JudikaturJustizBsw3427/13

Bsw3427/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. November 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Hadzimejlic u.a. gg. Bosnien-Herzegowina, Urteil vom 3.11.2015, Bsw. 3427/13.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK - Unterbringung in Pflegeheim ohne gerichtliche Prüfung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 21.250,– an Frau Hadžimejlic, € 27.500,– an Herrn Crepulja und € 32.500,– an Herrn Busovaca für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das Urteil betrifft drei Beschwerden. Die 1959, 1978 bzw. 1958 geborenen Bf. sind gegenwärtig im Pflegeheim Drin untergebracht.

Der ErstBf., Frau Hadžimejlic, wurde am 23.11.2006 vom Gemeindegericht Visoko auf Antrag des Sozialamts die Rechtsfähigkeit entzogen. Es wurde festgestellt, dass bei ihr paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden war und eine Unterbringung in einem Pflegeheim in ihrem Interesse sei. Am 23.1.2007 wurde sie vom Sozialamt im Pflegeheim Drin untergebracht. Am 25.4.2013 stellte das Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina aufgrund einer Beschwerde der ErstBf. fest, dass die Freiheitsentziehung nicht »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgt war, da sie sich ohne eine Entscheidung eines zuständigen Zivilgerichts in psychiatrischer Unterbringung befand. Es urteilte, dass wegen des Mangels einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Unterbringung auch Art. 5 Abs. 4 EMRK verletzt wurde. Das Verfassungsgericht wies das Sozialamt Visoko an, Maßnahmen zu ergreifen, um die Achtung der Rechte der Bf. gemäß Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK zu gewährleisten. Am 3.6.2014 ersuchte das Sozialamt Visoko das Gemeindegericht Kiseljak, die Notwendigkeit der Unterbringung der Bf. im Pflegeheim zu überprüfen. Am 8.9.2014 entschied dieses auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens, dass der aktuelle Gesundheitszustand der ErstBf. ihre weitere Unterbringung im Pflegeheim nicht erfordere. Diese Entscheidung wurde mit 26.9.2014 rechtskräftig. Die Bf. wurde bis heute nicht aus dem Pflegeheim entlassen.

Der ZweitBf., Herr Crepulja, wurde auf Empfehlung der psychiatrischen Klinik in Sarajewo, wo er wegen Schizophrenie behandelt wurde, vom Sozialamt Vares am 15.9.2004 im Pflegeheim Drin untergebracht. Es wurde festgestellt, dass der Bf. wegen seiner Krankheit unfähig sei, alleine zu leben und dass die familiären Umstände keine angemessene Pflege zu Hause ermöglichen würden. Am 25.6.2013 stellte das Verfassungsgericht aufgrund einer vom ZweitBf. erhobenen Beschwerde fest, dass die Freiheitsentziehung nicht »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« erfolgt sei. Es sprach ihm eine Entschädigung von umgerechnet rund € 1.500,– zu. Das Gemeindegericht Kiseljak stellte am 29.11.2013 fest, dass der Gesundheitszustand des ZweitBf. keine weitere Unterbringung erfordere. Der Bf. ist bis jetzt noch nicht aus dem Pflegeheim Drin entlassen worden.

Der DrittBf., Herr Busovaca, wurde in unterschiedlichen Zeiträumen in den Jahren 1997, 1998, 1999 an der psychiatrischen Klinik in Tuzla wegen Schizophrenie behandelt. Am 8.10.1999 entzog ihm das Gemeindegericht Tuzla die Rechtsfähigkeit und brachte ihn am 8.12.1999 im Pflegeheim Drin unter.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Haftprüfung).

Verbindung der Beschwerden

(34) Angesichts ihres gemeinsamen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds entscheidet der GH, diese drei Beschwerden gemäß Art. 42 Abs. 1 VerfO EGMR zu verbinden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

(36) Die Bf. rügten die Unrechtmäßigkeit ihrer Unterbringung im Pflegeheim Drin. Sie behaupteten, dass sie dort gegen ihren Willen festgehalten wurden und keine Freilassung erwirken konnten. […] Die Bf. beschwerten sich weiters über das Fehlen einer gerichtlichen Überprüfung ihrer Unterbringung im Pflegeheim Drin. […]

Zulässigkeit

Verlust der Opfereigenschaft

(37) Die Regierung wendete ein, dass Herr Crepulja aufgrund der Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des Gemeindegerichts Kiseljak vom 25.6. bzw. 29.11.2013 und der Zahlung der durch das Verfassungsgericht zugesprochenen Entschädigung nicht mehr behaupten könnte, Opfer der behaupteten Verletzung der Konvention zu sein.

