JudikaturJustizBsw12778/17

Bsw12778/17 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. April 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Alparslan Altan gg. die Türkei, Urteil vom 16.4.2019, Bsw. 12778/17.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK - Freiheitsentziehung eines Verfassungsrichters nach dem versuchten Militärputsch 2016.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Der Bf. war zur Zeit der streitgegenständlichen Ereignisse Richter des türkischen Verfassungsgerichts.

In der Nacht vom 15. zum 16.7.2016 versuchte ein Teil der türkischen Armee, die Macht im Staat zu übernehmen. Der Putschversuch konnte rasch niedergeschlagen werden. Die Behörden machten ein Netzwerk rund um Fetullah Gülen verantwortlich, der als Anführer einer Organisation namens FETÖ/PDY (Fethullahçi Terör Örgütü/Paralel Devlet Yapilanmasi, zu deutsch »Fethullahistische Terrororganisation/Parallelstaatsstruktur«) angesehen wurde. Die Strafverfolgungsbehörden leiteten Ermittlungen gegen zahlreiche Personen ein, die im Verdacht standen, an dem Putschversuch beteiligt gewesen zu sein oder Verbindungen zur FETÖ/PDY zu haben. Bereits am 16.7.2016 wurden auch circa 3.000 Richter und Staatsanwälte festgenommen.

Am 20.7.2016 verhängte die Regierung zunächst für drei Monate den Ausnahmezustand, der in weiterer Folge wiederholt verlängert wurde. Am 21.7.2016 unterrichtete die Türkei den Generalsekretär des Europarats gemäß Art. 15 EMRK von einem Abweichen von der Konvention.

Nachdem der Bf. am 16.7.2016 wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der FETÖ/PDY in Polizeigewahrsam genommen worden war, wurde am 20.7.2016 die Untersuchungshaft über ihn verhängt. Der Einwand seines Verteidigers, als Richter des Verfassungsgerichts könne er nur mit dessen Zustimmung strafrechtlich verfolgt werden, wurde mit der Begründung verworfen, bei der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung handle es sich um ein Dauerdelikt und daher liege ein Betreten auf frischer Tat vor. (Anm: Gemäß § 16 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 6216 über die Einrichtung und die Verfahrensordnung des Verfassungsgerichts ist die strafrechtliche Verfolgung eines Mitglieds des Verfassungsgerichts nur mit Zustimmung von dessen Plenum zulässig. Dies gilt jedoch nicht in Fällen des Betretens auf frischer Tat.) Eine Haftbeschwerde blieb erfolglos und die Untersuchungshaft wurde in weiterer Folge wiederholt verlängert. Eine Beschwerde des Bf. an das Verfassungsgericht wurde am 11.1.2018 abgewiesen. Es bestätigte die Ansicht, wonach es sich um einen Fall des Betretens auf frischer Tat handle, weshalb die strafrechtliche Verfolgung nicht der Zustimmung des Verfassungsgerichts bedurft hätte. Das Verfassungsgericht bestätigte auch die Ansicht der Strafverfolgungsbehörden, wonach der Verdacht, der Bf. hätte sich der FETÖ/PDY angeschlossen, auf ausreichenden Beweisen beruhte.

Im März 2019 wurde der Bf. zu elf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).

Zur Derogationserklärung der Türkei

(67) Die Regierung betonte zunächst, dass die Beschwerdebehauptungen des Bf. unter gebührender Berücksichtigung der Derogationserklärung zu prüfen wären, die dem Generalsekretär des Europarats am 21.7.2016 gemäß Art. 15 EMRK übermittelt worden sei [...].

(68) Sie brachte vor, die Türkei habe von ihrem Recht Gebrauch gemacht, von der Konvention abzuweichen, und somit nicht gegen deren Bestimmungen verstoßen. Es habe aufgrund der von dem versuchten Militärputsch ausgehenden Gefahren einen das Leben der Nation bedrohenden öffentlichen Notstand gegeben. Die von den nationalen Behörden als Antwort auf den Notstand ergriffenen Maßnahmen wären in dieser Lage unbedingt erforderlich gewesen.

