JudikaturJustizBsw21980/04

Bsw21980/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
12. Mai 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Simeonovi gg. Bulgarien, Urteil vom 12.5.2017, Bsw. 21980/04.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK - Kein Zugang des Beschuldigten zu Rechtsbeistand während des Polizeigewahrsams.

Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (12:5 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 8.000,– für immateriellen Schaden. € 8.000,– für Kosten und Auslagen abzüglich bereits gewährter Verfahrenskostenhilfe des Europarats in der Höhe von € 2.952,52 (14:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 2.7.1999 überfielen zwei bewaffnete Männer eine Geldwechselstelle in Burgas und töteten zwei Angestellte. Noch am selben Tag startete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen unbekannt wegen bewaffneten Raubes und Mordes. Bald darauf wurde sie auf den Bf. und einen gewissen A. S. aufmerksam. In der Folge wurde gegen Ersteren ein Haftbefehl erlassen. Darin stand, dass er von Beginn seiner Festnahme an ein Recht auf Beistand durch einen Anwalt habe und ihm eine Kopie des Haftbefehls auszuhändigen sei.

Am 3.10.1999 wurde der Bf. in Sofia festgenommen. Aus dem Strafakt geht nicht hervor, ob er eine Kopie des Haftbefehls erhalten hat oder nicht.

Das Strafverfahren gegen den Bf.

Am 4.10.1999 ordnete die Staatsanwaltschaft Burgas gemäß § 202 StPO die Anhaltung des Bf. für 24 Stunden an. Am nächsten Tag wurde seine Haft vom zuständigen Staatsanwalt um drei Tage verlängert. Die Anordnungen der Staatsanwaltschaft vom 4. und 5.10.1999 enthalten weder einen Hinweis auf das Recht des Bf. auf anwaltlichen Beistand noch seine handschriftliche Bestätigung. Er selbst behauptet, die Behörden vier Mal, nämlich am 3., 4., 5. und 6.10.1999, erfolglos um Kontakt zu einem Anwalt ersucht zu haben und zwischen 3. und 6.10.1999 von einem Vertreter der Staatsanwaltschaft befragt worden zu sein. Der Strafakt des Bf. enthält jedoch keinen Vermerk darüber. Hingegen findet sich in ihm eine handschriftliche Erklärung seines mutmaßlichen Komplizen A. S., wonach der Bf. den Überfall angezettelt und auch die tödlichen Schüsse abgegeben hätte.

Am 6.10.1999 wurde dem Bf. von der Staatsanwaltschaft ein Pflichtverteidiger beigestellt und formell Anklage gegen ihn wegen Doppelmordes und Raubüberfalls erhoben. Er behielt sich eine Aussage bis zur Bestellung eines Verteidigers durch seine Eltern vor.

Im Zuge einer weiteren Befragung im Beisein seines Verteidigers machte der Bf. von seinem Schweigerecht Gebrauch. Zwei Wochen später legte er ein Geständnis ab, wonach er den Raubüberfall geplant und begangen, jedoch A. S. die tödlichen Schüsse abgegeben habe. In der Folge nahmen die Untersuchungsbehörden verschiedene Beweise – Augenzeugenberichte, medizinische und dokumentarische Belege – auf.

Am 4.1.2000 wurde den beiden Angeklagten Einsicht in die Fallakten gegeben, woraufhin sie ihre Geständnisse widerriefen. Mitte Februar übermittelte die Staatsanwaltschaft die Akte den Untersuchungsbehörden mit der Bitte um Durchführung weiterer Ermittlungen. In der Folge wurde gegen den Bf. zusätzlich Anklage wegen unrechtmäßigen Erwerbs einer Schusswaffe erhoben. Im Zuge einer weiteren Befragung schilderte der Bf. eine komplett neue Version des Tathergangs, nämlich dass ein gewisser V. mit Hilfe einer unbekannten zweiten Person den Raub und die Morde begangen hätte.

Das LG Burgas hielt zwischen 25.7.2000 und 14.6.2001 die Hauptverhandlung ab. Am 14.6.2001 sprach es den Bf. des bewaffneten Raubes mit Todesfolge sowie des unrechtmäßigen Erwerbs einer Schusswaffe für schuldig und verhängte eine lebenslange Freiheitsstrafe über ihn. Gemäß § 127b Abs. 1 Strafvollzugsgesetz ordnete es seine Anhaltung unter einem speziellen Haftregime für lebenslänglich Inhaftierte an.

