JudikaturJustizBsw17914/10

Bsw17914/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. September 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Johansen gg. Deutschland, Urteil vom 15.9.2016, Bsw. 17914/10.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Verfristung des Einspruchs gegen einen angeblich nicht zugestellten Strafbefehl.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 16.10.2008 wurde die Bf. vom Amtsgericht Frankfurt am Main wegen Veruntreuung von Arbeitnehmergehältern zu einer Geldstrafe verurteilt. Am 7.11.2008 versuchte eine Postbotin laut Zustellnachweis, der Bf. diesen Strafbefehl zuzustellen. Da es nicht möglich war, legte sie ihn gemäß der Vorschrift zur Ersatzzustellung in den Briefkasten (§ 180 ZPO). Erst am 27.12.2008 erhob die Bf. Einspruch gegen den Strafbefehl samt dem Antrag auf Wiedereinsetzung in das Verfahren. Sie argumentierte, dass die Frist nicht verstrichen sei, da der Strafbefehl nicht am 7.11.2008 an sie zugestellt worden sei. Die Bf. behauptete, erstmals am 20.12.2008 vom Strafbefehl Kenntnis erlangt zu haben, als sie eine Rechnung von der Gerichtskasse mit der Aufforderung, die Geldstrafe zu bezahlen, erhielt und daraufhin die Gerichtskasse kontaktierte.

Das Amtsgericht sah die Zustellung des Strafbefehls am 7.11.2008 als erwiesen an und wies den Einspruch samt dem Antrag auf Wiedereinsetzung am 9.4.2009 als unzulässig zurück, da dieser somit außerhalb der zweiwöchigen Frist eingebracht wurde (siehe § 410 f. ZPO). Das Gericht betonte, dass der Zustellnachweis vollen Beweis dafür biete, dass der Brief zugestellt wurde (siehe § 418 ZPO). Laut ständiger Rechtsprechung könnte das nur dann widerlegt werden, wenn die Bf. beweisen könne, dass es keine Möglichkeit gebe, dass die vom Zustellnachweis bescheinigten Tatsachen korrekt wären. Die Bf. hätte aber keine Gegenbeweise vorgelegt.

Da es Widersprüche zwischen der Zeugenaussage des Postboten und dem Zustellnachweis gab, rügte die Bf. diesen Widerspruch in ihrer Berufung gegen das abweisende Urteil des Amtsgerichtes. Das Landgericht Frankfurt am Main bestätigte am 10.6.2009 das Urteil des Amtsgerichtes und wies die Berufung der Bf. ab.

Die Verfassungsbeschwerde der Bf. mit der Behauptung, in ihrem Verfassungsrecht auf ein faires Verfahren verletzt worden zu sein, wurde vom BVerfG am 22.9.2009 nicht zur Behandlung angenommen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht).

Zulässigkeit

(33) Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und nicht aus anderen Gründen unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Die allgemeinen Grundsätze

(44) Das Recht auf Zugang zu einem Gericht umfasst einen Anspruch auf eine angemessene Zustellung von gerichtlichen Urteilen nach sich, insbesondere in den Fällen, in denen eine Berufung innerhalb einer bestimmten Frist eingelegt werden kann. Der GH wiederholt zudem, dass das »Recht auf ein Gericht«, von dem das Recht auf Zugang nur einen Aspekt darstellt, nicht absolut ist; es unterliegt implizit erlaubten Beschränkungen, insbesondere wenn die Voraussetzungen der Berufungszulässigkeit betroffen sind. Dennoch dürfen die angewendeten Beschränkungen den individuellen Zugang nicht so beschränken oder reduzieren, dass der Kernbereich des Rechtes angetastet wird. Darüber hinaus sind die Beschränkungen nur dann mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar, wenn sie ein legitimes Ziel verfolgen und die eingesetzten Mittel zur Erreichung des angestrebten Zieles verhältnismäßig sind.

(45) Der GH bestätigt außerdem, dass die Interpretation der innerstaatlichen Prozessregeln wie beispielsweise Fristen in erster Linie den nationalen Gerichten obliegt, die Rechtssicherheit gewährleisten sollen; die Rolle des GH ist darauf eingeschränkt zu überprüfen, ob die Auswirkungen dieser Interpretationen mit der Konvention vereinbar sind.