(71) Nach Ansicht des GH ist damit die Frage aufgeworfen, ob die in Art. 15 EMRK vorgesehenen Voraussetzungen für die Ausübung des Derogationsrechts im vorliegenden Fall erfüllt waren.

(72) In diesem Kontext bemerkt der GH zunächst, dass die Derogationserklärung der Türkei [...] nicht ausdrücklich die Artikel der Konvention bezeichnet, von denen abgewichen werden soll. Stattdessen kündigt sie einfach an, dass »die ergriffenen Maßnahmen ein Abweichen von den Verpflichtungen nach der Konvention mit sich bringen können«.

(73) Wie der GH allerdings feststellt, hat der Bf. nicht bestritten, dass die Derogationserklärung der Türkei den Anforderungen des Art. 15 Abs. 3 EMRK entsprach. Er bemerkt weiters, dass er in Mehmet Hasan Altan/TR [...] das Vorliegen eines »das Leben der Nation bedrohenden öffentlichen Notstands« im Sinne der Konvention bejaht hat. [...]

(74) Angesichts des Vorgesagten ist der GH bereit zu akzeptieren, dass die formalen Anforderungen an die Derogationserklärung erfüllt wurden und dass ein das Leben der Nation bedrohender öffentlicher Notstand vorlag. Im Hinblick auf die zeitliche und sachliche Geltung dieser Derogation – eine Frage, die der GH angesichts der einen Tag vor Inkrafttreten des Notstands [...] erfolgten Festnahme des Bf. [...] prüfen könnte – stellt er fest, dass er darüber angesichts seiner unten getroffenen Schlussfolgerung nicht entscheiden muss.

(75) Jedenfalls bemerkt der GH, dass die auf die Festnahme des Bf. am 16.7.2016 folgende Verhängung der Untersuchungshaft über ihn am 20.7.2016 sehr kurze Zeit nach dem versuchten Putsch erfolgte, also jenem Ereignis, das den Anlass für die Notstandserklärung bildete. Dies ist unzweifelhaft ein Faktor, der bei der Auslegung und Anwendung von Art. 5 EMRK im vorliegenden Fall in vollem Maße berücksichtigt werden muss.

Zulässigkeit

(76) Die Regierung erhob zwei Einreden betreffend die fehlende Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe hinsichtlich der Festnahme des Bf. und seiner Anhaltung in Polizeigewahrsam. [...]

(80) [...] Nach Ansicht des GH hätte der Bf. zumindest von einem der vom nationalen Rechtssystem bereitgestellten Rechtsbehelfe Gebrauch machen müssen [...]. Allerdings stellt er fest, dass der Bf. keinen dieser Rechtsbehelfe ergriffen hat. Daher weist er die sich auf die Festnahme und Anhaltung in Polizeigewahrsam beziehenden Beschwerdevorbringen in Stattgebung der Einrede der Regierung [...] [als unzulässig] zurück (einstimmig).

(81) In Bezug auf die Rügen unter Art. 5 EMRK betreffend die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Untersuchungshaft des Bf. brachte die Regierung vor, dass ihm eine Entschädigungsklage [...] zur Verfügung gestanden wäre. [....]

(84) Wie der GH [...] bekräftigt, ist ein Rechtsbehelf im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit einer andauernden Freiheitsentziehung nur dann effektiv, wenn er eine Aussicht auf Entlassung aus der Haft bietet. Er stellt allerdings fest, dass der [von der Regierung genannte] Rechtsbehelf nicht geeignet ist, die Freiheitsentziehung des Bf. zu beenden. Die diesbezügliche Einrede der Regierung ist daher zu verwerfen.

