JudikaturJustizBsw27945/10

Bsw27945/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
02. April 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Sarközi und Mahran gg. Österreich, Urteil vom 2.4.2015, Bsw. 27945/10.

Spruch

Art. 8 EMRK - Aufenthaltsverbot gegen Mutter eines Österreichers.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die 1966 geborene ErstBf. ist Staatsangehörige der Slowakei. Sie kam 1990 nach Österreich, wo sie zunächst befristete und schließlich 1997 einen unbefristeten Aufenthaltstitel erhielt. Sie heiratete einen Österreicher und bekam 2002 einen Sohn (den ZweitBf.) mit ihm. Nach der Ehescheidung behielten beide die gemeinsame Obsorge. Der ZweitBf. ist österreichischer Staatsbürger.

Die ErstBf. wurde zwischen Oktober 1993 und Mai 2008 sieben Mal strafrechtlich verurteilt, unter anderem wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung und mehrmals wegen schwerem bzw. gewerbsmäßigem Betrug. Nachdem die Freiheitsstrafen wiederholt bedingt nachgesehen worden waren, verbüßte die ErstBf. vom 28.9.2007 bis 30.12.2010 ihre Haft. Während dieser Zeit lebte der ZweitBf. bei seinem Vater.

Schon nach ihrer zweiten Verurteilung wurde die ErstBf. 1994 von der Fremdenpolizei gewarnt, dass eine weitere Verurteilung ein Aufenthaltsverbot nach sich ziehen könnte. Nach ihrer letzten Verurteilung erließ die Bundespolizeidirektion (BPD) Wien am 25.9.2008 ein unbefristetes Aufenthaltsverbot gegen die ErstBf. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde vom UVS Wien am 6.4.2009 abgewiesen. Angesichts ihrer Verurteilungen und der Schwere der von ihr begangenen Straftaten erachtete der UVS das Aufenthaltsverbot als verhältnismäßig. Zudem wäre es ihrer Familie aufgrund der geringen Distanz zwischen Wien und Bratislava möglich, sie regelmäßig zu besuchen. Da sie im Alter von 24 Jahren nach Österreich gekommen war und slowakisch spreche, könne sie sich in ihrem Herkunftsland leicht reintegrieren. Der VfGH lehnte die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde am 16.6.2009 ab und verwies diese an den VwGH, der am 9.11.2009 die Behandlung ebenfalls ablehnte.

Im Jänner 2011 wurde ein Antrag der ErstBf. auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots von der BPD Wien abgewiesen. Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde vom UVS Wien am 12.9.2011 teilweise stattgegeben und die Dauer des Aufenthaltsverbots auf acht Jahre befristet, womit dieses in jedem Fall am 29.9.2016 endet. Die dagegen erhobenen Beschwerden der ErstBf. wurden vom VfGH und vom VwGH zurückgewiesen.

Das Jugendamt Wien erklärte in einer Stellungnahme vom 18.6.2012, dass die Trennung der ErstBf. von ihrem Sohn durch die Freiheitsstrafe bereits eine traumatisierende Wirkung auf diesen gehabt hätte und eine neuerliche Trennung wahrscheinlich eine Retraumatisierung nach sich ziehen und die psychologische Entwicklung des Kindes beeinträchtigen würde. Es würde daher dem Kindeswohl entsprechen, der Mutter einen Aufenthaltstitel zu gewähren. Diese psychischen Belastungen des Kindes wurden in weiteren Stellungnahmen eines Psychologen und eines Neurologen bestätigt.

Nachdem ein weiterer Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots erfolglos geblieben war, wurde die ErstBf. am 4.12.2012 in die Slowakei abgeschoben. Der ZweitBf. lebt weiterhin bei seinem Vater in Wien. Die Eltern teilen sich die Obsorge.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) durch die Verhängung des Aufenthaltsverbots.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(43) Die Bf. rügen, dass das gegen die ErstBf. verhängte Aufenthaltsverbot eine Verletzung von Art. 8 EMRK begründet habe. Sie bringen weiters vor, ihre dadurch verursachte Trennung voneinander habe ihnen beiden irreversibles psychisches Leiden zugefügt und würde daher eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung iSv. Art. 3 EMRK darstellen. Der GH ist der Ansicht, dass diese Beschwerde betreffend die Auswirkungen der Ausweisung auf die psychische Gesundheit der Bf. ebenfalls unter Art. 8 EMRK fällt [...].

