JudikaturJustizBsw19391/11

Bsw19391/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. November 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Topcic-Rosenberg gg. Kroatien, Urteil vom 14.11.2013, Bsw. 19391/11.

Spruch

Art. 8, 14, 37 EMRK - Anspruch auf Elternkarenz für Adoptivmutter.

Zurückweisung des Antrages der Regierung auf Streichung der Beschwerde aus der Liste (4:3 Stimmen).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK (mehrheitlich).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.000,– für immateriellen Schaden, € 3.500,– für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf., selbständige Unternehmerin aus Zagreb, adoptierte am 5.10.2006 ein dreijähriges Kind.

Am 16.10.2006 beantragte die Bf. bei der Niederlassung der kroatischen Krankenversicherung in Zagreb Elternkarenz. Ihr Antrag wurde am 20.10.2006 abgewiesen, da nach dem Karenzgesetz leibliche Mütter einen Anspruch auf Karenz nur im ersten Lebensjahr des Kindes hätten und dies auch für Adoptivmütter gelte.

Die Bf. legte gegen diese Entscheidung Berufung bei der Zentralniederlassung der Kroatischen Krankenkasse ein. Sie bezog sich auf das Arbeitsgesetz, wonach die Adoptiveltern eines Kindes unter zwölf Jahren Anspruch auf 270 Tage bezahlten Urlaub ab dem Datum der Adoption haben.

Am 21.3.2007 wies die Zentralniederlassung die Berufung der Bf. ab, da das Karenzgesetz im Fall der Bf. als lex specialis angewendet werden müsse, welches weder für leibliche noch für Adoptivmütter einen Karenzanspruch vorsehe, wenn das Kind älter als ein Jahr sei.

Die Bf. erhob zu einem unbekannten Zeitpunkt im Jahr 2007 Beschwerde beim Verwaltungsgericht. Diese wurde am 26.11.2009 abgewiesen, da die Verwaltungsbehörden das Karenzgesetz richtigerweise als lex specialis angewendet hätten und die Bf. somit keinen Karenzanspruch habe, weil ihr Kind zum Zeitpunkt der Adoption älter als ein Jahr war.

Am 10.12.2009 erhob die Bf. Verfassungsbeschwerde und brachte vor, dass die Verwaltungsbehörden das einschlägige nationale Recht in einer Weise ausgelegt hätten, die die betreffenden Bestimmungen letztendlich ineffektiv mache, da die Adoption eines Kindes unter einem Jahr extrem selten sei. Das Verfassungsgericht erklärte die Beschwerde am 9.2.2011 aufgrund offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), da sie als Adoptivmutter und selbständige Unternehmerin diskriminiert worden sei.

Streichung der Beschwerde aus dem Register nach Art. 37 EMRK?

Die Regierung beantragte am 29.4.2013 die Streichung des Falles aus dem Register iSd. Art. 37 EMRK und teilte dem GH mit, dass sie zur Lösung des Problems eine einseitige Erklärung abgeben wolle. Darin erkannte sie an, dass im vorliegenden Fall eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes nach Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK vorliege, und erklärte sich zu einer Zahlung von € 4.000,– an die Bf. als Ersatz für den immateriellen Schaden bereit. Die Bf. nahm dieses Angebot nicht an, da die Summe zum Ersatz des Schadens nicht ausreichend sei.

Nach Art. 37 EMRK kann der GH zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens eine Beschwerde aus dem Register streichen, wenn einer der Gründe nach Art. 37 Abs. 1 lit. a, b oder c vorliegt. Der GH prüft dazu die Erklärung im Lichte seiner Rechtsprechung, insbesondere des Falles Tahsin Acar/TR. Er stellt fest, dass die Regierung, obwohl sie im vorliegenden Fall eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK eingeräumt hat, der Bf. keine angemessene Entschädigung anbot, da die vorgeschlagene Summe von € 4.000,– nicht als verhältnismäßig anzusehen ist.

Aus diesen Gründen befindet der GH, dass die Regierung keine hinreichende Grundlage für die Annahme bieten konnte, dass die Achtung der Menschenrechte iSd. Konvention keine weitere Prüfung des Falles durch den GH erfordere. Der Antrag der Regierung, die Beschwerde aus dem Register zu streichen, ist somit zurückzuweisen (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterin Berro-Lefèvre und der Richter Hajiyev und Møse).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (mehrstimmig).

Der GH hat bereits festgestellt, dass eine Beziehung, die sich von einer rechtmäßigen Adoption ableitet, als ausreichend anzusehen ist, um den Schutz hervorzurufen, der für das Familienleben iSd. Art. 8 EMRK besteht. Weiters fördern die Elternkarenz und damit zusammenhängende Leistungen das Familienleben und betreffen zwangsläufig die Weise, wie dieses organisiert ist. Sie liegen daher im Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK.

Im Hinblick auf die genannten Prinzipien ist Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar. Wenn ein Staat ein Karenzsystem bereitstellt, muss er dies in Übereinstimmung mit Art. 14 EMRK tun.

Im vorliegenden Fall basierte die unterschiedliche Behandlung der Bf. hinsichtlich ihres Karenzanspruches als selbständige Unternehmerin auf ihrer Eigenschaft als Adoptivmutter. Insbesondere wurden der Bf. ein Karenzanspruch und diesbezügliche Zahlungen nach der Adoption ihres Kindes verweigert, obwohl leibliche Mütter einen solchen Anspruch von der Geburt des Kindes bis zu dessen erstem Geburtstag haben.

