JudikaturJustizBsw18597/13

Bsw18597/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
09. Januar 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus gg. die Schweiz, Urteil vom 9.1.2018, Bsw. 18597/13.

Spruch

Art. 10 EMRK - Bezeichnung einer politischen Rede als "verbaler Rassismus".

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 30.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei der Bf. handelt es sich um eine Schweizer nichtstaatliche Organisation, die jegliche Art von rassistisch motivierter Diskriminierung ablehnt und es sich zum Ziel gemacht hat, Toleranz zu fördern.

Am 5.11.2009 veranstaltete die Junge Schweizerische Volkspartei (JSVP) eine Demonstration auf dem Bahnhofsplatz in der Stadt Frauenfeld, um so für die Unterstützung einer öffentlichen Initiative bezüglich des Verbotes der Errichtung von Minaretten in der Schweiz zu werben. Nach diesem Event wurde auf der Webseite der Partei ein Bericht mit unter anderem den folgenden Inhalten veröffentlicht:

»In seiner Ansprache vor dem Thurgauer Regierungsgebäude betonte B. K., der Vorsitzende der lokalen Zweigstelle der JSVP, dass es an der Zeit sei, die Verbreitung des Islam zu stoppen. […] Die schweizerische Leitkultur, die auf dem christlichen Glauben beruhe, könne es sich nicht erlauben, von anderen Kulturen verdrängt zu werden. Ein symbolisches Zeichen, wie etwa das Verbot von Minaretten, würde somit einen Ausdruck der Wahrung der eigenen Identität darstellen.«

Als Reaktion auf diesen Bericht veröffentlichte die bf. Organisation auf ihrer Webseite unter der Rubrik »Chronologie – Verbaler Rassismus« einen Eintrag mit dem Titel »Frauenfeld TG, 5. November 2009«, in dem sie die genannten Aussagen von B. K. wiedergab.

Am 21.8.2010 erhob B. K. am BG Kreuzlingen eine Klage auf Schutz seiner Persönlichkeitsrechte gegen die bf. Organisation. Die Klage wurde am 15.3.2011 abgewiesen.

Am 17.11.2011 kehrte das Obergericht des Kantons Thurgau das erstinstanzliche Urteil im Berufungsverfahren um: Es kam zu dem Schluss, dass es sich bei der Bezeichnung der Ansprache als »verbaler Rassismus« um ein gemischtes Werturteil gehandelt habe, welches somit durchaus zu einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten führen konnte, wenn es auf Unwahrheiten beruhte. Im Ergebnis sei die Ansprache von B. K. als nicht rassistisch einzustufen. Das Gericht ordnete an, den strittigen Artikel von der Webseite der Bf. zu entfernen und durch sein Urteil zu ersetzen.

Am 25.1.2012 erhob die bf. Organisation daraufhin Berufung beim Bundesgericht. Diese wurde am 29.8.2012 abgewiesen. Das Bundesgericht befand ebenfalls, dass es sich bei der Bezeichnung als »verbaler Rassismus« um ein gemischtes Werturteil handeln würde und im Hinblick auf den faktischen Kern geprüft werden müsse, ob die fraglichen Äußerungen tatsächlich rassistisch gewesen waren. Dies sei jedoch zu verneinen und die Beurteilung der Aussagen durch die bf. Organisation sei daher unzulässig und könne aus keinem überwiegenden privaten oder öffentlichen Interesse nach Art. 28 Abs. 2 ZGB gerechtfertigt werden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die bf. Organisation behauptete, dass die Feststellung eines Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte von B. K. durch die innerstaatlichen Gerichte ihr Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK verletzt hätte.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Zulässigkeit

(22) Die Regierung brachte vor, dass die bf. Organisation es verabsäumt hätte, die zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen, da sie beim Bundesgericht zu keiner Zeit ausdrücklich eine Beschwerde aufgrund einer Verletzung ihres Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit eingebracht hätte.

(27) Im vorliegenden Fall war das Hauptargument der bf. Organisation vor dem Bundesgericht, dass die Veröffentlichung eines Textes, der die Aussagen von B. K. in die Kategorie des »verbalen Rassismus« eingeordnet hatte, vom zweitinstanzlichen Gericht zu Unrecht als eine Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte eingestuft worden wäre. Das Bundesgericht seinerseits anerkannte, dass die bf. Organisation sich auf Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Pressefreiheit berufen hatte und prüfte den Fall unter dem Aspekt der Meinungsäußerungsfreiheit. Es betonte überdies, dass die Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit bei der Interpretation von Art. 28 ZGB [...] berücksichtigt werden müssten.

