JudikaturJustizBsw23505/09

Bsw23505/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Juli 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache N. gegen Schweden, Urteil vom 20.7.2010, Bsw. 23505/09.

Spruch

Art. 3 EMRK - Ausweisung einer Afghanin, die Scheidung beabsichtigt.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle der Durchsetzung der Ausweisungsanordnung (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Keine Entschädigung für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf., eine afghanische Staatsbürgerin, kam im August 2004 zusammen mit ihrem Ehemann, X., nach Schweden, wo beide um Asyl ansuchten. Sie gaben an, seit 1996 verfolgt zu werden, da X. politisch aktives Mitglied der kommunistischen Partei sei und man ihn deshalb bereits zweimal verhaftet habe. Trotz ihres Umzugs nach Kabul hätten Fundamentalisten nach X. gesucht, in der Absicht, ihn zu töten. Die Bf. selbst habe ihrer politischen Haltung Ausdruck verliehen, indem sie als Lehrerin für Frauen tätig war, was von einem Teil der führenden Elite in Kabul nicht geduldet werde.

Am 29.3.2005 wies die Einwanderungsbehörde den Antrag des Paares ab. Beide erhoben Berufung gegen diese Entscheidung und ihr Fall wurde in der Folge an das Migrationsgericht verwiesen. Die Bf. gab ergänzend an, sich im Juni 2005 von ihrem Mann getrennt zu haben und die Scheidung anzustreben, der sich X. jedoch widersetze. Durch die Trennung habe sie mit afghanischen Traditionen gebrochen. In ihrem Heimatland würde ihr deshalb Verfolgung drohen. Durch den Versuch, sich scheiden zu lassen, habe sie ihre Familie entehrt, die sie nun verstoßen würde. Außerdem habe sie Vergeltungsmaßnahmen seitens der Familie von X. zu befürchten. Da sie keine Kinder habe, wäre sie in Afghanistan eine soziale Außenseiterin. Wie sie hinzufügte, würde Ehebruch dort mit Steinigung bestraft.

Das Migrationsgericht wies die Berufung am 19.3.2007 ab. Es sei nicht erwiesen, dass X. für irgendeine Widerstandsgruppe in Afghanistan von Interesse wäre. Das von den Taliban eingeführte Verbot des Unterrichts für Frauen sei mittlerweile aufgehoben worden. Auch die persönliche Situation der Bf. betreffend könne von keiner konkreten Verfolgungsgefahr ausgegangen werden. Da sie keine außereheliche Beziehung führe, hätte sie nicht mit Steinigung zu rechnen. Zudem habe sie nicht ausreichend gezeigt, dass sie über kein soziales Netzwerk in Afghanistan verfüge. Es sei nicht erwiesen, dass für sie eine reale Gefahr der Verfolgung oder Misshandlung bestehe.

Eine weitere Berufung der Bf. blieb erfolglos und ihre Ausweisung wurde rechtskräftig.

Im Februar 2008 begehrte die Bf. beim Bezirksgericht Västmanland die Scheidung von X. Mangels Aufenthaltsberechtigung der Bf. erklärte sich das Gericht jedoch für unzuständig.

Beim Migrationsgericht beantragte die Bf. im Oktober 2008 eine neue Behandlung ihrer Sache, da sich die Situation in Kabul verschlechtert und sie eine Beziehung mit einem Schweden begonnen habe. Sie legte zudem einen Brief des regionalen UNHCR-Büros vor, in dem auf die für getrennte bzw. geschiedene Frauen bestehende Verfolgungsgefahr in Afghanistan verwiesen wurde. Der Antrag wurde in erster und zweiter Instanz abgewiesen.

Am 11.5.2009 empfahl der EGMR der schwedischen Regierung den vorübergehenden Aufschub der Ausweisung der Bf. Letztere gab vor dem GH an, von ihrer Familie in einem Telefonat vom Oktober 2005 wegen der Trennung von X. gerügt worden zu sein. Man habe ihr für den Fall, dass sie nicht zu ihrem Mann zurückkehre, den Kontakt versagt. Seither habe die Bf. nicht mehr mit ihren Verwandten kommuniziert.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Die Bf. ist der Ansicht, die Durchführung ihrer Ausweisung würde eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen.

1. Zur Zulässigkeit

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache

Obwohl diverse Berichte über ernsthafte Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan informieren, hält der GH diese an sich nicht für ausreichend, um zu zeigen, dass die Ausweisung der Bf. eine Verletzung der Konvention zur Folge hätte. Aus diesem Grund muss der GH unter Beachtung der persönlichen Situation der Bf. klären, ob ein solches Vorgehen Art. 3 EMRK zuwiderliefe. Er hat dazu die vorhersehbaren Konsequenzen einzuschätzen, die sich für die Bf. bei einer Rückkehr nach Afghanistan ergeben würden.

Für Frauen besteht in Afghanistan eine besondere Gefahr, misshandelt zu werden, wenn sie sich nicht in die ihnen von der Gesellschaft, der Tradition und dem Rechtssystem zugewiesene Geschlechterrolle einfügen. Haben sich Frauen einem weniger konservativen Lebensstil verschrieben, wird dies laut UNHCR weiterhin als Verstoß gegen soziale und religiöse Normen aufgefasst, was häusliche Gewalt oder andere Formen von Bestrafung, etwa Isolation, zur Folge haben kann. Verstöße gegen soziale Verhaltensregeln beziehen sich dabei nicht nur auf den Bereich der Familie oder Gemeinschaft, sondern auch auf die sexuelle Orientierung, die Verfolgung einer beruflichen Karriere oder einfach auf Zweifel an der Form des Familienlebens.