Das dagegen erhobene Rechtsmittel wurde vom Gericht zweiter Instanz abgewiesen. Der Oberste Gerichtshof bestätigte diese Entscheidung.

Die Haftbedingungen

Der Bf. wurde vom 5.10.1999 bis 27.1.2000 und von Anfang März bis Mitte April 2000 in der Untersuchungshaftanstalt Burgas angehalten. Er schildert die dortigen Haftbedingungen wie folgt: In der Zelle habe es keine Fenster, keine Toilette und kein fließendes Wasser gegeben. Die Ventilation und die Lichtverhältnisse seien armselig gewesen, ebenso die hygienischen Bedingungen. Hofgang sei ihm keiner erlaubt worden. Er sei dann in eine Zelle zu zwei weiteren Häftlingen verlegt worden. Beim Schlafen hätten sie sich abwechseln müssen, da die Zelle nur über eine Bank verfügt habe.

Im Gefängnis von Burgas befand sich der Bf. in der Zeit von 27.1. bis Anfang März 2000 und von 14.4.2000 bis 25.2.2004. Er bringt vor, dass seine dortige Zelle über eine Fläche von 6 m2 und weder über fließendes Wasser noch über eine Toilette verfügt habe. Seine Notdurft habe er in einen Plastikeimer verrichten müssen.

Nach seiner Ankunft im Gefängnis von Sofia sei er einem speziellen Haftregime unterworfen worden, was praktisch zu seiner völligen Abschottung von den übrigen Häftlingen geführt habe. Zwar sei dieses beginnend mit Dezember 2008 gelockert worden, allerdings werde er immer noch vom Rest der Gefängnisinsassen getrennt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (Recht auf den Beistand eines Verteidigers) iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Reichweite der Jurisdiktion der Großen Kammer

(81) [...] [D]er Bf. ersuchte die Große Kammer um Aufhebung der Entscheidung der [IV.] Kammer vom 23.8.2011, mit der sie seine Beschwerde unter Art. 3 EMRK, wonach die lebenslange Freiheitsstrafe gegen diese Konventionsbestimmung verstoße, für unzulässig erklärte.

(83) Der GH erinnert daran, dass Inhalt und Umfang des der Großen Kammer zugewiesenen Falls von der Entscheidung der Kammer über die Zulässigkeit abgesteckt werden. Mit anderen Worten kann die Große Kammer jene Teile der Beschwerde nicht prüfen, die von der Kammer für unzulässig erklärt worden sind. Der GH sieht keinen Grund, im vorliegenden Fall von diesem Grundsatz abzuweichen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(85) Der Bf. beklagt sich über die physischen Bedingungen seiner Anhaltung und über das Haftregime in der (Untersuchungs)haftanstalt Burgas und im Gefängnis von Sofia.

(88) Die [IV.] Kammer stellte eine Verletzung von Art. 3 EMRK fest. Sie hielt insbesondere fest:

»(90) Die Parteien waren sich über die Ungeeignetheit der in der Untersuchungshaftanstalt Burgas vorherrschenden materiellen Bedingungen zwischen Oktober 1999 und April 2000 einig [...].

(91) [...] In seinem Bericht über den 2002 erfolgten Besuch der Haftanstalt Burgas [...] notierte das CPT als Hauptproblem den eingeschränkten Zugang von Häftlingen zu den gemeinsamen Sanitäreinrichtungen und die Verwendung von Kübeln als Toiletten.

(92) [...] Der Bericht des CPT über seinen Besuch im Jahr 2014 hebt erneut die Verwahrlosung des für lebenslänglich inhaftierte Häftlinge reservierten Gefängnisbereichs wie auch den Mangel an Tageslicht und die unzureichende Hygiene in den Räumlichkeiten hervor.

(93) Der GH merkt an, dass über all die Jahre im Gefängnis die Art und die Methode des Vollzugs der lebenslangen Freiheitsstrafe des Bf. in Anwendung des für ihn festgelegten Haftregimes extrem einschränkend waren. [...] Er musste 23 Stunden täglich in seiner Zelle verbringen (davon die meiste Zeit auf seinem Bett), sein Zugang zur Gefängnisbibliothek war auf wenige Minuten beschränkt und der Besuch der Gefängniskapelle wurde ihm lediglich zwei Mal im Jahr ohne Beisein von anderen Häftlingen gestattet. Zwar wurden ihm 2008 Hafterleichterungen gewährt, jedoch wurde er [...] noch immer vom Rest der Häftlinge getrennt festgehalten, wobei seine Zelle ganztägig versperrt war. [...]

