JudikaturJustizBsw25186/94

Bsw25186/94 – AUSL EKMR Entscheidung

Entscheidung
01. Juli 1997

Kopf

Europäische Kommission für Menschenrechte, Plenum, Beschwerdesache Euan Sutherland gegen das Vereinigte Königreich, Bericht vom 1.7.1997, Bsw. 25186/94.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 25 EMRK - Unterschiedliches Schutzalter ist gleichheitswidrig.

Verletzung von Art. 8 iVm. Art. 14 EMRK (14:4 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist nach eigenen Angaben seit seinem 12. Lebensjahr homosexuell. Seine erste gleichgeschlechtliche Beziehung hatte er im Alter von 16 Jahren mit einem gleichaltrigen Jugendlichen. Beide befürchteten eine strafrechtliche Verfolgung, da zum damaligen Zeitpunkt bestimmte - in gegenseitigem Einverständnis und in privatem Rahmen vorgenommene - homosexuelle Handlungen zwischen Männern vor Vollendung des 21. Lebensjahres unter Strafe gestellt wurden (§ 1 des Sexual Offences Act 1967). Bei Jugendlichen weiblichen Geschlechts endete das Schutzalter hingegen mit Vollendung des 16. Lebensjahres (§ 14 des Sexual Offences Act 1956).

1994 stellte die brit. Ärztevereinigung in einem Bericht fest, dass vor allem homosexuelle Jugendliche dem Risiko einer Ansteckung durch Geschlechtskrankheiten wie zB. AIDS ausgesetzt wären. Bemühungen zur Verbesserung dieser Situation würden durch die gegenwärtige Rechtslage insofern erschwert, als homosexuelle Jugendliche ärztlichen Rat über die Anwendung sicherer Sexualpraktiken aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung scheuen würden. Heutzutage gehe die überwiegende Mehrheit der Sexualwissenschaftler davon aus, dass die sexuelle Orientierung bei Frauen und Männern bereits vor der Pubertät abgeschlossen sei. Die Ärztevereinigung trat daher für eine Herabsetzung des Schutzalters auf 16 Jahre ein.

Noch im selben Jahr wurde das Schutzalter - nach eingehenden Parlamentsdebatten - durch eine Gesetzesnovelle auf 18 Jahre herabgesetzt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung der Privatsphäre) iVm. Art. 14 EMRK (Verbot der Diskriminierung) durch die Festsetzung des Schutzalters für homosexuelle Beziehungen unter Männern auf 18 und nicht - wie bei weiblichen Jugendlichen - auf 16 Jahre.

Vor der Gesetzesnovelle des Jahres 1994 war für den Bf. das Eingehen homosexueller Beziehungen bis zu seinem 18. Lebensjahr gesetzlich verboten. Der Bf. war davon - als Homosexueller - direkt betroffen. Er kann daher gemäß Art. 25 EMRK behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.

Eine unterschiedliche Behandlung ist dann diskriminierend, wenn sie keine sachliche Rechtfertigung aufweist, dh. keinen legitimen Zweck verfolgt oder dem Verhältnismäßigkeitsgebot widerspricht. Den nationalen Behörden kommt in der Frage, welche Maßnahmen sie zum Schutz der Moral in ihrer Gesellschaft für geeignet halten, ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Zwar sind gewisse Einschränkungen homosexuellen Verhaltens in einer demokratischen Gesellschaft notwendig - dies vor allem zum Schutz Jugendlicher oder Heranwachsender - und können daher zum Schutz der Moral und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer nach Abs. 2 des Art. 8 EMRK gerechtfertigt sein (vgl. das Urteil des EGMR im Fall Dudgeon/GB, A/45 § 62), andererseits müssen gerade für Eingriffe in das Geschlechtsleben einer Person durch den Staat besondere Gründe vorliegen (Urteil Dudgeon/GB, § 52; der GH hat diese Auffassung in seinem Urteil im Fall Modinos/ZYP, A/259 § 25 = NL 93/3/11, bekräftigt). Dies gilt auch für eine unterschiedliche Behandlung ausschließlich aufgrund des Geschlechts (vgl. Urteil Schmidt/D, A/291-B § 24 = NL 94/6/03).

Das Schutzalter im Fall heterosexueller und lesbischer Beziehungen beträgt in Großbritannien 16 Jahre. Unstrittig ist, dass sich ein Jugendlicher in diesem Alter, der eine homosexuelle Beziehung mit einem Gleichaltrigen eingehen möchte, in einer vergleichbaren Situation befindet wie im Fall einer heterosexuellen Beziehung mit einer gleichaltrigen Frau.

