereignisse sicherzustellen. Die Schlussfolgerungen der Ermittlung müssen auf einer sorgfältigen, objektiven und unparteiischen Prüfung aller relevanten Elemente basieren. Die Nichtbeachtung offensichtlicher Ermittlungsschritte untergräbt entscheidend die Eignung der Ermittlung, die Umstände des Falles und die Identität der Verantwortlichen festzustellen. Die Art und der Grad der Überprüfung, die die Mindestschwelle der Wirksamkeit der Untersuchung erfüllen, hängen jedoch von den Umständen des Einzelfalls ab und müssen auf Basis aller relevanten Fakten und im Hinblick auf die praktischen Gegebenheiten der Ermittlungsarbeit beurteilt werden.

(95) Die Sicherstellung und Analyse des originalen Videomaterials, das von den eingesetzten Unterstützungskommandos aufgenommen wurde, stellte eine der offensichtlichen Ermittlungsschritte dar, was die Umstände des Ausbruchs von Gewalt und den behaupteten unverhältnismäßigen Einsatz von Zwang, wie zunächst von der Presse berichtet und dann von den Bf. vorgebracht, betraf. Der GH erwägt, dass die Behandlung, Sicherstellung und Analyse des originalen Videomaterials eine wesentliche Ermittlungsmaßnahme darstellte, die geeignet war, näheren Aufschluss darüber zu geben, was passiert war, ob die behauptete, durch die Polizei eingesetzte Gewalt unverhältnismäßig war, und spezifischer, ob die Bf. – unter Umständen, die einen solchen Eingriff nicht rechtfertigten – von der Polizei tatsächlich geschlagen und mit Pfefferspray besprüht wurden […]. Im Hinblick darauf befindet der GH, dass der Ermittlungseinheit lediglich Ausschnitte des originalen Videomaterials zur Verfügung gestellt wurden, welche sie gemeinsam mit anderen, online gefundenen Videos des Fußballspiels und der nachfolgenden Ereignisse auswertete. Die Regierung erklärte jedoch nicht eindeutig, ob das gesamte Videomaterial von einer unabhängigen Einheit analysiert wurde, warum der Ermittlungseinheit nur Ausschnitte des Videomaterials vorgelegt wurden oder wann und von wem das Videomaterial gelöscht wurde.

(96) Insoweit sich die Regierung auf das Verfahren bezog, demgemäß das gesamte Videomaterial durch den entsprechenden Videobeamten als Standardverfahren überprüft wurde, schließt der GH, dass die Videobeamten im Zusammenhang mit der Untersuchung über mutmaßliche Polizeigewalt durch Mitglieder ihrer eigenen Einheit nicht als unabhängig betrachtet werden können.

(97) Außerdem war der Zeitpunkt der Löschung von Teilen des Videomaterials von besonderer Bedeutung, da sich die Münchener Polizei ab dem 15.12.2007 aufgrund von Presseberichten betreffend die Ereignisse am Spieltag bewusst war, dass Behauptungen von Polizeigewalt existierten. Darüber hinaus geht aus dem Material der Ermittlungsakte klar hervor, dass die Münchener Polizei spätestens am 18.12.2007 eine Untersuchung des Verhaltens des eingesetzten Unterstützungskommandos vorgesehen hatte.

(98) Der GH akzeptiert, dass das Versagen, alle Videoaufnahmen zu sichern und durch unabhängige Ermittlungseinheiten analysieren zu lassen, grundsätzlich durch andere Ermittlungsmaßnahmen ausgeglichen werden konnte. […] Eine solche Maßnahme hätte die Befragung von weiteren eingesetzten Polizeibeamten sein können. Der GH erkennt an, dass etwa 40 Zeugen, einschließlich der Gruppenführer der eingesetzten Unterstützungskommandos, befragt wurden. Er erwägt nichtsdestotrotz, dass nicht alle in jenem Bereich, in dem die Bf. mutmaßlich misshandelt wurden, eingesetzten Beamten vernommen wurden. Darüber hinaus wurden die Videobeamten erst befragt, nachdem die Untersuchung am 14.10.2008 wiedereröffnet worden war, und es wurde keine Anstrengung unternommen, um den Rettungssanitäter, der den ErstBf. angeblich im Stadion behandelt hatte, zu identifizieren und zu befragen.

