JudikaturJustizBsw38885/02

Bsw38885/02 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Juli 2005

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache N. gegen Finnland, Urteil vom 26.7.2005, Bsw. 38885/02.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK - Gefahr einer Misshandlung im Kongo. Verletzung von Art. 3 EMRK (6:1 Stimmen).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung, dass die Abschiebung des Bf. in den Kongo eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen würde, stellt für sich eine ausreichend gerechte Entschädigung für jeden vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der aus der Demokratischen Republik Kongo stammende Bf. reiste am 20.7.1998 nach Finnland ein. Sofort nach seiner Ankunft stellte er einen Asylantrag. Zu seinen Fluchtgründen befragt brachte er vor, als ehemaliges Mitglied einer Spezialeinheit zum Schutz von Präsident Mobutu (Division Spéciale Présidentielle DSP) drohe ihm im Kongo die Gefahr von Verfolgung. Nach der Machtübernahme durch Laurent Kabila hätten dessen Anhänger damit begonnen, all jene zu töten, die für Mobutu gearbeitet hatten. Im Falle seiner Rückkehr würde auch er als früheres Mitglied der DSP getötet werden. Außerdem gehöre er wie der ehemalige Präsident dem Stamm der Ngbandi an. Zu seinen politischen Aktivitäten im Kongo befragt, gab der Bf. an, als Geheimagent der DSP habe seine Aufgabe vor allem darin bestanden, Regimekritiker zu denunzieren.

Am 6.3.2001 ordnete die finnische Direktion für Immigration die Abschiebung des Bf. in den Kongo an und verbot ihm für die Dauer von zwei Jahren die Wiedereinreise nach Finnland. Die Behörde erachtete sein Vorbringen als unglaubwürdig. Die bloße Zugehörigkeit zum gleichen Stamm wie Präsident Mobutu und der Dienst in einem niedrigen Rang in dessen Verwaltung würde im Falle einer Rückkehr des Bf. keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung befürchten lassen. Außerdem stellte die Direktion für Immigration fest, dass der Bf. im August 1999 zweimal wegen Ladendiebstahls verurteilt worden sei. Die dagegen vom Bf. erhobene Berufung wurde am 20.6.2002 vom Verwaltungsgericht Helsinki abgewiesen. Auch das Verwaltungsgericht erachtete sein Vorbringen als unglaubwürdig. Der Bf. brachte ein weiteres Rechtsmittel beim Obersten Verwaltungsgericht ein und beantragte die Zuerkennung aufschiebender Wirkung.

Am 30.10.2002 wurde der Bf. festgenommen und über seine für den 5.11.2002 geplante Abschiebung informiert. An diesem Tag entschied die finnische Regierung aufgrund einer entsprechenden Empfehlung des EGMR nach Art. 39 VerfO, den Bf. nicht vor der Entscheidung des EGMR über seine Beschwerde abzuschieben.

Am 4.3.2003 bestätigte das Oberste Verwaltungsgericht die Entscheidung der Vorinstanzen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. bringt vor, seine drohende Abschiebung in den Kongo würde im Falle ihrer tatsächlichen Durchführung eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen Behandlung oder Strafe) begründen. Außerdem behauptet er eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:

1. Zur Feststellung des Sachverhalts:

Der GH entsandte zur Feststellung des Sachverhalts zwei Delegierte nach Helsinki. Diese befragten unter anderem eine Staatsangehörige des Kongo namens K. K., die angab, mit dem Bf. zusammengearbeitet zu haben und bestätigte, dass dieser in der DSP gedient hätte. Der GH erachtet diese das Vorbringen des Bf. bestätigenden Aussagen als glaubwürdig. Dazu ist anzumerken, dass den finnischen Behörden bei der Entscheidung über den Antrag des Bf. keine Aussage von K. K. vorlag.

Der GH hat gewisse Vorbehalte gegenüber den Aussagen des Bf. vor seinen Delegierten und ist nicht bereit, alle seine Behauptungen als gegeben zu akzeptieren. Insbesondere die Schilderung seiner Reise nach Finnland erscheint nicht glaubwürdig. Angesichts der gesamten ihm vorliegenden Beweise ist der GH jedoch der Meinung, dass die Schilderung der Vorgeschichte seiner Flucht aus dem Kongo alles in allem als ausreichend schlüssig und glaubwürdig anzusehen ist. Der GH anerkennt daher, dass der Bf. im Mai 1997 aus dem Kongo floh, als die Truppen Laurent Kabilas das Regime Präsident Mobutus stürzten. Es scheint auch glaubhaft, dass der Bf., selbst wenn er keinen hohen militärischen Rang bekleidete, zum inneren Kreis der DSP und des Umfelds des Präsidenten gehörte. Schließlich erachtet der GH auch die Behauptung des Bf. als glaubhaft, er sei als Mitglied der DSP an der Verfolgung politischer Gegner Präsident Mobutus beteiligt gewesen. Die finnischen Behörden und Gerichte, die das Vorbringen des Bf. allgemein für unglaubwürdig hielten, scheinen die Möglichkeit nicht ausgeschlossen zu haben, dass er in der DSP gedient hatte. Sie hatten auch nicht die Möglichkeit, Frau K. K. dazu zu befragen. Die Ansicht des GH widerspricht daher in keiner Weise den Feststellungen der finnischen Behörden und Gerichte.