(86) Der GH folgt nicht dem Argument der Regierung, wonach die Beschwerde unter Art. 5 Abs. 3 EMRK wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen wäre, weil der Bf. in seiner Individualbeschwerde an das Verfassungsgericht [...] kein entsprechendes Vorbringen erhoben hätte. [...] Er verwirft daher diese Einrede.

(87) Da die Beschwerdepunkte, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Bf., das behauptete Fehlen eines begründeten Verdachts, dass er eine Straftat begangen hatte, und das behauptete Fehlen einer Begründung für seine Untersuchungshaft beziehen, nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig sind, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK

(88) Der Bf. brachte vor, er sei in Verstoß gegen das innerstaatliche Recht (nämlich Gesetz Nr. 6216) willkürlich in Untersuchungshaft genommen worden. [...] Es habe keine konkreten Beweise gegeben, die einen Verdacht [...] begründet hätten. Insbesondere behauptete er, die innerstaatlichen Gerichte hätten die Entscheidungen, mit denen seine Anhaltung angeordnet wurde, nicht ausreichend begründet. [...]

Zur Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft

Allgemeine Grundsätze

(101) [...] Jede Freiheitsentziehung muss nicht nur auf einer der in Art. 5 Abs. 1 lit. a – f genannten Ausnahmen beruhen, sondern auch »rechtmäßig« sein. Soweit es um die »Rechtmäßigkeit« einer Freiheitsentziehung geht, einschließlich der Frage, ob sie auf die »gesetzlich vorgeschriebene Weise« erfolgt ist, verweist die Konvention im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht [...]. [...] Die Befolgung des nationalen Rechts reicht allerdings nicht aus: Art. 5 Abs. 1 EMRK verlangt darüber hinaus, dass jede Freiheitsentziehung mit dem Zweck, den Einzelnen vor Willkür zu schützen, vereinbart werden kann. [...]

(102) Der GH hat bei vielen Gelegenheiten die besondere Rolle der Gerichtsbarkeit in der Gesellschaft betont [...], die auf das Vertrauen der Öffentlichkeit angewiesen ist, um ihren Aufgaben erfolgreich nachkommen zu können. Diese Überlegung, die insbesondere in Fällen betreffend das Recht von Richtern auf freie Meinungsäußerung dargelegt wurde, ist gleichermaßen von Bedeutung in Bezug auf eine Maßnahme, die das Recht eines Mitglieds der Richterschaft auf persönliche Freiheit betrifft. Insbesondere ist es dann, wenn das innerstaatliche Recht Mitgliedern der Richterschaft gerichtlichen Schutz gewährt, um die unabhängige Ausübung ihrer Funktionen zu garantieren, essentiell, dass solchen Vorkehrungen gebührend entsprochen wird. Angesichts der prominenten Rolle, die der Gerichtsbarkeit in einer demokratischen Gesellschaft [...] zukommt und der zunehmenden Bedeutung der Gewaltenteilung und der Notwendigkeit, die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit zu gewährleisten, muss der GH bei der Prüfung der Umsetzung einer Haftanordnung [...] dem Schutz von Mitgliedern der Richterschaft besondere Aufmerksamkeit schenken.

Anwendung im vorliegenden Fall

Art. 5 Abs. 1 EMRK

(105) Da der Gegenstand der Beschwerde in der anfänglichen Anhaltung des Bf. besteht, ist die erste zu beantwortende Frage, ob er als damals am Verfassungsgericht tätiger Richter am 20.7.2016, wie von Art. 5 Abs. 1 EMRK verlangt, auf die »gesetzlich vorgeschriebene Weise« in Untersuchungshaft genommen wurde [...]. Der GH wird zunächst prüfen [...], ob seine Anhaltung dem türkischen Recht entsprach.

(106) [...] Der Bf. wurde ungeachtet der den Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofs nach dem einschlägigen Recht zugute kommenden Garantien aufgrund von Art. 100 ff. StPO verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Die Frage [...] ist, ob die nach den Regeln des gewöhnlichen Rechts erfolgte Freiheitsentziehung des Bf., der als Richter des Verfassungsgerichts einen besonderen Status genoss, den Anforderungen an die »Qualität des Rechts« entsprach.