Zulässigkeit

(45) Die Regierung brachte vor, die ErstBf. habe es verabsäumt, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen, weil sie die Entscheidung des UVS vom 12.9.2011 nicht angefochten hatte. [...]

(46) Die Bf. entgegneten, dass sie die Entscheidung des UVS vom 12.9.2001 sehr wohl mit Beschwerden an den VfGH und den VwGH angefochten hätten. Diese wären jedoch von beiden Gerichten zurückgewiesen worden. [...]

(47) Der GH ist angesichts des ihm vorliegenden Materials davon überzeugt, dass die ErstBf. hinsichtlich des Verfahrens über die Aufhebung des Aufenthaltsverbots die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft hat. Wie der GH weiters feststellt, ist die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

(63) In Üner/NL wurden von der Großen Kammer die relevanten Kriterien zusammengefasst, die bei der Beurteilung anzuwenden sind, ob ein in der Form einer Ausweisung erfolgender Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist [...].

(64) Überdies ist, wenn Kinder betroffen sind, das Kindeswohl zu berücksichtigen. Zu diesem speziellen Punkt erinnert der GH daran, dass – auch im Völkerrecht – ein breiter Konsens zugunsten des Gedankens besteht, dass bei allen Kinder betreffenden Entscheidungen deren Interessen von vorrangiger Bedeutung sind. Auch wenn sie für sich alleine nicht entscheidend sein können, muss diesen Interessen gewiss bedeutendes Gewicht beigemessen werden. Dementsprechend müssen nationale Spruchkörper grundsätzlich Beweise hinsichtlich der praktischen Durchführbarkeit, Machbarkeit und Verhältnismäßigkeit jeder Ausweisung eines ausländischen Elternteils aufnehmen und bewerten, um dem Wohl der davon direkt betroffenen Kinder ausreichendes Gewicht beizumessen und effektiven Schutz zu gewähren. In diesem Zusammenhang ist auf Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention zu verweisen, wonach das Kindeswohl bei allen von öffentlichen Stellen getroffenen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist.

(66) Eingangs stellt der GH fest, dass die Beziehung zwischen den Bf. eindeutig »Familienleben« iSv. Art. 8 EMRK darstellte, weshalb diese Bestimmung im vorliegenden Fall anwendbar ist. Im Gegensatz dazu hat die ErstBf. keine besondere Abhängigkeit zwischen ihr und anderen in Österreich lebenden Familienmitgliedern nachgewiesen.

(67) Das Aufenthaltsverbot gegen die ErstBf. begründete einen Eingriff in das Recht beider Bf. auf Achtung ihres Familienlebens nach Art. 8 EMRK. Dieser Eingriff war gesetzlich vorgesehen und diente einem legitimen Ziel iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK. Dies ist unbestritten. Es bleibt daher zu prüfen, ob die gegen die ErstBf. ergriffenen Maßnahmen auch verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen waren, insbesondere in Hinblick auf die Trennung von ihrem Sohn.

(69) Das erste zu beurteilende Kriterium ist die Natur und Schwere der von der ErstBf. begangenen Straftaten. Wie der GH feststellt, weist ihr Vorstrafenregister sieben Verurteilungen auf, die meisten davon wegen schwerem Betrug, aber auch wegen Körperverletzung, Tätlichkeit und Sachbeschädigung. Die schwerste gegen sie verhängte Sanktion war eine dreijährige Freiheitsstrafe. Zwischen ihrer Verurteilung 2002 und ihrer letzten Verurteilung 2008 gab es keine signifikante Zeitspanne, während der sie nicht an strafbaren Aktivitäten beteiligt gewesen wäre. Insbesondere die letzte Verurteilung muss als schwerwiegend angesehen werden. Der GH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die von der ErstBf. begangenen Straftaten mit der Zeit immer ernster wurden. Es scheint allerdings, dass sie nach ihrer Haftentlassung im Dezember 2010 nicht mehr straffällig wurde.

(69) Zur Zeit der Begehung ihrer letzten Straftat muss der ErstBf. bewusst gewesen sein, dass eine weitere strafrechtliche Verurteilung ihre Ausweisung nach sich ziehen würde, da sie bereits 1994 von den Behörden entsprechend verwarnt worden war. In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass das Aufenthaltsverbot im September 2008 erlassen wurde und im September 2016 auslaufen wird, ungeachtet der Frage, wann die ErstBf. tatsächlich das Land verlassen hat. Da die ErstBf. erst im Dezember 2012 ausgewiesen wurde, wird sich das Aufenthaltsverbot tatsächlich nur vier Jahre lang auf die Bf. auswirken.