(28) Unter diesen Umständen ist der GH überzeugt, dass sich die bf. Organisation durch die Argumente, die sie vor dem Bundesgericht vorbrachte – wenn auch nur indirekt – im Hinblick auf ihr Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit beklagte. Auf diesem Weg erhob sie vor dem Bundesgericht jedenfalls der Sache nach eine Beschwerde nach Art. 10 EMRK und das Gericht prüfte diese Beschwerde. Somit bot die bf. Organisation den nationalen Behörden die Möglichkeit, die den Vertragsstaaten grundsätzlich durch Art. 35 Abs. 1 EMRK gewährt werden soll, nämlich die behaupteten Verletzungen gegen sich richtigzustellen. Folglich muss der Einwand der Regierung hinsichtlich des Versäumnisses, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen, abgewiesen werden.

(29) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet […] ist. Da sie überdies auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Vorliegen eines Eingriffs

(44) Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass die Feststellung des innerstaatlichen Gerichts gegen die bf. Organisation einen Eingriff in ihr Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit darstellte. [...]

Vom Gesetz vorgesehen

(45) Die bf. Organisation behauptete, dass es Art. 28 ZGB [...] wegen seines unbestimmten Wortlautes an der Vorhersehbarkeit fehlte. Der Regierung zufolge hatte die umstrittene Maßnahme eine hinreichende Rechtsgrundlage im schweizerischen Recht.

(46) Der GH befindet, dass sich der Eingriff im vorliegenden Fall auf Art. 28 ZGB stützte und dass diese Bestimmung zugänglich war. Allerdings weichen die Ansichten der Parteien hinsichtlich der Vorhersehbarkeit voneinander ab. Der GH muss demnach prüfen, ob die betroffenen Bestimmungen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit erfüllen.

(47) Eine Norm kann nicht als ein »Gesetz« betrachtet werden, sofern sie nicht mit hinreichender Präzision formuliert ist, um es jedem Einzelnen zu ermöglichen, sein Verhalten zu steuern: Ihm muss es möglich sein – gegebenenfalls mit entsprechender Beratung –, die Folgen in einem den Umständen zumutbaren Ausmaß vorauszusehen, die eine bestimmte Handlung nach sich ziehen könnte. Diese Folgen müssen nicht mit absoluter Sicherheit voraussehbar sein: Die Erfahrung zeigt, dass dies unerreichbar ist. Obwohl diese Sicherheit äußerst erstrebenswert wäre, könnte sie eine übertriebene Starrheit zur Folge haben, das Recht muss jedoch die Möglichkeit haben, mit sich ändernden Gegebenheiten Schritt zu halten. Folglich sind viele Gesetze zwangsläufig so formuliert, dass sie mehr oder weniger unbestimmt und ihre Interpretation und Anwendung eine Frage der Praxis sind.

(48) Mit Blick auf den vorliegenden Fall stellt der GH keine Unbestimmtheit des Inhalts der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts fest, auf die sich die nationalen Gerichte gestützt haben. Wie die Regierung bereits vorbrachte, ist die besagte Bestimmung seit 1985 in Kraft und das Bundesgericht hat in Bezug auf diese eine umfassende Rechtsprechung entwickelt. Darüber hinaus zählt Art. 28a ZGB die möglichen Maßnahmen auf, die ein Gericht ergreifen kann, wenn es befindet, dass ein rechtswidriger Eingriff in die Persönlichkeitsrechte einer Person vorliegt. Obwohl es vor allem an den nationalen Behörden, insbesondere an den Gerichten liegt, innerstaatliches Recht zu interpretieren und anzuwenden, stellt der GH fest, dass nichts darauf hindeutet, dass die bf. Organisation nicht in einer Position gewesen ist, die Interpretation und Anwendung des Art. 28 ZGB durch das nationale Berufungsgericht auf ihren Fall in einem zumutbaren Ausmaß vorherzusehen.

(49) Aus diesem Grund kommt der GH zu dem Schluss, dass der umstrittene Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war.

Legitimes Ziel

(50) Der GH stellt fest, dass der Eingriff eines der legitimen Ziele verfolgte, die in Art. 10 Abs. 2 EMRK aufgeführt sind, und zwar den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer.

Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(58) Der vorliegende Fall bezieht sich auf einen Konflikt zweier zusammentreffender Rechte, nämlich auf der einen Seite den Respekt für das Recht des B. K. auf Achtung seines Privatlebens und Meinungsäußerungsfreiheit und auf der anderen Seite das Recht der bf. Organisation auf Meinungsäußerungsfreiheit.

