JudikaturJustizBsw24247/15

Bsw24247/15 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
24. Januar 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Demjanjuk gg. Deutschland, Urteil vom 24.1.2019, Bsw. 24247/15.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK - Nichterstattung der Verfahrenskosten nach Einstellung des Strafverfahrens wegen Todes des Angeklagten.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um die Witwe und den Sohn des am 17.3.2012 verstorbenen John Demjanjuk (im Folgenden: »J. D.«).

J. D. wurde am 12.5.2011 vom Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Personen in seiner Funktion als Wärter im Vernichtungslager Sobibór (Polen) im Jahr 1943 verurteilt.

Der Angeklagte sowie der Staatsanwalt legten gegen dieses Urteil Berufung ein. Letzterer ordnete in weiterer Folge am 24.2.2012 die Weiterleitung der Akte an den BGH an, der für die Prüfung der Berufung zuständig war.

Nachdem der Angeklagte am 17.3.2012 verstorben war, stellte das Landgericht München das Verfahren auf der Grundlage des § 206a Abs. 1 StPO ein und entschied gemäß § 467 Abs. 3 2. Satz Z. 2 StPO, dass die Kosten des Verfahrens nicht von der Staatskasse zu tragen seien. Nach der letztgenannten Bestimmung kann das Gericht davon absehen, die notwendigen Auslagen des Beschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Laut der Rechtsprechung des BGH muss zumindest ein erheblicher Tatverdacht gegeben sein (3 StE 7/94 – 1 (2) StB 1/99 vom 5.11.1999). Damit eine Verweigerung der Kostenerstattung gerechtfertigt ist, müssen neben dem Verfahrenshindernis weitere Voraussetzungen vorliegen, wie etwa dass das Hindernis erst nach Eröffnung des Verfahrens entstanden ist (siehe BVerfG, 2 BvR 388/13 vom 29.10.2015 mit weiteren Nachweisen).

Der Verteidiger des Verstorbenen legte dagegen sofortige Berufung mit der Begründung ein, dass die Entscheidung gegen die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK verstoße. Das Rechtsmittel wurde vom OLG München aufgrund fehlender Klagebefugnis abgewiesen .

Am 12.10.2012 brachte die Verteidigung eine Anhörungsrüge beim BGH ein, die als offensichtlich unbegründet abgewiesen wurde. Das BVerfG lehnte die Behandlung einer Verfassungsbeschwerde ohne weitere Begründung am 18.12.2014 ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) durch die Abweisung ihrer Berufung durch das OLG München mit der Begründung, im vorliegenden Fall keine Klagebefugnis zu haben, sowie eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) durch die Entscheidung der nationalen Gerichte, ihnen die notwendigen Auslagen in Zusammenhang mit der Einstellung des Strafverfahrens gegen ihren verstorbenen Angehörigen nicht zu ersetzen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(22) Der GH stellt fest, dass es sich bei den Bf. um die Witwe und den Sohn des verstorbenen J. D. handelt. Im Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung ist er der Auffassung, dass sie als seine nächsten Angehörigen und Erben ein berechtigtes materielles Interesse am Ersatz der im Rahmen des gegen ihn geführten Strafverfahrens angefallenen Kosten und Auslagen sowie darüber hinaus ein ideelles Interesse […] daran haben, ihren verstorbenen Angehörigen von jeglichem Schuldspruch zu befreien. Der GH ist der Auffassung, dass die Bf. geltend machen können, »Opfer« der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK zu sein, weswegen ihnen der Zugang zu einem Gericht iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK zu gewährleisten war.

(23) Er stellt weiter fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet […] und auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist und erklärt sie daher für zulässig (einstimmig).