Anwendung auf den vorliegenden Fall

(46) […] Der GH weist ausdrücklich darauf hin, dass Angeklagte in einem Verfahren über einen Strafbefehl gemäß der StPO, an die ein Strafbefehl gerichtet ist, eine neue Beurteilung in der Sache selbst […] erhalten können. Dafür müssen sie gegen den Strafbefehl innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung einen Einspruch einlegen (so § 410 f. StPO). […]

(47) […] Der GH stellt fest, dass der Beweismaßstab, dem die Bf. hätte nachkommen müssen, um die Zustellung des Strafbefehls an sie zu widerlegen, sehr hoch war. Da im Zustellschein, den die nationalen Gerichte für gültig erachtet haben, bescheinigt wurde, dass der Strafbefehl durch die Postbotin in ihrem Briefkasten hinterlegt wurde, hätte sie dies nur widerlegen können, indem sie nachwies, dass es keineswegs möglich war, dass die vom Zustellschein bescheinigten Umstände korrekt waren.

(48) Der GH erkennt an, dass die hohe Beweiskraft des Zustellscheins der Rechtssicherheit dient. Zustellscheine belegen sowohl, dass Gerichtspost an eine Person zugestellt, als auch wie und wann sie zugestellt wurde, sodass Klarheit im Hinblick auf die Berechnung von Berufungsfristen gewährleistet ist. [...] Der hohe Beweiswert des Zustellscheins wurde in den Regelungen des innerstaatlichen Rechts bestätigt, die anstrebten sicherzustellen, dass der Inhalt des Zustellscheines korrekt ist. Im Speziellen wäre es gemäß dem innerstaatlichen Recht eine Straftat, einen Zustellschein zu fälschen.

(49) Was die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung des Zugangs der Bf. zum Gericht durch die Auslegung der anwendbaren verfahrensrechtlichen Bestimmungen und insbesondere durch den für die Widerlegung des Beweiswerts eines Zustellscheins verlangten Beweismaßstab betrifft, betont der GH des Weiteren, dass es nicht seine Aufgabe ist zu prüfen, ob die Regelungen des innerstaatlichen Rechts mit der Konvention abstrakt vereinbar sind. Der GH ist aufgerufen zu entscheiden, ob die Art und Weise ihrer Anwendung auf die Bf. unter den besonderen Umständen gerechtfertigt war.

(50) Der GH vermerkt […], dass die Bf. bestritten hat, dass der Zustellschein in ihrem Fall eine gültige öffentliche Urkunde ist, die den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen (iSd. § 418 ZPO) bietet. Sie wendete ein, dass die Postbotin, die den Zustellschein unterschrieben hat, weder offiziell für den gerichtlichen Zustelldienst bestellt war, noch den Zustellschein korrekt unterschrieben hatte. Der GH beobachtet, dass die innerstaatlichen Gerichte die Gültigkeit des Zustellnachweises überprüft haben. Sie haben die Postbotin, die den Zustellschein ausgestellt hat, als Zeugin durch die Polizei sowohl hinsichtlich ihrer Ermächtigung, gerichtliche Post zuzustellen als auch hinsichtlich ihrer Unterschrift vernehmen lassen. Der GH erachtet, dass in Anbetracht der von den innerstaatlichen Gerichten dabei getätigten Feststellungen, die die Behauptungen der Bf. nicht bestätigten, ihre Beurteilung, dass der Zustellnachweis gültig war, nicht als willkürlich angesehen werden kann.

(51) Der GH hält ferner fest, dass die inländischen Gerichte alle von der Bf. vorgebrachten Beweise im Hinblick auf die Widerlegung der Zustellung des Strafbefehls wie durch den Zustellschein bescheinigt im Detail überprüft haben. Zuerst hat die Polizei die Postbotin hinsichtlich der Weise, wie der Strafbefehl an die Bf. zugestellt wurde, vernommen. Unter Berücksichtigung der Aussagen der Postbotin und des Vorbringens der Parteien erkennt der GH an, dass nach der polizeilichen Befragung der Postbotin Zweifel bezüglich der genauen Zustellungsweise […] verblieben.