2. Zur Gefahr einer Misshandlung:

Der GH erinnert daran, dass die Vertragsstaaten nach aner­kanntem internationalem Recht und vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflich­tungen das Recht haben, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu regeln. Die Ausweisung eines Fremden durch einen Konventionsstaat kann jedoch eine Verantwortlichkeit dieses Staats nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht wurden, die betroffene Person würde im Fall ihrer Abschiebung einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt, im Heimatstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden. In solchen Fällen verpflichtet Art. 3 EMRK, die Person nicht in dieses Land abzuschieben.

Aufgrund des absoluten Charakters des durch Art. 3 EMRK gewährten Schutzes vor Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sind die Aktivitäten der betroffenen Person, wie unerwünscht oder gefährlich diese auch sein mögen, nicht in Betracht zu ziehen. Der durch Art. 3 EMRK gewährte Schutz ist insofern weiter als der durch Art. 33 GFK eingeräumte.

Da der Bf. den Kongo bereits vor acht Jahren verlassen hat, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Interesse der jetzigen Machthaber, den Bf. wegen seiner Aktivitäten in der für den Schutz des früheren Präsidenten Mobutu verantwortlichen Spezialeinheit DSP festzunehmen und möglicherweise zu misshandeln, im Laufe der Zeit abgenommen hat.

Der GH misst den Aktivitäten des Bf. in der DSP besonderes Gewicht zu. Als Informant dieser Spezialeinheit stand er in direktem Kontakt zu sehr hochrangigen Offizieren, die zum engsten Kreis um Präsident Mobutu zählten. Aufgrund dieser Aktivitäten besteht noch immer eine ernsthafte Gefahr für den Bf., im Falle seiner Abschiebung in den Kongo einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterzogen zu werden.

Das Risiko einer Misshandlung, dem der Bf. durch seine Abschiebung in den Kongo ausgesetzt würde, geht nicht notwendigerweise von den gegenwärtigen Machthabern aus, sondern von Angehörigen von Dissidenten, die versuchen könnten, sich am Bf. für dessen im Dienste Präsident Mobutus gesetzte Handlungen zu rächen. Der GH erinnert daran, dass er im Fall H. L. R./F die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK auf Fälle nicht ausgeschlossen hat, in denen die Gefahr von Privatpersonen ausgeht. Der GH stellte in diesem Urteil fest, dass selbst in einem solchen Szenario das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr gezeigt werden müsse, vor der die staatlichen Behörden keinen ausreichenden Schutz bieten könnten. Die Feststellung einer allgemeinen Gefahrensituation im Heimatstaat genüge nicht für die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Abschiebung, sofern die betroffene Person nicht darlegen könne, dass ihre Situation schlechter sei als jene der übrigen Bewohner des Staates.

Die vorliegende Beschwerde unterscheidet sich insofern vom Fall H. L. R./F, als die Behauptungen des Bf., in der DSP gedient und zum inneren Kreis um Präsident Mobutu gehört zu haben sowie an der Verfolgung politischer Gegner des Präsidenten beteiligt gewesen zu sein, durch Beweise untermauert wurden. Unter diesen Umständen besteht Grund zur Annahme, dass die Situation des Bf. schlechter sein könnte als die der meisten anderen ehemaligen Anhänger Mobutus und dass die Behörden nicht unbedingt fähig oder gewillt wären, ihn zu beschützen. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Asylverfahren des Bf. in Finnland zuteil wurde, bei Angehörigen von Dissidenten, die möglicherweise von Handlungen des Bf. im Dienste Präsident Mobututs betroffen waren, Rachegefühle geweckt hat.

Da der durch Art. 3 EMRK gewährte Schutz absolut ist, werden diese Feststellungen weder durch die Art der Tätigkeit des Bf. in der DSP noch durch die von ihm in Finnland begangenen Vergehen beeinträchtigt.

Unter diesen Umständen gelangt der GH zu dem Schluss, dass ausreichende Beweise vorgelegt wurden, die stichhaltige Gründe für die Annahme darlegen, der Bf. würde im Falle seiner Abschiebung in den Kongo der ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt. Solange diese Gefahr besteht, würde die Vollstreckung der Ausweisungsentscheidung daher Art. 3 EMRK verletzen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Maruste).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Keine gesondere Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Feststellung, dass die Abschiebung des Bf. in den Kongo eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen würde, stellt für sich eine ausreichend gerechte Entschädigung für jeden vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Vilvarajah u.a./GB v. 30.10.1991, A/215, NL 1992/1, 15; ÖJZ 1992,

309.

Chahal/GB v. 15.11.1996, NL 1996, 168; ÖJZ 1997, 632. H. L. R./F v. 29.4.1997, NL 1997, 92; ÖJZ 1998, 309. Hilal/GB v. 6.3.2001, ÖJZ 2002, 436.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.7.2005, Bsw. 38885/02, entstammt der Zeitschrift Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 198) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_4/N.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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