(70) Zur Dauer des Aufenthalts der ErstBf. stellt der GH fest, dass sie 1990 im Alter von 24 Jahren und damit als Erwachsene nach Österreich kam und sich hier bis zur Erlassung des Aufenthaltsverbots rechtmäßig aufhielt. Insgesamt lebte sie rund 22 Jahre in Österreich.

(71) Was die familiäre Situation der ErstBf. betrifft, ist unbestritten, dass sie enge familiäre und soziale Bindungen in Österreich hat, wo ihr Sohn und weitere Familienmitglieder leben, während sie in der Slowakei keine sozialen Bindungen mehr zu haben scheint. Allerdings spricht sie die Sprache und verbrachte die prägenden Jahre ihrer Kindheit und Jugend dort. Auch ist die Slowakei ein Nachbarstaat Österreichs und ebenfalls Mitglied der EU und es bestehen regelmäßige öffentliche Verkehrsverbindungen zwischen Wien, wo ihre Familie lebt, und Bratislava, wohin sie ausgewiesen wurde. Diese Nähe erlaubt ihrer Familie, sie oft und ohne großen Aufwand zu besuchen, da zwischen den beiden Staaten keine Reisebeschränkungen oder Visaerfordernisse bestehen.

(72) Der GH anerkennt, dass es dem Wohl des ZweitBf. entsprochen hätte, sein Leben mit seiner in Wien anwesenden Mutter fortzusetzen. Dazu bemerkt der GH, dass die österreichischen Behörden sich in ihrer Einschätzung vielfach auf die familiäre Situation der Bf. bezogen haben, aber zu dem Schluss gelangt sind, das öffentliche Interesse an der Ausweisung der ErstBf. würde angesichts der Schwere der von ihr begangenen Straftaten gegenüber den persönlichen Interessen der Bf. an der Fortsetzung ihres Familienlebens in Österreich überwiegen.

(73) Zur Beziehung zwischen den Bf. stellt der GH fest, dass [...] eine erhebliche Störung des Familienlebens bereits eintrat, als die ErstBf. 2007 ihre Freiheitsstrafe antreten musste. Die damals erfolgte Trennung zwischen Mutter und Kind scheint beiden gravierende psychische Probleme bereitet zu haben. Die Ausweisung der ErstBf. im Jahr 2012 verursachte ohne Zweifel eine weitere Störung des Familienlebens. Allerdings konnte die ErstBf. nach ihrer Haftentlassung nicht vernünftigerweise erwarten, einen weiteren Aufenthaltstitel zu bekommen und ihr Familienleben mit ihrem Sohn in Österreich fortsetzen zu können, da das Aufenthaltsverbot zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig war.

(74) Angesichts der obigen Überlegungen [...] ist der GH überzeugt, dass die österreichischen Behörden ihren Ermessensspielraum nicht überschritten haben [...]. Es hat daher keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zu den sonstigen behaupteten Verletzungen

(75) Die Bf. rügten eine Verletzung von Art. 6 EMRK, weil sich weder der VfGH noch der VwGH in der Sache mit der Beschwerde der ErstBf. befasst hätte. [...]

(76) Der GH erinnert daran, dass Entscheidungen über Einreise, Aufenthalt und Ausweisung eines Fremden weder zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen noch eine strafrechtliche Anklage iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffen. Folglich ist Art. 6 EMRK auf die vorliegende Beschwerde nicht anwendbar und dieser Teil der Beschwerde unzulässig [...] (einstimmig).

(77-78) Die Beschwerde unter Art. 2 und Art. 5 EMRK wurde nicht weiter begründet [...]. Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss nach Art. 35 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Üner/NL v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 251

A. W. Khan/GB v. 12.1.2010 = NL 2010, 30

Neulinger und Shuruk/CH v. 6.7.2010 (GK) = NL 2010, 211

Nunez/N v. 28.6.2011 = NL 2011, 169

Antwi u.a./N v. 14.2.2012

Jeunesse/NL v. 3.10.2014 (GK) = NL 2014, 417

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.4.2015, Bsw. 27945/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 129) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_2/Sarkozi.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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