(59) Wo die nationalen Gerichte eine Abwägung in Bezug auf diese Rechte vorgenommen haben, muss der GH nun prüfen, ob sie während ihrer Beurteilung die Kriterien angewendet haben, die er dazu in seiner Rechtsprechung festgelegt hat und ob die Beweggründe, die sie dazu geführt haben, die bestrittenen Entscheidungen zu treffen, hinreichend und stichhaltig dafür waren, den Eingriff in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit zu rechtfertigen. Dies geschieht durch eine Prüfung der Kriterien, die in seiner Rechtsprechung begründet und von Bedeutung für den vorliegenden Fall sind.

Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse

(60) Um die bestrittenen Aussagen im vorliegenden Fall beurteilen zu können, ist es zunächst wichtig, den allgemeinen Hintergrund der aktuellen politischen Debatte, vor dem die beiden Aussagen gemacht wurden, zu berücksichtigen.

(61) Sowohl die Ansprache von B. K. als auch der Artikel der bf. Organisation bezogen sich auf die Thematik einer heftigen öffentlichen Debatte zum maßgeblichen Zeitpunkt in der Schweiz, nämlich auf die bekannte Initiative gegen die Errichtung von Minaretten, über welche umfassend in nationalen und internationalen Medien berichtet wurde. Die Initiative, die ein Verbot der Errichtung von Minaretten forderte, wurde schlussendlich am 29.11.2009 in einem Referendum genehmigt und ein solches Verbot wurde daraufhin in die schweizerische Bundesverfassung eingefügt.

Bekanntheitsgrad der betroffenen Person und Gegenstand des Berichts

(62) Der GH betont, dass eine Unterscheidung gemacht werden muss zwischen Privatpersonen und Personen, die in einem öffentlichen Kontext als Politiker oder Person des öffentlichen Lebens agieren. Während eine Privatperson, die der Öffentlichkeit unbekannt ist, besonderen Schutz ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens beanspruchen kann, gilt dasselbe nicht für Personen des öffentlichen Lebens. Für diese sind die Grenzen kritischer Bemerkungen weiter, da sie sich unvermeidlich und wissentlich einer öffentlichen Kontrolle aussetzen und deshalb ein besonders hohes Maß an Toleranz an den Tag legen müssen.

(63) Die Regierung behauptete, dass dieser Grundsatz im vorliegenden Fall auf eine andere Art und Weise angewendet werden müsse, da B. K. zum damaligen Zeitpunkt, als er die kritische Ansprache gehalten hatte, erst 21 Jahre alt gewesen wäre. Er wäre am Anfang seiner politischen Karriere gestanden und sei auf nationaler Ebene unbekannt gewesen. Diese Umstände würden ein angemessenes Niveau zum Schutz seiner Persönlichkeitsrechte und seines guten Rufes rechtfertigen.

(64) Der GH teilt die Ansicht der Regierung in dieser Hinsicht nicht. B. K. wurde zum Vorsitzenden einer lokalen Zweigstelle des Jugendflügels einer großen politischen Partei in der Schweiz gewählt. Die Ansprache, die von der bf. Organisation zitiert wurde, war ohne Zweifel politischen Inhalts und wurde im Rahmen der Unterstützung der politischen Ziele seiner Partei abgehalten, die zum damaligen Zeitpunkt darin bestanden, die bekannte Initiative gegen die Errichtung von Minaretten zu bewerben.

(65) Indem er seine politischen Ansichten bekundete, hat sich B. K. demzufolge bewusst einer öffentlichen Überprüfung ausgesetzt und er musste daher ein höheres Ausmaß an Toleranz gegenüber potenzieller Kritik an seinen Äußerungen durch Personen oder Organisationen zeigen, die seine Ansichten nicht teilten.

Inhalt, Form und Folgen der Veröffentlichung

(66) Im vorliegenden Fall gab die bf. Organisation die bereits auf der eigenen Webseite der politischen Partei veröffentlichte Rede von B. K. wieder, bezeichnete sie aber [zusätzlich] als »verbalen Rassismus«.

(67) Das Bundesgericht befand, dass es sich bei der Bezeichnung der Rede von B. K. als »verbaler Rassismus« um ein gemischtes Werturteil gehandelt hätte, welches keine faktische Grundlage gehabt hätte, da die Ansprache nicht rassistisch gewesen wäre. Insbesondere stellte das Bundesgericht fest, dass sich die Äußerungen von B. K. für den durchschnittlichen Leser nicht als eine Herabwürdigung von Muslimen darstellen würden, sondern lediglich als eine Verteidigung des Christentums als schweizerische Leitkultur.