(94) [...] [D]er GH ist der Auffassung, dass die schlechten Haftbedingungen in Verbindung mit dem eingeschränkten Regime, unter dem der Bf. seine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen muss, und der Dauer seiner Haftstrafe ihn einem Leidensweg unterwarfen, der das der Verbüßung einer Haftstrafe zwangsläufig innewohnende Leiden weit überstieg. [...]

(95) Es hat somit eine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden.«

(89) Der GH sieht keinen Grund, von den Schlussfolgerungen der [IV.] Kammer abzugehen. Er hält zudem fest, dass das CPT in seinem Bericht über seinen letzten Besuch in Bulgarien und in seiner öffentlichen Erklärung vom 26.3.2015 unter Art. 10 Abs. 2 der Europäischen Antifolter-Konvention erwähnt hat, dass die schlechten Haftbedingungen im Gefängnis von Sofia nach wie vor bestehen.

(91) [...] Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK

(92) Der Bf. beklagt sich darüber, während der ersten Tage seiner Anhaltung keinen Beistand durch einen Anwalt erhalten zu haben.

Ab welchem Zeitpunkt kamen die Garantien des Art. 6 EMRK beim Bf. zur Anwendung?

(121) [...] Der GH ist der Ansicht, dass das Datum der Verhaftung des Bf. [...] am 3.10.1999 als Anknüpfungspunkt für die Anwendung der in Art. 6 EMRK niedergelegten Gewährleistungen genommen werden sollte. [...]

Verzichtete der Bf. auf sein Recht auf anwaltlichen Beistand?

(122) Der GH notiert, dass der fehlende anwaltliche Beistand für den Bf. während der Haft nicht Folge [der Anwendung] innerstaatlichen Rechts war, da das bulgarische Recht ihm Zugang zu einem Rechtsbeistand bereits zum Zeitpunkt seiner Verhaftung (3.10.1999) garantierte. Hätte der Bf. daher um Erlaubnis angesucht, mit einem Anwalt am 3.,4., 5. und 6.10.1999 sprechen zu dürfen, wären die Behörden unter einer gesetzlichen Verpflichtung gestanden, diesem Ersuchen nachzukommen.

(123) Die Parteien sind sich darüber uneinig, ob der Bf. um Kontakt zu einem Anwalt bat. Nichts in den Fallakten vermag die Behauptung des Bf. zu erhärten, dass er ein solches Ersuchen stellte. Zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt verlangte das bulgarische Recht noch keine schriftlichen Aufzeichnungen betreffend den Wunsch des Festgenommenen, einen Anwalt konsultieren zu dürfen, bzw. seinen Verzicht auf dieses Recht.

(124) Der GH erinnert daran, dass er bei der Bewertung eines solchen Beweises den Beweisstandard »über jeden vernünftigen Zweifel hinaus« anwendet, möchte jedoch hinzufügen, dass sich ein solcher Beweis auch aus der Koexistenz ausreichend starker, klarer und übereinstimmender Rückschlüsse oder aus ähnlichen unwiderlegbaren Tatsachenvermutungen ergeben kann. Er findet es bedauerlich, dass die ersten drei Tage der Anhaltung des Bf. nicht ordentlich dokumentiert wurden, um jeden Zweifel dahingehend auszuschließen, ob der Bf. nun um den Beistand eines Anwalts ersucht hat oder nicht. Mehrere Jahre nach Zurückliegen dieser Ereignisse und in Ermangelung eines prima facie-Beweises ist der GH folglich nicht in der Lage festzustellen, ob der Bf. in der Tat darum ersuchte, einen Anwalt konsultieren zu dürfen.

(125) Der GH muss denoch versuchen zu ergründen, ob unter den besonderen Umständen dieses Falles das Fehlen objektiver Beweise, dass der Bf. um den Erhalt rechtlichen Beistandes während der polizeilichen Anhaltung bat, darauf hindeuten könnte, dass er implizit auf ein solches Recht verzichten wollte.