(40) Zunächst stellt der GH fest, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichts in der Tat die behauptete Verletzung der Konvention in den Fällen von Frau Hadžimejlic und Herrn Crepulja anerkannte. Das Verfassungsgericht stellte einen Verfahrensmangel fest, der sich auf die Rechtmäßigkeit ihrer Zwangsunterbringung in einem Pflegeheim auswirkte. Darüber hinaus wurde Herrn Crepulja eine Entschädigung für den immateriellen Schaden zugesprochen. Allerdings haben es die zuständigen Behörden verabsäumt, die Mängel zu beseitigen. Trotz der Entscheidungen des Gemeindegerichts Kiseljak […] befinden sich die Bf. noch [im Pflegeheim] in Drin. Daher können Frau Hadžimejlic und Herr Crepulja immer noch geltend machen, Opfer der behaupteten Verletzung zu sein. Der Einwand der Regierung muss daher zurückgewiesen werden.

Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(41) Die Regierung führte aus, dass die Beschwerde von Herrn Busovaca wegen Nichterschöpfung der Rechtsmittel zurückgewiesen werden sollte, da er es verabsäumt hätte, eine Beschwerde an das Verfassungsgericht zu erheben.

(46) In Bezug auf den vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass Herr Busovaca es verabsäumt hat, vor Erhebung seiner Beschwerde eine Verfassungsbeschwerde einzureichen. Angesichts der Ähnlichkeit der Sachlage dieses und der ersten beiden Bf. und der Tatsache, dass der Entscheidung des Verfassungsgerichts in den letztgenannten Fällen durch die nationalen Behörden nicht entsprochen worden war, kann der GH die Einrede der Regierung aus Gründen der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe im Hinblick auf Herrn Busovaca nicht bestätigen. Die zweite Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen. Der GH möchte betonen, dass seine Entscheidung sich auf die Umstände des vorliegenden Falls beschränkt und nicht als allgemeine Aussage interpretiert werden kann, wonach eine Beschwerde an das Verfassungsgericht nie ein Rechtsmittel ist, das im Falle der Behauptung einer Verletzung aufgrund einer rechtswidrigen Anhaltung von psychisch kranken Personen verwendet werden muss.

(47) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerden nicht offensichtlich unbegründet […] und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig sind. Daher müssen sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

(48) Die Bf. brachten vor, dass ihre zwangsweise Einweisung in Drin nicht die in Winterwerp/NL dargelegten Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung für psychisch kranke Personen erfüllen würde. Die Sozialbehörden hätten ihre Entscheidung für die Unterbringung der Bf. in Drin auf die einfache Tatsache gestützt, dass ihre Familien nicht bereit seien, sich um sie zu kümmern und sie soziale Hilfe benötigen würden. Sie hätten nicht geprüft, ob die erforderliche Unterstützung durch alternative Maßnahmen, welche ihre Freiheitsrechte weniger beschränken würden, zur Verfügung gestellt werden könnte. […]

(52) Der GH wiederholt, dass die in Frage stehende Haft um Art. 5 Abs. 1 EMRK zu entsprechen in erster Linie rechtmäßig sein muss, einschließlich der Einhaltung der gesetzlichen Verfahrensweise. In dieser Hinsicht verweist die EMRK im Wesentlichen auf das nationale Recht zurück und hält die Verpflichtung fest, dessen materiellen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen zu entsprechen. Zusätzlich erfordert die Konvention jedoch, dass jede Freiheitsentziehung im Einklang mit Art. 5 EMRK steht, um den Einzelnen vor Willkür zu schützen. Darüber hinaus ist eine Freiheitsentziehung ein so schwerwiegender Eingriff, dass sie außerdem nur gerechtfertigt ist, wenn andere, weniger schwerwiegende Maßnahmen erwogen und für unzureichend befunden worden sind, das Interesse des Betroffenen oder der Allgemeinheit zu schützen, das die Freiheitsentziehung erfordern mag. [...]

(53) Es ist unstrittig […], dass die Unterbringung der Bf. im Pflegeheim Drin eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK ist und der GH sieht keinen Grund, dies anders zu sehen.

(54) Der GH hält fest, dass das Verfassungsgericht am 25.4. bzw. am 25.6.2013 festgestellt hat, dass Frau Hadžimejlics und Herr Crepuljas Freiheitsentziehung nicht »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgt ist, als sie ohne eine Entscheidung des zuständigen Zivilgerichts in psychiatrischen Gewahrsam genommen wurden. Es wurde des Weiteren wegen des Fehlens einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft der Bf. eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK festgestellt. Das Verfassungsgericht wies die zuständigen Sozialämter an, Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte der Bf. nach Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK zu gewährleisten.