(68) An dieser Stelle betont der GH, dass eine Unterscheidung zwischen einer Tatsachenbehauptung und einem Werturteil gemacht werden muss, da das Vorliegen von Tatsachen bewiesen werden kann, die Wahrheit von Werturteilen dagegen nicht nachweisbar ist. Die Anforderung, die Wahrheit eines Werturteils zu beweisen, ist unmöglich zu erfüllen und verletzt als solche die Meinungsfreiheit [...]. Die Einstufung einer Aussage als Tatsache oder als Werturteil ist eine Angelegenheit, die in erster Linie in den Ermessensspielraum der nationalen Behörden fällt, insbesondere in jenen der innerstaatlichen Gerichte. Dennoch kann dort, wo eine Aussage auf ein Werturteil hinausläuft, die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffes davon abhängen, ob eine ausreichende »faktische Grundlage« für die bestrittene Aussage vorlag: Wenn nicht, könnte sich dieses Werturteil als exzessiv erweisen. Um zwischen einer faktischen Behauptung und einem Werturteil zu unterscheiden, ist es notwendig, die Umstände des Falles und den allgemeinen Ton der Äußerungen zu beachten und zu berücksichtigen, dass Aussagen über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse auf dieser Grundlage eher Werturteile als Tatsachenaussagen darstellen können.

(69) Mit Blick auf den vorliegenden Fall befindet der GH, dass die Bezeichnung der Ansprache von B. K. als »verbaler Rassismus« durch die bf. Organisation ein Werturteil darstellte, da es eine eigene Stellungnahme der bf. Organisation zu den Äußerungen von B. K. beinhaltete. Was der GH nun ermitteln muss, ist, ob gesagt werden kann, dass solch eine Stellungnahme unter Berücksichtigung des allgemeinen Hintergrundes der aktuellen politischen Debatte, vor dem die Äußerung gemacht wurde, eine ausreichende faktische Grundlage hatte.

(70) Im vorliegenden Fall ist es nicht die Aufgabe des GH, die Frage der Definition von Rassismus zu klären, die zwischen der bf. Organisation und dem Beklagten während der innerstaatlichen Verfahren strittig gewesen zu sein scheint. Der GH nimmt die Schlussfolgerung des Bundesgerichtes zur Kenntnis, welche besagte, dass das Aufzeigen eines Unterschiedes zwischen zwei Personen oder Gruppen alleine nicht als Rassismus interpretiert werden konnte. Zugleich ist er achtsam gegenüber den Definitionen von Rassismus durch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (EKRI) und die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR).

(71) Der GH legt außerdem Wert auf die Dokumente von verschiedenen spezialisierten nationalen und internationalen Einrichtungen zu der Sache. Der ergriffene Umgangston der Befürworter der besagten Initiative im politischen Diskurs wurde in dem Bericht der EKRI über die Schweiz aus 2009 als einer beschrieben, der »weitgehend zur Stigmatisierung (von Muslimen) und zur Intensivierung von rassistischen Vorurteilen und zur Diskriminierung gegen diese durch Mitglieder der Mehrheit einer Gesellschaft beiträgt«. Gleichermaßen befand die EKR in ihren Empfehlungen, dass die Initiative gegenüber muslimischen Männern und Frauen diffamierend und diskriminierend sei. Darüber hinaus berichtete der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung im Jahre 2014 über die Initiative in seinen abschließenden Bemerkungen unter dem Titel »Rassismus und Xenophobie in der Politik und den Medien«.

(72) Wie vom Bundesgericht festgestellt beinhaltete die Rede von B. K. zudem, dass die »schweizerische Leitkultur es wert ist« gegen die Verbreitung des Islam »geschützt und verteidigt zu werden«. Aus der Sicht des GH würde dies für sich suggerieren, dass Letzteres etwas Negatives ist, vor dem die Vorgenannte Schutz braucht und dass die Ansprache von B. K. somit nicht nur auf die »Darstellung eines Unterschieds« beschränkt war.

(73) Aus den vorstehenden Gründen befindet der GH, dass nicht gesagt werden kann, dass die Einstufung der Ansprache von B. K., die eine Initiative unterstützte, welche bereits von verschiedenen Organisationen als diskriminierend, xenophob oder rassistisch beschrieben worden war, als »verbaler Rassismus« frei von jeglicher faktischen Grundlage war.