(126) In dieser Hinsicht merkt der GH an, dass es in einem Rechtssystem, wie es in Bulgarien zum damaligen Zeitpunkt in Kraft war und in welchem der Beistand eines Anwalts während der Anhaltung im Polizeigewahrsam vom ausdrücklichen Wunsch des Verdächtigen abhängig war, wesentlich ist, dass Letzterer über ein solches Recht informiert wird, um ihm Gelegenheit zu geben, sich darauf zu berufen. Dies ist vor allem dann von Bedeutung, wenn – wie im vorliegenden Fall – der Beschuldigte [der Begehung] schwerer Straftaten verdächtigt wird und ihm eine schwere Haftstrafe droht. [...] Somit stellt sich die Frage, ob der Bf. ordnungsgemäß von seinem Recht auf anwaltlichen Beistand während des Zeitpunkts seiner Anhaltung informiert wurde, wie es das damalige innerstaatliche Recht vorsah.

(127) [...] Die Regierung [...] brachte vor, dass dem Bf. diese Information gleich nach seiner Verhaftung zukam. Die Gerichtsakte enthält jedoch keinen schriftlichen Hinweis des Rückgriffs auf eine solche Maßnahme und die Regierung selbst hat ihre Behauptung durch keinerlei Beweise untermauert. Der GH kann nur feststellen, dass der Haftbefehl, in dem auch das Recht auf anwaltlichen Beistand erwähnt wurde, vom Bf. nicht unterfertigt wurde, und nichts darauf hindeutet, dass ihm nach seiner Verhaftung eine Kopie dieses Haftbefehls ausgehändigt wurde. Es muss daher angenommen werden, dass ihm der Haftbefehl zu keiner Zeit ordnungsgemäß zugestellt wurde. Dies hatte zur Folge, dass der Bf. vor dem Datum der Anklageerhebung – das ist der 6.10.1999 – nicht auf nachweisbare Art und Weise von seinen prozessualen Rechten in Kenntnis gesetzt wurde.

(128) Der GH erinnert daran, das der Erhalt einer solchen Information durch die beschuldigte Person eine der die Ausübung ihrer Verteidigungsrechte ermöglichenden Garantien ist und die Behörden in die Lage versetzen soll, insbesondere zu gewährleisten, dass jeder Verzicht des Beschuldigten auf sein Recht auf anwaltlichen Beistand freiwillig, bewusst und nachvollziehbar ist. Besagte Information garantiert somit die effektive Möglichkeit der Ausübung dieses Rechts und darüber hinaus die Gültigkeit jeglichen Verzichts unter der Konvention. Gesetzt sogar den Fall, dass der Bf. nicht ausdrücklich um den Beistand eines Anwalts während seines Polizeigewahrsams ersuchte, wie es das damalige bulgarische Recht vorschrieb, kann nicht angenommen werden, dass er implizit auf sein Recht auf anwaltlichen Beistand verzichtet hat, da ihm diese Information nicht unverzüglich nach seiner Verhaftung zugetragen wurde. Sein Recht auf anwaltlichen Beistand wurde daher eingeschränkt.

Bestanden »zwingende Gründe« für die Einschränkung des Zugangs zu einem Anwalt?

(129) Der GH erinnert daran, dass Einschränkungen des Zugangs zu einem Anwalt nur im Ausnahmsfall aus »zwingenden Gründen« gestattet sind, zeitweiliger Natur sein und auf einer individuellen Bewertung der besonderen Umstände des Falles beruhen müssen.

(130) Die Regierung erwähnte keine derartigen außergewöhnlichen Umstände und es ist nicht Aufgabe des GH, aus eigenem Antrieb festzustellen, ob solche im gegenständlichen Fall existierten. Er vermag daher keine »zwingenden Gründe« zu erblicken, die eine Einschränkung des Zugangs des Bf. zu einem Anwalt während des Polizeigewahrsams rechtfertigen hätten können: es wurde – im Gegensatz zu Ibrahim u.a./GB – keine unmittelbar bevorstehende Bedrohung für das Leben, die körperliche Integrität oder die Sicherheit anderer Personen behauptet. Darüber hinaus legte die nationale Gesetzgebung betreffend den Zugang zu einem Rechtsbeistand während des Polizeigewahrsams keine ausdrückliche Ausnahme nieder, was die Ausübung dieses Rechts angeht. Es scheint so, dass die Ereignisse im vorliegenden Fall einer Praxis seitens der Behörden entsprachen, die auch vom CPT scharf kritisiert wurde.