Die nationalen Behörden legten das einschlägige nationale Recht dahingehend aus, dass ein Anspruch selbständiger Adoptivmütter auf Elternkarenz bis zum ersten Geburtstag des Kindes bestehe, unabhängig vom Zeitpunkt der Adoption. Da die Tochter der Bf. drei Jahre alt war, als sie adoptiert wurde, wurde der Antrag der Bf. auf Karenz abgelehnt.

Bei der Beurteilung des vorliegenden Falles sind zwei Kriterien zu berücksichtigen. Erstens liegt der Zweck der Karenz für eine Adoptivmutter darin, dass es ihr möglich ist, sich zuhause um ihr Kind zu kümmern. Diesbezüglich befindet sie sich in einer mit einer leiblichen Mutter vergleichbaren Situation. Zweitens hat der Staat jegliche Handlungen zu unterlassen, die die Entwicklung einer Bindung zwischen Adoptiveltern und ihrem Kind oder die Integration des Kindes in die Familie behindern.

Der GH nimmt zur Kenntnis, dass das zum relevanten Zeitpunkt geltende Arbeitsgesetz vorsah, dass Adoptivmütter denselben Karenzanspruch wie leibliche Mütter haben. Danach standen alle Rechte leiblicher Mütter nach der Geburt, den Karenzanspruch eingeschlossen, auch Adoptivmüttern ab dem Zeitpunkt, zu dem die Adoption abgeschlossen ist, zu.

Art. 66 Abs. 2 Arbeitsgesetz regelt, dass eine Frau vor dem errechneten Geburtstermin Anspruch auf 45 Tage Mutterschutz sowie nach der Geburt bis zum ersten Geburtstag des Kindes Anspruch auf Karenz hat. Gemäß Art. 74 dieses Gesetzes kommt Adoptiveltern derselbe Schutz bezüglich ihrer Elternschaft und der Erziehung ihrer Kinder zu und haben Adoptiveltern eines Kindes, das zwischen einem Jahr und zwölf Jahre alt ist, ab dem Tag der Adoption Anspruch auf 270 Tage Urlaub.

Zum fraglichen Zeitpunkt bestimmten Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 des Karenzgesetzes, auf das sich die nationalen Behörden im vorliegenden Fall als lex specialis bezogen, dass leibliche Mütter, die selbständig sind, vor dem errechneten Geburtstermin Anspruch auf 45 Tage Mutterschutz sowie nach der Geburt bis zum ersten Geburtstag des Kindes Anspruch auf Karenz haben. Gemäß Art. 6 dieses Gesetzes haben Adoptiveltern unter den gleichen Bedingungen dieselben Ansprüche iSd. Gesetzes, wobei nicht näher bezeichnet wird, wie dieses auszulegen ist, wenn ein Kind nach seinem ersten Lebensjahr adoptiert wird.

Die nationalen Behörden wendeten das relevante Recht, als sie die einschlägigen Bestimmungen des Karenzgesetzes so auslegten, dass sie Adoptivmüttern einen Karenzanspruch nur im ersten Lebensjahr des Kindes gewähren, in einer außerordentlich formalen und unflexiblen Art an. Sie ließen die allgemeinen Prinzipien des Arbeitsgesetzes außer Betracht, das die Tatsache berücksichtigt, dass die Position einer leiblichen Mutter nach der Geburt der einer Adoptivmutter nach der Adoption entspricht. Da keine objektiven und nachvollziehbaren Gründe für die unterschiedliche Behandlung der Bf. als Adoptivmutter bei der Gewährung eines Karenzanspruches und einer leiblichen Mutter, der ein solcher Anspruch ab dem Zeitpunkt der Geburt zusteht, ersichtlich sind, kommt die unterschiedliche Behandlung nach Ansicht des GH einer Diskriminierung gleich.

Letztlich wurden alle Bedenken bezüglich der notwendigen gleichen Behandlung von leiblichen und Adoptivmüttern nach der Geburt bzw. der Adoption in Bezug auf Karenzansprüche durch das Inkrafttreten des Elternbeihilfegesetzes am 1.1.2009 beseitigt. Auch wenn dieses Gesetz nicht direkt auf den Fall der Bf. anwendbar ist, da sie ihren Antrag auf Karenz nach der alten Rechtslage gestellt hat, deutet es dennoch darauf hin, dass der Verwaltungsgerichtshof im November 2009 und der Verfassungsgerichtshof im Februar 2011 die relevanten Grundsätze und Prinzipien des innerstaatlichen Rechtssystems missachteten. Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterin Berro-Lefèvre und der Richter Hajiyev und Møse).

Zu einer anderen behaupteten Verletzung

Die Bf. rügt unter Art. 6 EMRK, keinen Zugang zu einem Gericht gehabt zu haben. Im Lichte des gesamten Materials und soweit die Vorbringen in seine Zuständigkeit fallen, erkennt der GH hier keine Verletzung der Konvention. Die Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 7.000,– für immateriellen Schaden, € 3.500,– für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterin Berro-Lefèvre und der Richter Hajiyev und Møse).

Vom GH zitierte Judikatur:

Tahsin Acar/TR v. 6.5.2003 (GK)

Pini u.a./RO v. 22.6.2004 = NL 2004, 140

Wagner und J. M. W. L./L v. 28.6.2007 = NL 2007, 181

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.11.2013, Bsw. 19391/11

entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 417) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_6/Topcic.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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