(24) Der GH weist darauf hin, dass gegen die Bf., obwohl sie in Anspruch nehmen können, »Opfer« einer behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK zu sein, keine strafrechtliche Anklage erhoben wurde. Sie mögen ein berechtigtes materielles Interesse an der Rückerstattung der notwendigen Ausgaben des verstorbenen Beschuldigten und ein immaterielles Interesse daran haben, ihren verstorbenen Angehörigen von jeglichem Schuldspruch zu befreien. Ihre Interessen sind daher zum einen Teil monetär und zum anderen Teil auf die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Rufes des Verstorbenen gerichtet, was beides den zivilrechtlichen Zweig von Art. 6 Abs. 1 EMRK betrifft.

(26) Im vorliegenden Fall hat das OLG München am 4.10.2012 die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München vom 5.4.2012 aufgrund fehlender Klagebefugnis für unzulässig erklärt. Wie von der Regierung anerkannt, kann diese Entscheidung Fragen in Bezug auf das Recht der Bf., ihre Vorbringen als Opfer einer angeblichen Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK prüfen zu lassen, aufwerfen. Das OLG München stellte allerdings im weiteren Verlauf fest, dass die Beschwerde darüber hinaus unbegründet war und Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht verletzt wurde. Es folgt daraus, dass das OLG München die Beschwerde der Bf. inhaltlich geprüft und abgewiesen hat.

(27) Der GH ist daher der Auffassung, dass die Feststellung der fehlenden Klagebefugnis der Bf. durch das OLG nicht deren Recht auf Prüfung der Beschwerde und Entscheidung in der Sache verletzte. Ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht wurde in der Praxis nicht verletzt.

(28) Dementsprechend erfolgte keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

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Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK

(36) Der GH wiederholt, dass die dem Art. 6 Abs. 2 EMRK inhärente Unschuldsvermutung verletzt wird, wenn aus einer gerichtlichen Entscheidung in Bezug auf eine Person, gegen die eine Strafanklage erhoben wurde, eine Meinung hervorgeht, aus der auch ohne eine formale Schuldfeststellung geschlossen werden kann, dass diese schuldig ist, noch bevor ihre Schuld rechtmäßig bewiesen wurde. Es reichen schon gewisse Argumente aus, die auf die Schuld des Angeklagten hindeuten. Dies betrifft z.B. eine Entscheidung betreffend den Ersatz der Verteidigungskosten eines Angeklagten.

(37) Eine Schuldfeststellung, die ohne ein rechtskräftiges Urteil ergeht, muss in diesem Zusammenhang von der Beschreibung einer Verdachtslage unterschieden werden. Während Erstere die Unschuldsvermutung verletzt, wurde Letzteres in mehreren vom GH geprüften Fällen als unbedenklich erachtet. Der Formulierung […] des Entscheidungsfindenden kommt bei der Beurteilung der Vereinbarkeit der Entscheidung und deren Argumentation mit Art. 6 Abs. 2 EMRK wesentliche Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang sind Art und Kontext des jeweiligen Verfahrens, in dem die angefochtenen Äußerungen gemacht wurden, zu berücksichtigen. Abhängig von den Umständen kann somit auch der Gebrauch einer ungünstigen Formulierung keine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK bewirken. Der GH hat eine Unterscheidung zwischen Fällen, in denen ein endgültiger Freispruch erfolgte, und jenen, bei denen die Strafverfahren eingestellt wurden, vorgenommen, wobei bei Letzteren ein milderer Standard angewendet wurde.

(38) Der GH wiederholt darüber hinaus, dass durch eine Entscheidung, die den Ersatz der notwendigen Auslagen eines Angeklagten in Zusammenhang mit der Einstellung des Strafverfahrens ablehnt, Art. 6 Abs. 2 EMRK für sich nicht verletzt wird. Die Frage, die im vorliegen-den Fall beantwortet werden muss ist daher, ob die in Zusammenhang mit der Entscheidung, die notwendigen Auslagen des verstorbenen Beschuldigten nicht zu ersetzen, vorgebrachten Gründe und insbesondere die verwendete Formulierung eine Feststellung der Schuld des verstorbenen Angeklagten beinhalteten.