(131) Der GH bemerkt in diesem Zusammenhang, dass sich eine derartige Behördenpraxis mit dem in der Präambel zur Konvention ausdrücklich erwähnten [...] Rechtsstaatsprinzip schwerlich vereinbaren ließe.

War die Gesamtfairness des Verfahrens gewährleistet?

(132) Der GH muss nun prüfen, ob das Fehlen eines Anwalts im Zuge des Polizeigewahrsams den Effekt hatte, die Gesamtfairness des gegen den Bf. angestrengten Verfahrens unwiderruflich zu beeinträchtigen. Der Mangel an »zwingenden Gründen« veranlasst den GH, eine sehr strikte Prüfung der Fairness des Verfahrens durchzuführen. Es liegt an der Regierung überzeugend darzulegen, dass der Bf. trotz alledem über ein faires Verfahren verfügte.

(133) In diesem Zusammenhang verwies die Regierung auf die folgenden Umstände: der Bf. sei während der im Polizeigewahrsam verbrachten Zeit ohne Beisein eines Anwalts nicht formell befragt worden; keine Äußerung des Bf., die er während dieses Zeitraums gemacht haben konnte, sei in Betracht gezogen oder später als Beweis gegen ihn verwendet worden; sein Verhalten während des Polizeigewahrsams sei von den Strafverfolgungsbehörden bzw. den relevanten Gerichten nicht berücksichtigt worden; er habe sich bei den Behörden zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens darüber beklagt, während des Polizeigewahrsams zu einem Geständnis gezwungen worden zu sein; ferner sei er während des Strafverfahrens in den Genuss eines weiten Spektrums an prozessualen Sicherheiten gekommen, die alle Attribute an ein faires Verfahren erfüllt hätten.

(134) [...] [D]ie Parteien vertreten unterschiedliche Standpunkte, ob der Bf. zwischen 3. und 6.10.1999 ohne Beisein eines Anwalts verhört wurde. [...] Die Regierung legt dar, dass auch gesetzt den Fall, eine Unterredung oder ein Verhör habe während des Polizeigewahrsams stattgefunden, beides informell vor sich gegangen sei und keinen Einfluss auf den Ablauf des Strafverfahrens haben konnte. Der Bf. wiederum beharrte [...] darauf, befragt worden zu sein: aus Sicht der Behörden wäre es nämlich unlogisch gewesen, eine solch zusätzliche Gelegenheit zum Sammeln von Beweisen zu verpassen.

(135) Der GH bemerkt in diesem Zusammenhang, dass sich [...] in der ursprünglichen Beschwerde an den GH nur sehr vage Angaben des Bf. zu diesem Thema finden. Erst in seinem schriftlichen Vorbringen vor der Großen Kammer gab er eine Reihe spezifischer Details preis, [...] wie etwa den Inhalt seiner Äußerungen während der Befragung im Polizeigewahrsam und den Namen des Anwalts, um dessen Kontaktierung er gebeten hatte. Der GH merkt auch an, dass der Bf. den fehlenden rechtlichen Beistand während des Polizeigewahrsams auch nicht im Verfahren vor dem Gericht zweiter Instanz erwähnte und sich seine Beschwerde [an den Obersten Gerichtshof] nur am Rande auf das Fehlen eines Anwalts am 4.10.1999 [...] bezog. Dazu kommt, dass die handschriftliche Erklärung seines mutmaßlichen Komplizen A. S. vom 3.10.1999 in den Gerichtsakt aufgenommen wurde, hingegen für den GH kein prima facie-Beweis darauf schließen lässt, dass der Bf. während des Polizeigewahrsams formell oder informell befragt wurde.

(136) Wie dem auch sei, misst der GH der Tatsache entscheidende Bedeutung zu, dass während des Zeitraums von ungefähr drei Tagen kein gegen den Bf. verwendbarer Beweis gewonnen und in den Gerichtsakt aufgenommen wurde. Keine Erklärung wurde dem Bf. abverlangt und auch die im Gerichtsakt vermerkten Beweise geben keinen Aufschluss darüber, dass der Bf. in diesem Zeitraum irgendeiner anderen Untersuchungsmaßnahme [...] unterzogen worden wäre. Schließlich hat der Bf. selbst vor dem EGMR nie ausdrücklich behauptet, dass die innerstaatlichen Gerichte im Besitz von Beweisen gewesen wären, die während dieses Zeitraums vorgelegt und später im Strafprozess gegen ihn verwendet worden wären, um seine Verurteilung zu gewährleisten.