Die Bf. lebt, wenn auch illegal, seit August 2004 in Schweden. Schon allein dieser Grund kann die Annahme bewirken, sie würde nicht der ihr zugewiesenen Geschlechterrolle entsprechen. Bedeutender ist allerdings, dass die Bf. 2008 eine Scheidung anstrebte und bekräftigte, ihre Ehe nicht fortsetzen zu wollen. Da in Fällen wie dem vorliegenden die Absicht, sich scheiden zu lassen, zwar auch rein dadurch motiviert sein kann, dass frühere Asylanträge abgelehnt wurden, muss ein Bf. überzeugend darlegen, dass er die Scheidung wirklich und ehrlich anstrebt. Im vorliegenden Fall ist dies aber anzunehmen, da sich die Bf. bereits 2005, ein Jahr nach ihrer Ankunft in Schweden, von ihrem Ehemann getrennt hat und ihr 2008 erfolgter Scheidungsantrag unbestritten ist.

Die Bf. ist formal immer noch mit X. verheiratet. Sollten beide, getrennt oder gemeinsam, nach Afghanistan zurückkehren, könnte sich X. dazu entscheiden, die Ehe entgegen dem Willen der Bf. fortzuführen. In diesem Zusammenhang ist auf das schiitische Personenstandsgesetz zu verweisen, das zwar noch nicht implementiert ist, vom Parlament aber bereits angenommen wurde und vorsieht, dass Frauen den sexuellen Wünschen ihres Ehemannes entsprechen und dessen Erlaubnis einholen müssen, wenn sie das Haus verlassen wollen. Darüber hinaus sind derzeit bis zu 80 % der afghanischen Frauen von häuslicher Gewalt betroffen. Dem Beauftragten für Schutz und Entwicklung von Frauen der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission zufolge sehen die Behörden Gewalt gegen Frauen als legitim an, weshalb diesbezügliche Fälle nicht untersucht werden. Angst und ihr niedriger sozialer Status hält den Großteil der Frauen davon ab, rechtliche Schritte zu unternehmen. Der vorliegende Fall zeigt zwar keine spezifischen Umstände auf, die darlegen würden, dass die Bf. von X. eine derartige Behandlung zu befürchten hätte. Der GH kann die generellen, mittels Statistiken und internationalen Berichten aufgezeigten Gefahren aber nicht ignorieren.

Die Bf. behauptet außerdem, Verfolgung oder sogar die Verhängung der Todesstrafe befürchten zu müssen, da sie eine außereheliche Beziehung eingegangen sei. Detaillierte diesbezügliche Informationen hat sie den nationalen Behörden allerdings nicht vorgelegt. Sollte X. ihre Scheidungsabsicht oder andere Handlungen aber als Hinweis auf ein außereheliches Verhältnis auffassen, so verweist der GH auf einen Bericht des US State Department, dem zufolge Ehebruch im afghanischen Strafgesetzbuch als Verbrechen definiert ist. Laut einem Artikel von IRIN (Integrated Regional Information Networks) aus dem Jahr 2008 kann ein solches Verbrechen zur Todesstrafe oder langen Haftstrafen führen.

Sollte es der Bf. möglich sein, in Afghanistan getrennt von ihrem Mann zu leben, so ist auf eine Stellungnahme des UNHCR hinzuweisen, wonach unbegleitete Frauen oder Frauen ohne männlichen »Tutor« und damit auch geschiedene Frauen in Afghanistan bei der Führung eines normalen Soziallebens eingeschränkt seien und Ablehnung und Diskriminierung zu erleiden hätten. Frauen ohne männliche Unterstützung mangle es, insbesondere wegen ihrer eingeschränkten Bewegungsfreiheit, generell an überlebensnotwendigen Mitteln.

Die Regierung bestreitet zwar die Behauptung der Bf., diese würde in Afghanistan über kein soziales Netzwerk oder männlichen Schutz verfügen. Auch wenn nicht ganz klar ist, wann die Bf. zum letzten Mal Kontakt zu ihrer Familie hatte, so weist der GH aber darauf hin, dass ihm keine Informationen vorgelegt wurden, die die Glaubwürdigkeit der Aussage der Bf., sie habe seit fast fünf Jahren nicht mehr mit ihren Verwandten kommuniziert, ernsthaft in Frage stellen würden.

Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls kommt der GH zu dem Schluss, dass substantielle Gründe für die Annahme bestehen, der Bf. würden im Falle ihrer Ausweisung kumulativ diverse Vergeltungsmaßnahmen seitens ihres Mannes, dessen und ihrer eigenen Familie sowie der afghanischen Gesellschaft drohen, die unter Art. 3 EMRK subsumierbar sind. Die Durchsetzung der Ausweisungsanordnung würde somit eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen (einstimmig).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

In Anbetracht der obigen Feststellungen gewährt der GH keine Entschädigung für immateriellen Schaden (einstimmig).

III. Anwendung von Art. 39 VerfO EGMR

Die an die belangte Regierung ergangene Empfehlung einer einstweiligen Maßnahme muss in Kraft bleiben, bis das vorliegende Urteil endgültig wird oder bis der Ausschuss von fünf Richtern einen Antrag einer der Parteien auf Verweisung an die Große Kammer annimmt.

Vom GH zitierte Judikatur:

Vilvarajah u.a./GB v. 30.10.1991, NL 1992/1, 15; ÖJZ 1992, 309.

N./FIN v. 26.7.2005, NL 2005, 198.

S. A./NL v. 12.12.2006 (ZE).

Saadi/I v. 28.2.2008 (GK), NL 2008, 36.

NA./GB v. 17.7.2008, NL 2008, 221.

F. H./S v. 20.1.2009, NL 2009, 22.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.7.2010, Bsw. 23505/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 238) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/N..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.