(39) Für den GH besteht kein Grund, die Zuständigkeit des Landgerichts für die gegenständliche Entscheidung zu bezweifeln. Er kann auch keine unverhältnismäßigen Verzögerungen bei der Weiterleitung der Akte erkennen, nicht zuletzt im Hinblick auf die zahlreichen Vorbringen der Verteidigung bis kurz vor dem Tod des Angeklagten. [...] Das Landgericht war gehalten zu bestimmen, ob gegen den verstorbenen Angeklagten zumindest ein erheblicher Tatverdacht vorlag. Es traf diese Entscheidung [...], nachdem es den verstorbenen Angeklagten nach der 91-tägigen Hauptverhandlung für schuldig befunden hatte. Seine Beurteilung der tatsächlichen und rechtlichen Aspekte des Falles legte es in einem 220-seitigen Urteil dar. Unter Berücksichtigung von Art und Kontext der Entscheidung des Landgerichts stellt der GH daher fest, dass sich unter den Umständen des vorliegenden Falles kein Art. 6 Abs. 2 EMRK betreffendes Problem ergibt, insofern das Landgericht das Vorliegen eines erheblichen Tatverdachts gegen den verstorbenen Angeklagten [...] festgestellt hatte.

(40) Gleichzeitig ist der GH der Auffassung, dass einige der Formulierungen des Landgerichts als unglücklich erachtet werden können, insbesondere, dass die Verurteilung in Ermangelung einer Entscheidung in Bezug auf die [...] Berufung nicht rechtskräftig hätte werden können und dass es möglich gewesen wäre, das Verfahren noch zu Lebzeiten des Angeklagten mit einem Urteil abzuschließen, wenn die Verteidigung ihre Verfahrensrechte zielgerichtet, strukturiert und fachgerecht geltend gemacht hätte. Diese Behauptungen könnten so aufgefasst werden, als würde der Verteidigung die Verantwortung dafür zugeschoben werden, dass es nicht zu einem rechtskräftigen Schuldspruch gegen den verstorbenen Angeklagten gekommen war. Der GH stellt allerdings wiederum unter Berücksichtigung von Art und Kontext der Entscheidung des Landgerichts fest, dass das innerstaatliche Recht neben dem erheblichen Tatverdacht noch zusätzliche Faktoren verlangte, die die Verweigerung des Ersatzes der notwendigen Auslagen des Angeklagten im Falle der Einstellung des Verfahrens rechtfertigen. Er versteht die strittigen Behauptungen daher primär als Bezugnahme auf das Vorliegen eines solchen zusätzlichen Faktors, der bei der Ausübung von Ermessen zur Entscheidung, wer die notwendigen Auslagen des Beschuldigten zu tragen hat, berücksichtigt wird.

(41) Diese Ansicht wird von der expliziten Ausführung des Landgerichts unterstützt, dass die Entscheidung hinsichtlich der notwendigen Auslagen »ohne abschließende Schuldsfeststellung« ergehe. Das Landgericht stellte dadurch eindeutig klar, dass seine Entscheidung auf einer Verdachtslage gegen den verstorbenen Beschuldigten beruhte, sie aber keine Feststellung oder Zuweisung der Schuld enthielt. Das OLG stützte sich auf diesen Teil der Entscheidung, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese mit Art. 6 Abs. 2 EMRK vereinbar sei […].

(42) In Anbetracht der Argumentation insgesamt gesehen und insbesondere der verwendeten Formulierung […] kommt der GH zum Schluss, dass die Entscheidung des Landgerichts, die vom OLG bestätigt wurde, keine Feststellung der Schuld des verstorbenen Angeklagten enthielt. Diese Entscheidungen haben die Unschuldsvermutung daher nicht berührt.

(43) Es erfolgte dementsprechend keine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Nölkenbockhoff/D v. 25.8.1987 = EuGRZ 1987, 410

Yassar Hussain/GB v. 7.3.2006

Cleve/D v. 15.1.2015 = NLMR 2015, 21

Rupp/D v. 17.11.2015 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.1.2019, Bsw. 24247/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 45) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.