JudikaturJustizBsw35731/97

Bsw35731/97 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
17. Dezember 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Venema gegen die Niederlande, Urteil vom 17.12.2002, Bsw. 35731/97.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Entzug der Obsorge ohne Anhörung der Eltern.

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6

EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 1 1. ZP EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 15.000,- für immateriellen Schaden; EUR 22.475,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. Dirk Venema und Wubbechien Venema-Huiting sind die Eltern der am 14.2.1994 geborenen DrittBf. Kimberly Venema. Im Mai 1994 bemerkten die Eltern ein gelegentliches Aussetzen der Atmung ihrer Tochter. Sie ließen sie daher ua. von Ärzten der Universitätsklinik Leiden untersuchen. Da diese kein körperliches Gebrechen feststellen konnten, mutmaßten sie, dass die Mutter von Kimberly am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Anm.: Auch bekannt als Munchausen Syndrome by Proxy (MSBP): Es handelt sich dabei um eine seltene, aber schwerwiegende Sonderform der Kindesmisshandlung. Dabei erfinden vorwiegend Mütter Krankheiten ihres Kindes, täuschen sie vor oder erzeugen sie durch aktive Schädigung. Ziel sind immer wiederholte ärztliche Untersuchungen, Aufmerksamkeit und Zuwendung zugunsten des bzw. der Erwachsenen aufgrund einer ausgeprägten Persönlichkeitsstörung.) leiden könnte. Kimberly wurde im Folgenden in ein psychiatrisches Krankenhaus für Kinder verlegt. Im August 1994 informierten die Ärzte das Jugendamt (Raad voor de Kinderbescherming) über ihren Verdacht. Dieses wies sie an, angemessene medizinische Betreuung zu gewähren und das Problem mit den Bf. zu besprechen. Die Familie wurde daraufhin medizinisch beobachtet, die Ärzte sprachen jedoch mit den Bf. nicht über ihren Verdacht.

Am 14.12.1994 wurde Kimberley erneut ins Krankenhaus gebracht. In einem Bericht der Universitätsklinik Leiden und der psychiatrischen Krankenanstalt an das Jugendamt vom 3.1.1995 wurde festgestellt, dass sich Kimberley in Lebensgefahr befände und dringender Handlungsbedarf bestünde. Ein Gespräch über die Angelegenheit mit den Eltern wäre wegen der Gefahr unvorhersehbarer Reaktionen nicht möglich. Auf Antrag des Jugendamts ordnete die Jugendrichterin (Kinderrechter) des Bezirksgerichts (arrondissementsrechtbank) Den Haag am 4.1. bzw. am 6.1.1995 die Trennung Kimberleys von ihren Eltern und ihre vorläufige Unterbringung in einer Pflegefamilie an. Die Bf. erfuhren von diesen Verfügungen erst, als sie am 6.1.1995 ihre Tochter im Krankenhaus abholen wollten und ihnen jeglicher Kontakt zu ihr verweigert wurde. Nachdem die Richterin am 10.1.1995 die Bf. angehört hatte, ordnete sie die Einholung weiterer psychiatrischer Gutachten an. Einem Gutachten vom 27.1.1995 zufolge stellten die Bf. keine Gefahr für ihre Tochter dar.

Die Bf. erhoben am 9.2.1995 Berufung gegen die Entscheidungen der Jugendrichterin. Sie legten diverse Gutachten und Stellungnahmen vor, die sich sehr kritisch gegenüber der Diagnose der Universitätsklinik Leiden äußerten. Das Berufungsgericht (gerechtshof) Den Haag wies die Berufung dennoch ab, woraufhin die Bf. den Obersten Gerichtshof (Hoge Raad) anriefen.

Aufgrund des Gutachtens eines Kinderpsychiaters, demzufolge keinerlei Anzeichen für eine psychiatrische Störung der Mutter oder eine Misshandlung vorlägen und die Atemprobleme des Kindes auf eine organische Ursache zurückzuführen seien, wurde die vorläufige Anordnung der Unterbringung Kimberlys in einer Pflegefamilie von der Jugendrichterin am 22.5.1995 aufgehoben und sie wieder in die Obhut ihrer Eltern gegeben. Der Oberste Gerichtshof wies daraufhin die Berufung als unzulässig wegen mangelnden rechtlichen Interesses zurück.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).

Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK:

Die Bf. bringen vor, die Trennung Kimberlys von ihren Eltern, die durch keine medizinischen Gründe gerechtfertigt war und nicht sofort aufgehoben wurde, nachdem dies ersichtlich geworden war, habe sie in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt. Außerdem wären die Bf. nicht in das Verfahren, das zur Anordnung der Trennung führte, eingebunden gewesen.

Es ist unbestritten, dass die Trennung Kimberlys von ihren Eltern einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens darstellt. Art. 8 EMRK ist daher anwendbar.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Es steht außer Streit, dass der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte und ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz der Rechte Kimberlys, verfolgte. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war. Auch wenn Art. 8 EMRK keine ausdrücklichen verfahrensrechtlichen Garantien beinhaltet, muss der Entscheidungsprozess, der einem Eingriff vorangeht, fair sein und die von Art. 8 EMRK geschützten Interessen beachten. Die Eltern müssen in einem Maße beteiligt sein, das den erforderlichen Schutz ihrer Interessen gewährt. Der GH räumt ein, dass es in Notfällen, in denen Maßnahmen zum Schutz eines Kindes getroffen werden müssen, aufgrund des unverzüglichen Handlungsbedarfs nicht immer möglich ist, die Obsorgeberechtigten in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen.

Im vorliegenden Fall wurde Kimberleys Situation bereits seit August 1994 beobachtet. Das Jugendamt wies die Ärzte ausdrücklich an, ihre Bedenken mit den Bf. zu besprechen, was diese unterließen. Der GH findet es erstaunlich, dass diese Anweisung nicht wiederholt wurde und sich das Jugendamt nie von ihrer Befolgung überzeugte. Die Bf. wurden in keinem Stadium des Entscheidungsprozesses nach ihrer Meinung zu den Bedenken über ihre Familiensituation befragt oder in irgendeiner anderen Form mit einbezogen. Das Verbot, Kimberly im Krankenhaus abzuholen und sie zu sehen, muss eine völlige Überraschung für ihre Eltern gewesen sein.

Dem GH liegt keine zufriedenstellende Erklärung dafür vor, warum die Ärzte der Universitätsklinik Leiden oder das Jugendamt ihre Bedenken nicht mit den Bf. besprechen konnten. Der GH ist von der im Bericht vom 3.1.1995 ausgedrückten Meinung, Kimberlys Eltern könnten unvorhersehbar reagieren, nicht überzeugt. Diese Rechtfertigung alleine kann, mag sie auch relevant sein, nicht ausreichen, um Kimberlys Eltern von einem Verfahren auszuschließen, das von immenser persönlicher Bedeutung für sie war. Dies umso mehr in Anbetracht der Tatsache, dass sich Kimberly in der Zeit unmittelbar vor Erlass der gerichtlichen Verfügungen im Krankenhaus und damit in Sicherheit befand.

Für die Eltern wäre entscheidend gewesen, ihre Ansicht in irgendeinem Stadium vor Erlass der vorläufigen Anordnung der Trennung von ihrer Tochter vorbringen zu können. Das ungerechtfertigte Versäumnis, den Bf. eine Teilnahme an diesem Entscheidungsprozess zu erlauben, verweigerte diesen den angemessenen Schutz ihrer durch Art. 8 EMRK geschützten Interessen, einschließlich ihres Rechts, die Notwendigkeit der vom Jugendamt angestrebten Maßnahme in Frage zu stellen. Diese Maßnahme bildete die Grundlage für die bedauerliche Trennung der Bf. und ihrer Tochter für die Dauer von fünf Monaten und 18 Tagen. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6

EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 15.000,-- für immateriellen Schaden; EUR 22.475,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

B./GB v. 8.7.1987, A/121.

McMichael/GB v. 24.2.1995, A/307-B (= ÖJZ 1995, 704). K. T./FIN v. 12.7.2001 (= NL 2001, 153).

P., C. S./GB v. 16.7.2002 (= NL 2002, 153).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.12.2002, Bsw. 35731/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2003, 14) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/03_1/Venema.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.