JudikaturJustizBsw32493/08

Bsw32493/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
24. Juni 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Ukaj gg. die Schweiz, Urteil vom 24.6.2014, Bsw. 32493/08.

Spruch

Art. 8 EMRK - Abschiebung eines wiederholt straffälligen Kosovaren.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 27.9.1998 kam der 1982 geborene Bf. mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in die Schweiz, um dem Kosovokonflikt zu entkommen. Die Angehörigen des Bf. erhielten eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung. Der Bf. selbst erhielt am 15.5.2000 einen Aufenthaltstitel im Rahmen der Familienzusammenführung, der in der Folge wiederholt verlängert wurde.

Zwischen April 1999 und Mai 2001 wurde der Bf. von der Jugendanwaltschaft wegen Diebstahl und Widerstand gegen einen Staatsbeamten mehrfach bestraft. Die Behörden warnten ihn daher mit Entscheidung vom 11.9.2001 vor, dass er Gefahr laufen könnte, ausgewiesen zu werden, wenn sein Verhalten sich nicht bessern würde. Trotzdem wurde der Bf. zwischen 2002 und 2005 erneut mehrfach verurteilt, unter anderem wegen Verstößen gegen das Drogengesetz, Diebstählen, Betrug und Verbreitung falscher Informationen. Am 6.7.2005 wurde er schließlich insbesondere wegen mehrfachem Diebstahl und schwerem Raub zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht sprach dabei die Ausweisung des Bf. für die Dauer von fünf Jahren auf Bewährung aus und verhängte eine Bewährungsfrist von vier Jahren.

Der Bf. heiratete am 11.5.2006, als er sich noch im Gefängnis befand, eine 1988 geborene Schweizerin. Mit Entscheidung vom 24.7.2006 entschied das Migrationsamt Luzern, den Bf. auszuweisen. Am 8.5.2007 wurde dieser bedingt aus dem Gefängnis entlassen.

Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern bestätigte am 10.7.2007 die Abschiebung des Bf. aus der Schweiz. Das Schweizerische Bundesgericht wies die Beschwerde gegen diese Entscheidung zurück und bestätigte die Weigerung der Behörden, seine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern.

Am 16.3.2010 wurde der Bf. geschieden. Am 2.11.2010 verließ er die Schweiz in Richtung Kosovo.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, seine Abschiebung aus der Schweiz würde Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) verletzen.

Zur Zulässigkeit

(24) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(30) Angesichts der langen Aufenthaltsdauer des Bf. in der Schweiz stellt seine Ausweisung im November 2010 einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens dar. Die Frage, ob im vorliegenden Fall auch das Familienleben des Bf. auf dem Spiel steht, ist schwieriger. De facto erfolgte die Scheidung des Bf., bevor er die Schweiz verließ. Wenn daneben die Beziehungen, die er zu seiner Mutter und seinen Geschwistern zu unterhalten angibt, gleichfalls unter den Begriff des Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK fallen können, so hat der Bf. nicht gezeigt, dass er besonders enge Verbindungen zu den Betroffenen besitzt. Allerdings behauptet er – ohne dass ihm diesbezüglich widersprochen wurde –, dass es die Aussicht eines Weggangs in den Kosovo gewesen wäre, der seine Exgattin dazu veranlasst hätte, das Band der Ehe zu durchtrennen. Im Übrigen war er sowohl zur Zeit der ursprünglichen Ausweisungsentscheidung als auch zum Zeitpunkt, als diese in Rechtskraft erwuchs, verheiratet. Der GH ist deshalb der Ansicht, dass der Bf. auch einen Eingriff in das Recht auf Achtung seines Familienlebens erlitten hat.

(34) Entscheidend im vorliegenden Fall ist, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. Die grundlegenden Prinzipien hinsichtlich der Ausweisung einer Person, die eine beträchtliche Zeit in einem Gaststaat verbracht hat, aus dem sie in Folge der Begehung von Straftaten ausgewiesen werden soll, sind in der Rechtsprechung des GH gefestigt und wurden kürzlich insbesondere in den Fällen Üner/NL, Maslov/A und Emre/CH zusammengefasst. [...]