(99) Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen schlussfolgert der GH, dass der Einsatz von behelmten Beamten ohne individuelle Erkennungszeichen und die daraus folgende Unmöglichkeit für Augenzeugen und Opfern, die Beamten direkt zu identifizieren, die die gerügte Misshandlung mutmaßlich begangen haben, die Wirksamkeit der Ermittlung von Anfang an beeinträchtigen konnte. Eine solche Situation erforderte besondere Untersuchungsbemühungen der ermittelnden Behörden, um die Ursache für die Verletzungen der Opfer und die Identität der verantwortlichen Personen festzustellen sowie herauszufinden, ob die Polizeibeamten Gewalt anwandten und – sofern dies der Fall war –, ob diese Gewalt mit Blick auf die Sicherheitslage, mit der die eingesetzten Einheiten konfrontiert waren, verhältnismäßig war. Der GH wiederholt, dass jeder Fehler in einer Ermittlung, der deren Eignung untergräbt, den Sachverhalt oder die Identität der verantwortlichen Personen festzustellen, es riskiert, mit dem unter dem verfahrensrechtlichen Zweig von Art. 3 EMRK erforderlichem Maßstab der Wirksamkeit einer Untersuchung in Konflikt zu geraten. Im vorliegenden Fall befindet er z.B., dass die Sicherstellung und Analyse der originalen Videoaufnahmen durch eine unabhängige Behörde oder die Befragung anderer Mitglieder der eingesetzten Unterstützungskommandos oder anderer Zeugen, wie dem Rettungssanitäter, der den ErstBf. angeblich im Stadion behandelte, die Ereignisse nach dem Fußballspiel vom 9.12.2007 in München, die Ursache der Verletzungen der Bf. und die vermeintliche Misshandlung durch die Polizeibeamten möglicherweise hätten klären können. Da diese offensichtlichen Ermittlungsschritte nicht umfassend verfolgt wurden, befindet der GH, dass das Fehlen von Kennzeichen bei behelmten Polizeibeamten und alle daraus resultierenden Schwierigkeiten während der folgenden Ermittlungen unzureichend ausgeglichen wurden.

Überprüfung der staatsanwaltlichen Entscheidung

(100) Insoweit als die Bf. das Fehlen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsmittels rügten, um sich über die behauptete Unwirksamkeit einer Ermittlung zu beschweren, hat der GH bereits festgestellt, dass die verfahrensrechtliche Verpflichtung nach Art. 2 EMRK nicht notwendigerweise eine gerichtliche Überprüfung von investigativen Entscheidungen als solche erfordert. […]

(102) Soweit gerichtliche Überprüfungen betroffen sind, stellt der GH fest, dass der Antrag der Bf., weitere Untersuchungen durchzuführen, für unzulässig erklärt wurde, da das OLG München befand, dass diese Verfahren nicht darauf gerichtet waren, den Beschuldigten zu identifizieren oder die Ermittlungen zu ersetzen. Nichtsdestotrotz beurteilte das BVerfG die Ermittlungen aufgrund der Verfassungsbeschwerde der Bf. im Detail und bezog sich auf die Rechtsprechung des GH betreffend die verfahrensrechtlichen Pflichten unter Art. 2 und Art. 3 EMRK. Darüber hinaus scheint das BVerfG – basierend auf der Rechtsprechung des BVerfG und der maßgeblichen Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes – grundsätzlich in der Lage zu sein, ein Urteil über die Einstellung einer strafrechtlichen Ermittlung aufzuheben und eine Ermittlung einzuleiten oder wiederzueröffnen. Somit hatten die Bf. ein Rechtsmittel zur Verfügung, um die Unwirksamkeit der Ermittlungen anzufechten.

Schlussfolgerung

(103) Nach Würdigung aller maßgeblichen Elemente und Umstände der Ermittlung in diesem besonderen Fall kommt der GH zu dem Schluss, dass keine effektive Untersuchung erfolgte, da der Einsatz von behelmten Polizeibeamten ohne Erkennungszeichen und die für die Ermittlung daraus folgenden Schwierigkeiten nicht ausreichend durch andere investigative Maßnahmen ausgeglichen wurden. Folglich stellt der GH eine Verletzung von Art. 3 EMRK unter seinem verfahrensrechtlichen Aspekt fest (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 2.000,– für immateriellen Schaden an jeden der Bf.; € 6.575,41 für Kosten und Auslagen an jeden der Bf. (jeweils einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Ogur/TR v. 20.05.1999 (GK) = NL 1999, 98

Atakaya/TR v. 20.10.2005

Ramsahai u.a./NL v. 15.5.2007 (GK) = NL 2007, 128

Hristovi/BG v. 10.11.2011

Bouyid/B v. 28.9.2015 (GK) = NLMR 2015, 403

Ciorap Nr. 5/MD v. 15.3.2016

Armani da Silva/GB v. 30.3.2016 (GK) = NLMR 2016, 315

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.11.2017, Bsw. 47274/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 528) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_6/Hentschel.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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