(55) Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts wurde die Notwendigkeit der Unterbringung der ErstBf. und des ZweitBf. vom zuständigen Zivilgericht untersucht. Basierend auf einem ärztlichen Gutachten wurde festgestellt, dass der Gesundheitszustand der Bf. ihre zwangsweise Unterbringung nicht erforderte. Trotz dieser Entscheidungen blieb die Lage der ErstBf. und des ZweitBf. unverändert. Sie sind immer noch aufgrund der Verwaltungsentscheidungen im Pflegeheim.

(56) Die Regierung behauptet, dass die andauernde Unterbringung der Bf. im Pflegeheim beabsichtige, ihr Interesse am Empfang von sozialer Pflege zu schützen. In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass das Verfassungsgericht diese Argumente bereits untersucht und festgestellt hat, dass die innerstaatlichen Behörden es verabsäumt haben, die Anforderungen des nationalen Rechts betreffend Zwangseinweisungen in eine Anstalt zu erfüllen: eine solche Unterbringung muss von einem zuständigen Gericht angeordnet werden. Der GH sieht keinen Grund, nicht mit den Feststellungen des Verfassungsgerichts einverstanden zu sein.

(57) Als ergänzende Überlegung stellt der GH fest, dass die Überprüfung, ob die Erkrankung der Bf., mit denen die Unterbringung gerechtfertigt wurde, weiterhin besteht, erst nach den Entscheidungen des Verfassungsgerichts durchgeführt wurde. Wenngleich die Bf. offenbar unter Beobachtung eines Psychiaters standen, war das Ziel dieser Aufsicht nicht, in regelmäßigen Abständen zu überprüfen, ob es weiterhin iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK notwendig war, sie im Pflegeheim in Drin unterzubringen.

(58) Im Bezug auf Herrn Busovaca stellt der GH fest, dass er aufgrund einer Verwaltungsentscheidung in Drin untergebracht wurde. Die Notwendigkeit seiner Zwangseinweisung, welche seit mehr als fünfzehn Jahren anhält, wurde noch nie von einem zuständigen Gericht überprüft.

(59) In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist der GH der Ansicht, dass die Unterbringung im Pflegeheim Drin nicht »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK angeordnet wurde. Es liegt daher eine Verletzung dieser Bestimmung vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 und Abs. 5 EMRK

(60, 61) Angesichts seiner obigen Feststellungen unter Art. 5 Abs. 1 EMRK [...] hält es der GH nicht für notwendig, separat zu prüfen, ob in diesem Fall auch eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 und Abs. 5 EMRK vorliegt (einstimmig).

Zur Anwendung von Art. 46 EMRK

(62) Der GH hält im vorliegenden Fall [...] die Anwendung von Art. 46 EMRK für angemessen […].

(64) Um dem belangten Staat bei der Erfüllung seiner Pflichten nach Art. 46 EMRK behilflich zu sein, kann der GH [...] die individuellen oder generellen Maßnahmen bezeichnen, die getroffen werden könnten, um die festgestellte Konventionsverletzung zu beenden.

(65) Im vorliegenden Fall erachtet es der GH im Hinblick auf seine Feststellung einer Verletzung des Art. 5 EMRK als notwendig, individuelle Maßnahmen für die Vollstreckung dieses Urteils anzuzeigen. [...]

(66) Im Hinblick auf die Entscheidungen der zuständigen Zivilgerichte über die Notwendigkeit der Fortsetzung der Zwangsunterbringung entscheidet der GH, dass der beklagte Staat sicherstellen muss, Herrn Crepulja und Frau Hadžimejlic ohne weitere Verzögerung aus dem Pflegeheim Drin zu entlassen. Im Bezug auf Herrn Busovaca muss der beklagte Staat sicherstellen, dass die Notwendigkeit der andauernden Unterbringung von einem zuständigen Zivilgericht ohne weitere Verzögerungen überprüft wird.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

(70) € 21.250,– an Frau Hadžimejlic , € 27.500,– an Herrn Crepulja und € 32.500,– an Herrn Busovaca für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Winterwerp/NL v. 24.10.1979 = EuGRZ 1979, 202

Herczegfalvy/A v. 24.9.1992 = NL 1992, 25 = EuGRZ 1992, 535 = ÖJZ 1993, 96

Stanev/BG v. 17.1.2012 (GK) = NLMR 2012, 23

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.11.2015, Bsw. 3427/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 493) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_6/Hadzimejlic.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
6