(74) Der GH stellt zusätzlich fest, dass die bf. Organisation nie behauptet hatte, dass die Aussagen von B. K. in den Anwendungsbereich des Straftatbestandes der Rassendiskriminierung gemäß Art. 261bis StGB fallen würden. Genau genommen betonte die bf. Organisation in ihrer Argumentation vor den nationalen Behörden und dem GH die Notwendigkeit, die Äußerung einer Person als rassistisch bezeichnen zu dürfen, ohne dieser zwangsläufig eine strafrechtliche Verantwortlichkeit zu unterstellen.

(75) Überdies kann die umstrittene Bezeichnung aus der Sicht des GH nicht als ein unbegründeter persönlicher Angriff oder eine Beleidigung gegen B. K. verstanden werden. Die bf. Organisation bezog sich nicht auf sein Privat- oder Familienleben, sondern auf die Art und Weise, wie seine politische Rede wahrgenommen worden war. Wie bereits dargelegt, musste B. K. als ein junger Politiker, der seine Ansicht zu einer sehr sensiblen Thematik öffentlich zum Ausdruck brachte, wissen, dass seine Ansprache eine kritische Reaktion bei seinen politischen Gegnern auslösen könnte.

(76) In Anbetracht des Vorstehenden kann man kaum schließen, dass die bestrittene Einstufung der Aussage von B. K. als »verbaler Rassismus« auf der Webseite der bf. Organisation nachteilige Folgen für sein Privat- oder Berufsleben gehabt hat.

Schwere der Sanktion

(77) Zu guter Letzt sind die Natur und die Schwere der Sanktion, die über einen Bf. verhängt wird, auch Aspekte, die bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs berücksichtigt werden müssen. Die innerstaatlichen Gerichte wiesen die bf. Organisation an, den umstrittenen Artikel von ihrer Webseite zu entfernen und die Feststellung des zweitinstanzlichen Gerichtes zu veröffentlichen. Sie musste des Weiteren CHF 3.335,– (circa € 2.835,–) […] an Gerichtsgebühren bezahlen und die Prozesskosten von B. K. in Höhe von CHF 3.830,– (circa € 3.255,–) […] rückerstatten.

(78) Aus der Sicht des GH könnte die oben genannte Sanktion, wenn sie auch noch so milde gewesen ist, eine »abschreckende Wirkung« auf die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit der bf. Organisation gehabt haben, da sie sie davon abgehalten haben könnte, ihre satzungsgemäßen Ziele zu verfolgen und in Hinkunft politische Aussagen und Handlungsweisen zu kritisieren.

Schlussfolgerung

(79) In Anbetracht aller oben ausgeführter Aspekte befindet der GH, dass die von der Regierung vorgebrachten Argumente im Hinblick auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte von B. K. wenngleich als stichhaltig, so doch nicht als hinreichend betrachtet werden können, um den strittigen Eingriff zu rechtfertigen. Bei der Überprüfung der Umstände, die für die Beurteilung vorgelegt wurden, haben die innerstaatlichen Gerichte den Grundsätzen und Kriterien, die in der Rechtsprechung des GH festgesetzt sind, um das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit gegeneinander abzuwägen, nicht gebührend Rechnung getragen. Sie haben somit den Ermessensspielraum, der ihnen eingeräumt wurde, überschritten und es verabsäumt, eine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen den Maßnahmen, die das Recht der bf. Organisation auf Meinungsäußerungsfreiheit beschränkten, und dem verfolgten legitimen Ziel zu schaffen.

(80) Demnach erfolgte eine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– für immateriellen Schaden; € 30.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Prager und Oberschlick/A (Nr. 1) v. 23.5.1991 = EuGRZ 1991, 216 = ÖJZ 1991, 641

Minelli/CH v. 14.6.2005

Paturel/F v. 22.12.2005

Ayhan Erdogan/TR v. 13.1.2009

Petrenco/MD v. 30.3.2010 = NLMR 2010, 109

Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294

Lewandowska-Malec/PL v. 18.9.2012

Morice/F v. 23.4.2015 (GK) = NLMR 2015, 153

Couderc und Hachette Filipacchi Associés/F v. 10.11.2015 (GK) = NLMR 2015, 537

CICAD/CH v. 7.6.2016 = NLMR 2016, 264

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.1.2018, Bsw. 18597/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2018, 55) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_1/Gra.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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