(52) Allerdings lag es in erster Linie bei den innerstaatlichen Gerichten, die von der Postbotin vorgebrachten Beweise zu bewerten und zu interpretieren. Der GH bemerkt vor allem, dass die Postbotin sich nicht an die Gegebenheiten der Zustellung am 7.11.2008 erinnern konnte und in ihrer Aussage vor der Polizei offenkundig nicht die juristischen Begriffe der innerstaatlichen Gesetzgebung benützte. Daher betrachtet der GH die Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte, wonach die Postbotin den Brief am 7.11.2008 durch Hinterlegen in den Briefkasten zustellte, als keinesfalls willkürlich.

(53) Darüber hinaus bewerteten die innerstaatlichen Gerichte detailliert die Aussagen der Bf. selbst und die drei eidesstattlichen Aussagen ihrer Mutter, ihres Ehemannes und ihres Rechtsanwaltes. Im Gegensatz zum Amtsgericht beschränkte sich das Landgericht auf die Feststellung, dass der Inhalt dieser Aussagen ungeachtet ihrer Glaubwürdigkeit nicht belegt hätte, dass sich der Strafbefehl am 7.11.2008 nicht im Briefkasten befand. Das Landgericht erwog, dass die Bf. und die Zeugen das Klingeln der Postbotin einfach nicht gehört haben und den Brief mit dem Strafbefehl unter den Umständen übersehen haben könnten. Der GH ist somit der Auffassung, dass die Beweiswürdigung der innerstaatlichen Gerichte auch keineswegs willkürlich war.

(54) Des Weiteren haben die innerstaatlichen Gerichte das Vorbringen der Bf. untersucht, das sie mit zahlreichen Presseberichten begründete, wonach wiederholt berichtet worden wäre, dass es die Firma, die mit der Zustellung des Strafbefehls betraut war, […] verabsäumt hätte, Gerichtspost zuzustellen […]. Sie haben die Postbotin, die den Zustellschein ausgestellt hatte, hinsichtlich der Zustellung des Strafbefehls an die Bf. vernehmen lassen. Zusätzlich dazu haben sie bei der örtlichen Filiale [des beauftragten Unternehmens] angefragt, ob eventuelle Unregelmäßigkeiten bezüglich der Zustellung der fraglichen gerichtlichen Post bekannt geworden sind, die Antwort darauf war jedoch negativ. Der GH erwägt, dass die innerstaatlichen Gerichte, die untersucht haben, ob im vorliegenden Fall Unregelmäßigkeiten bei der Zustellung vorgekommen sind, ohne dass diese Feststellung irgendein Zeichen von Willkür offenbart hätte, zum Entschluss gekommen sind, dass das nicht der Fall war.

(55) Angesichts der dargelegten Tatsachen kommt der GH zum Ergebnis, dass der Beweismaßstab, dem die Bf. nachkommen musste, um die Zustellung des Strafbefehls an sie zu widerlegen, tatsächlich sehr hoch war. Dennoch ist der GH überzeugt, dass die Interpretation des innerstaatlichen Rechts und insbesondere des in der Praxis anwendbaren Prozessrechts durch die innerstaatlichen Gerichte im Fall der Bf. ihr ausreichend Gelegenheit gab, die Zustellung des Strafbefehls zu widerlegen. Durch zusätzliche Beweisaufnahmen behandelten die innerstaatlichen Gerichte alle diesbezüglichen Argumente der Bf. Dies spiegelt sich in den begründeten – nicht willkürlichen – Entscheidungen wider, laut denen nicht ausreichend nachgewiesen wurde, dass der Strafbefehl im November 2008 nicht an die Bf. zugestellt wurde, wie es im Zustellschein bestätigt wurde. Daraus folgt, dass die Bf. eine ausreichende Möglichkeit hatte, innerhalb der Frist einen Einspruch gegen den an sie gerichteten Strafbefehl einzulegen und somit nach einer Verhandlung eine neue Entscheidung über die gegen sie gerichteten Vorwürfe zu erhalten.

Ergebnis

(56) Im Ergebnis findet der GH, dass die Interpretation des innerstaatlichen Prozessrechts durch die innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Fall eine verhältnismäßige Beschränkung des Rechts auf ein faires Verfahren darstellt und nicht den Kernbereich dieses Rechtes antastet.

(57) Es erfolgte daher keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Beles u.a./CZ v. 12.11.2002

Labergere/F v. 26.9.2006

Zavodnik/SLO v. 21.5.2015

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.9.2016, Bsw. 17914/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2016, 430) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_5/Johansen.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.