(137) An dieser Stelle soll betont werden, dass das bulgarische Recht und die Rechtsprechung der nationalen Gerichte den Ausschluss von Beweisen vorsehen, wenn sie in einer mit strafverfahrensrechtlichen Grundsätzen unvereinbaren Art und Weise erlangt wurden. Im Fall des Bf. war rechtlicher Beistand während der Befragung bereits aufgrund der zu erwartenden Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe auch eine [conditio] sine qua non für die Zulassung jedweder Äußerungen von seiner Seite als Beweis in der Hauptverhandlung.

(138) Zusätzlich ist festzustellen, dass im Gegensatz zu den Fällen John Murray/GB und Averill/GB das Versäumnis des Beschuldigten, eine Erklärung abzugeben, keinerlei Auswirkungen auf die nachfolgenden Abschnitte des Strafverfahrens gehabt hätte. Der Bf. hätte sogar von seinem Schweigerecht profitieren können, hätte er sich nicht dazu entschlossen, zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens auszusagen, als er bereits den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl erlangt hatte.

(139) Der Bf. sagte am 21.10.1999 – zwei Wochen, nachdem gegen ihn formell Anklage erhoben worden war – freiwillig aus. Bei der Beurteilung des freiwilligen Charakters des Geständnisses nimmt der GH Bezug auf die Tatsache, dass dieser bereits zweimal – am 6. und am 12.10.1999 – im Beisein eines Anwalts befragt worden war und jedes Mal zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen geschwiegen hatte. Während beider Befragungen und bei seinem Geständnis am 21.10.1999 war er bereits über seine Verfahrensrechte verständigt worden, insbesondere über sein Recht, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen. Außerdem erhielt er zu diesem Zeitpunkt bereits fachlichen Rat und Unterstützung durch einen Verteidiger seiner Wahl.

(140) Es ist unstrittig, dass [von den Gerichten] lediglich das vom Bf. am 21.10.1999 abgelegte Geständnis für seine Verurteilung herangezogen wurde. Es wurde auch weder vor den nationalen Gerichten noch vor dem GH selbst eine kausale Verbindung zwischen dem Fehlen eines Anwalts in der Zeit von 3. bis 6.10.1999 und dem Geständnis des Bf. zwei Wochen später [...] hergestellt. Folglich beeinträchtigte die Abwesenheit eines Anwalts während der Zeit, die der Bf. im Polizeigewahrsam verbrachte, in keiner Weise sein Recht, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen.

(141) Der GH vermerkt ferner, dass der Bf. aktiv an allen Stufen des Strafverfahrens teilnahm: er widerrief seine ursprünglichen Angaben, präsentierte eine andere Version der Ereignisse und seine Verteidiger brachten Entlastungsbeweise bei bzw. stellten die Belastungsbeweise in Frage.

(142) Zudem wurde die Verurteilung des Bf. nicht ausschließlich auf sein am 21.10.1999 gemachtes Geständnis [...], sondern auf eine ganze Reihe von schlüssigen Beweisen gestützt, darunter die Aussagen einer großen Anzahl von Zeugen [...], die Resultate ballistischer [und] technischer [...] Gutachten, medizinische und psychiatrische Stellungnahmen und auch die gesammelten physischen und dokumentarischen Beweise.

(143) Der Fall wurde auf drei Gerichtsebenen [...] geprüft. Alle drei Gerichtshöfe nahmen eine gebührende Prüfung der verfügbaren Beweise vor [...]. In ihren Entscheidungen, die sowohl faktisch als auch rechtlich ordnungsgemäß begründet waren, prüften sie auch, ob die Verfahrensrechte des Bf. gewahrt worden waren.

(144) Im Lichte dieser Ergebnisse gelangt der GH zur Ansicht, dass die Regierung relevante und ausreichende Beweise dafür vorgebracht hat, dass die Gesamtfairness des gegen den Bf. abgeführten Strafverfahrens durch das Fehlen rechtlichen Beistands während seines Polizeigewahrsams in der Zeit von 3. bis 6.10.1999 nicht unwiderruflich beeinträchtigt wurde.