Im Fall X./GB (Bsw. 7215/75, Ber. v. 12.10.1978, DR 19, 66) hat die Kms. anerkannt, dass ein Eingriff in die Privatsphäre eines Homosexuellen durch die Festsetzung eines Schutzalters von 21 Jahren in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und daher zum Schutz der Rechte anderer gerechtfertigt gewesen war. Im Fall W. Z./A (Bsw. 17279/90, Entsch. v. 13.5.1992 [unveröffentlicht]) entschied sie weiters, dass die Vorschrift des § 209 StGB, welcher einer Person männlichen Geschlechts nach Vollendung des 19. Lebensjahres homosexuelle Handlungen mit einer Person unter 18 Jahren verbietet, mit Art. 8 EMRK vereinbar ist (vgl. auch Bsw. 22646/93, H. F./A, ZE

v. 26.6.1995 = NL 95/4/5).

Die Kms. hält es allerdings aus folgenden Gründen für angebracht, ihre bisherige Auffassung nochmals zu überdenken: In den letzten Jahren kam es in der Frage der Notwendigkeit des Schutzes homosexueller Jugendlicher und dem Erfordernis der Einführung eines gleichen Schutzalters zu einer Änderung der Auffassungen: Die überwiegende Mehrheit der Sexualwissenschaftler geht nun davon aus, dass die sexuelle Orientierung bei Frauen und Männern bereits vor der Pubertät abgeschlossen ist und die Herabsetzung des Schutzalters somit bei der Mehrheit der homosexuellen Jugendlichen keinen Einfluss auf das Eingehen homosexueller Beziehungen haben würde. Die Kms. erinnert in diesem Zusammenhang an den Bericht der brit. Ärztevereinigung aus dem Jahr 1994, worin eine Herabsetzung des Schutzalters auf 16 Jahre - vor allem aus gesundheitlichen Erwägungen - empfohlen wurde. Ferner wird eine Gleichbehandlung der Geschlechter, was das Schutzalter betrifft, derzeit von der überwiegenden Mehrheit der Konventionsstaaten gesetzlich anerkannt. Die Reg. wendet ein, das Schutzalter sei erst vor drei Jahren durch eine Gesetzesnovelle neu geregelt worden. Es wurde auf 18 Jahre festgesetzt, mit der Begründung, Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18 Jahren hätten noch keine abgeschlossene sexuelle Orientierung und müssten daher durch das Gesetz vor Handlungen geschützt werden, die sie später bereuen könnten. Die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen gegen homosexuelle Jugendliche unter 18 Jahren hätte abschreckende Wirkung und gäbe einem Jugendlichen Anlass, sein sexuelles Verhalten zu überdenken. Schließlich sei die Gesellschaft berechtigt, ihrer Ablehnung homosexuellen Verhaltens und ihrer Überzeugung, Kinder sollten einer heterosexuellen Lebensweise folgen, Ausdruck zu verleihen.

Nach Ansicht der Kms. stellt keiner dieser Einwände eine objektive und angemessene Rechtfertigung für die Beibehaltung eines unterschiedlichen Schutzalters bezüglich homo- und heterosexueller Beziehungen dar. Eine ggf. negative Einstellung der Gesellschaft gegenüber der Homosexualität allein ist kein Grund für eine Ungleichbehandlung im Bereich des Strafrechtes (vgl. Urteil Dudgeon/GB, § 61). Verletzung von Art. 8 iVm. Art. 14 EMRK (14:4 Stimmen).

Abweichende Sondervoten der Kommissionsmitglieder Herndl, Békés, Soyer und Martinez (Zusammenfassung):

Im vorliegenden Fall ging die Kms. von ihrer bisherigen Rspr. allein aus dem Grund ab, dass die überwiegende Mehrheit der Sexualwissenschaftler heutzutage davon ausgehe, die sexuelle Orientierung bei Frauen und Männern sei bereits vor der Pubertät abgeschlossen. In mehreren Konventionsstaaten ist das Schutzalter für homo- und heterosexuelle Beziehungen aber nach wie vor unterschiedlich festgelegt.

Die Entscheidung des brit. Parlaments erfolgte nach eingehenden Debatten über alle - von Befürwortern und Gegnern des Schutzalters von 18 Jahren - vorgebrachten Argumente. Als demokratischer Vertreter des Volkes war es weitaus besser in der Lage, die Frage einer angemessenen Festsetzung des Schutzalters zu beurteilen als jene Mitglieder der Kms., die hier eine Diskriminierung bejaht haben. Der Eingriff war nach Art. 8 (2) EMRK gerechtfertigt. Daher liege keine Verletzung von Art. 8 iVm. Art. 14 EMRK vor.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über den Bericht der EKMR vom 1.7.1997, Bsw. 25186/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1997, 259) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Der Bericht im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/97_6/Sutherland.pdf

Das Original des Berichts ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.