(37) Für den vorliegenden Fall beobachtet der GH zunächst, dass die vom Bf. seit seiner Ankunft in der Schweiz begangenen Straftaten und seine letzte Verurteilung schwer zu seinen Ungunsten wiegen. Er kann daher der Erklärung des Bf. nicht zustimmen, der bei den von ihm begangenen Delikten von Jugendkriminalität sprach. Es scheint in Wirklichkeit, dass der Bf. zwischen 1999 und 2004 ständig wegen derselben Art von Delikten verurteilt wurde, insbesondere wegen Diebstahl und schwerem Raub – und dies trotz der ihm gegenüber erfolgten Androhung einer Ausweisung. Der GH stellt daher fest, dass der Bf. seinen kriminellen Aktivitäten auch nach Erreichen des Erwachsenenalters nachgegangen ist. Zudem hat das Bundesgericht die Umstände der Begehung der Straftat, für die er zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, für erschwerend empfunden. Der GH bemerkt dennoch, dass der Bf. seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Mai 2007 bis zum Verlassen der Schweiz im November 2010 wegen keiner weiteren Delikte verfolgt wurde.

(38) Was die eheliche Beziehung des Bf. anbelangt, stellt der GH fest, dass dieser am 11.5.2006, als er sich noch in Haft befand, eine damals 18-jährige Schweizerin geheiratet hat. Nun war er aber seit dem 14.3.2006 aufgefordert, eine Stellungnahme im Hinblick auf die mögliche Verweigerung der Verlängerung seines Aufenthaltstitels und seine mögliche Ausweisung abzugeben. Mit anderen Worten hatte die Exfrau des Bf. zum Zeitpunkt der Begründung der familiären Beziehung notwendigerweise Kenntnis von der Straftat, die dieser begangen hatte, wie auch von der Gefahr einer Abschiebung desselben in den Kosovo. Zudem erinnert der GH daran, dass das eheliche Band seit drei Jahren gelöst ist und der Bf. nicht behauptet, noch eine Beziehung zu seiner Exfrau zu unterhalten.

(40) Hinsichtlich der Beziehung des Bf. zu seiner Mutter und seinen Geschwistern in der Schweiz hat der Bf. – wie bereits gesagt wurde – nicht gezeigt, dass er zu diesen besonders enge Bindungen besitzt.

(41) Gegenüber dem Bf. wurde außerdem kein Einreiseverbot in die Schweiz verhängt. Weiters geht aus den Akten hervor, dass – auch wenn er zu einer Ausweisung für die Dauer von fünf Jahren auf Bewährung mit einer Bewährungszeit von vier Jahren verurteilt wurde – er seit seiner Verurteilung 2005 keine Straftat mehr begangen hat und dass kein nationales Gericht die Aufhebung der Bewährung angeordnet hat. Daher scheint den Bf. nichts daran zu hindern, ein neues Einreisevisum zu beantragen, vor allem um seine Mutter und seine Geschwister zu besuchen.

(42) Laut dem Bundesgericht war der Bf. sozial nicht integriert. Dieser bestreitet das und beruft sich dabei insbesondere auf seine berufliche Integration. Der GH beobachtet trotzdem, dass der Bf. erst im Alter von 16 Jahren in der Schweiz eingetroffen ist und eine bestimmte Zeit (zwischen Juli 2005 und Mai 2007) im Gefängnis verbracht hat. Was die Beziehungen des Bf. zu seinem Herkunftsland anbelangt, beobachtet der GH, dass der Bf. – anders als in anderen Fällen – seine Kindheit und seine Schulzeit im Kosovo verbracht hat. Auch wenn der GH anerkennt, dass die Beziehungen des Bf. zu seinem Herkunftsland sich wahrscheinlich nach den 13 Jahren in der Schweiz abgeschwächt haben, ist er der Ansicht, dass der Bf. soziale und kulturelle (darunter auch sprachliche) Verbindungen mit seinem Herkunftsland bewahrt hat und dass er sich dort integrieren kann.

(43) In Anbetracht des Vorgesagten und vor allem der Schwere der gegen den Bf. verhängten Verurteilungen, der Auflösung seiner Ehe sowie des Umstands, dass er den Großteil seines Lebens in seinem Herkunftsland verbracht hat, was annehmen lässt, dass er sich dort integrieren kann, befindet der GH, dass der belangte Staat seinen Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat, den dieser im gegenständlichen Fall genoss. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig)

Vom GH zitierte Judikatur:

Üner/NL v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 251

Emre/CH v. 22.5.2008 = NL 2008, 145

Kissiwa Koffi/CH v. 15.11.2012 = NL 2012, 377

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.6.2014, Bsw. 32493/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 219) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_3/Ukaj.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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