Ergebnis

(145) Folglich kam es zu keiner Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (12:5 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Sajó und den Richterinnen Lazarova-Trajkovska und Vucinic, gefolgt von Richter Turkovic; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides).

Anwendung von Art. 46 EMRK

(146) Der Bf. forderte den GH auf, der bulgarischen Regierung – ähnlich wie im Fall Harakchiev und Tolumov/BG – Maßnahmen [...] mit Blick auf die materiellen Haftbedingungen und das Haftregime für lebenslänglich Inhaftierte anzuzeigen.

(151) Im vorliegenden Fall gelangte der GH zur Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK aufgrund der Haftbedingungen, denen der Bf. unterworfen war, in Verbindung mit dem restriktiven Haftregime und der Dauer seiner Haft. Diese Umstände wie auch die anwendbare innerstaatliche Gesetzeslage sind identisch mit jenen, die den GH zur Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK [...] in seinem Urteil im Fall Harakchiev und Tolumov/BG veranlassten. Er hält es daher für angebracht, an dieser Stelle die in Rn. 280 des genannten Urteils abgegebenen Empfehlungen nochmals in Erinnerung zu rufen: a) Abschaffung der automatischen Anwendung des speziellen Haftregimes für lebenslänglich inhaftierte Häftlinge und b) Einführung von gesetzlichen Bestimmungen, welche die Verhängung eines solchen Regimes auf der Basis einer individuellen Risikoeinschätzung gestatten.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 8.000,– für immateriellen Schaden. € 8.000,– für Kosten und Auslagen abzüglich bereits gewährter Verfahrenskostenhilfe des Europarats in der Höhe von € 2.952,52 (14:3 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

John Murray/GB v. 8.2.1996 (GK) = NL 1996, 40 = EuGRZ 1996, 587 = ÖJZ 1996, 627

Averill/GB v. 6.6.2000

Harakchiev und Tolumov/BG v. 8.7.2014

Dvorski/HR v. 20.10.2015 (GK) = NLMR 2015, 412

Ibrahim u.a./GB v. 13.9.2016 (GK) = NLMR 2016, 423

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.5.2017, Bsw. 21980/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 226) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_3/Simeonovi.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
6
  • RS0131645AUSL EGMR Rechtssatz

    23. Mai 2019·3 Entscheidungen

    Bei der Beurteilung der Vereinbarkeit polizeilicher Befragungen ohne rechtlichen Beistand mit Art 6 MRK betrachtet der EGMR zwei getrennte, aber mit einander verbundene Angelegenheiten. Zunächst ist zu prüfen, ob „zwingende Gründe“ für den verzögerten Zugang zu rechtlichem Beistand vorlagen. Selbst wenn eine Beschränkung des Zugangs zu rechtlichem Beistand durch zwingende Gründe gerechtfertigt und damit mit Art 6 MRK vereinbar war, kann es trotzdem im Interesse der Fairness notwendig sein, eine bei einer polizeilichen Befragung in Abwesenheit eines Anwalts gemachte Aussage im folgenden Strafverfahren auszuschließen. Auf dieser Stufe der Prüfung des EGMR ist die Frage, ob die Zulassung der Aussage dem Beschwerdeführer im Strafverfahren eine ungebührliche Beeinträchtigung bescherte, wobei die Fairness des Verfahrens insgesamt betrachtet werden muss. Bei der Entscheidung, ob die Zulassung einer ohne rechtlichen Beistand gemachten Aussage mit Art 6 MRK vereinbar war, ist – soweit unter den gegebenen Umständen relevant – Folgendes zu prüfen: der anwendbare allgemeine rechtliche Rahmen und die enthaltenen Sicherungen; die Qualität der Beweise; ob die Aussage unverzüglich widerrufen und die darin gemachten Zugeständnisse beharrlich geleugnet wurden, insbesondere sobald anwaltliche Beratung erlangt wurde; die im Strafverfahren angewendeten Verfahrensgarantien und insbesondere, ob der Angeklagte Gelegenheit bekam, die Authentizität der Beweise zu bestreiten und ihrer Verwendung zu widersprechen; und schließlich die Stärke der anderen Beweise.