(107) [...] Das diesbezügliche Argument des Bf. wurde vor dem Verfassungsgericht erhoben, das unter Verweis auf die Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs feststellte, dass die umstrittene Maßnahme [...] der geltenden Rechtslage entsprach. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts konnte ungeachtet der prozessualen Garantien, die seinen Mitgliedern durch die Verfassung und Gesetz Nr. 6216 gewährt wurden, nicht angenommen werden, »dass es keine faktische oder rechtliche Grundlage für die Feststellung der Ermittlungsbehörden gegeben hätte, die Straftat der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung, die dem Bf. vorgeworfen wurde, umfasse eine Situation des Überführens in flagrante delicto«.

(108) [...] Es wurde nicht behauptet, dass der Bf. verhaftet und in Untersuchungshaft genommen wurde, während er im Begriff stand, eine im Zusammenhang mit dem versuchten Putsch vom 15.7.2016 stehende Straftat zu begehen [...]. Dem Bf. wurde seine Freiheit in erster Linie wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der FETÖ/PDY entzogen, einer Organisation, die von den Ermittlungsbehörden [...] als bewaffnete terroristische Vereinigung angesehen wurde [...]. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts bildeten diese Aspekte die faktische und rechtliche Grundlage für die Feststellung der Ermittlungsbehörden, es habe sich um einen Fall des Betretens auf frischer Tat gehandelt. [...]

(109) Dazu bemerkt der GH, dass der Kassationsgerichtshof in einem Urteil seines strafrechtlichen Plenums vom 10.10.2017 erstmals feststellte, dass im Zeitpunkt der Festnahme von Richtern, die der Straftat der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Vereinigung verdächtigt wurden, eine Situation des Betretens auf frischer Tat vorlag. Nach diesem Leiturteil reicht in Fällen, die eine mutmaßliche Straftat der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung betreffen, die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 100 StPO aus, um einen Verdächtigen, der Mitglied der Richterschaft ist, in Untersuchungshaft zu nehmen, weil es sich um einen Fall des Betretens auf frischer Tat handelt. Diese neue gerichtliche Auslegung des Konzepts des Betretens auf frischer Tat, die lange nach der Festnahme des Bf. erfolgt ist, beruhte auf der ständigen Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs zu Dauerdelikten.

(110) In diesem Zusammenhang bemerkt der GH, dass er nur eine eingeschränkte Befugnis hat, sich mit behaupteten [...] Fehlern der nationalen Gerichte zu befassen, die in erster Linie für die Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts zuständig sind. Solange ihre Interpretation nicht willkürlich oder offensichtlich unsachlich ist, beschränkt sich die Rolle des GH darauf sich zu vergewissern, ob die Wirkungen dieser Auslegung mit der Konvention vereinbar sind. [...]

(111) Zu dieser Frage möchte der GH betonen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit im Allgemeinen beeinträchtigt sein kann, wenn innerstaatliche Gerichte in ihrer Rechtsprechung Ausnahmen einführen, die dem Wortlaut der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen widersprechen. In diesem Kontext bemerkt der GH, dass Art. 2 StPO eine herkömmliche Definition des Konzepts des Betretens auf frischer Tat enthält, das mit der Entdeckung einer Straftat während oder unmittelbar nach ihrer Begehung zusammenhängt. Nach der oben zitierten Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs kann jedoch ein Verdacht – iSv. Art. 100 StPO – der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung für einen Fall des Betretens auf frischer Tat ausreichen, ohne dass irgendein aktuelles Sachverhaltselement oder irgendein anderer Hinweis auf eine fortwährende strafbare Handlung nachgewiesen werden müsste.

(112) Dies stellt nach Ansicht des GH eine extensive Auslegung des Konzepts des Betretens auf frischer Tat dar, die dessen Anwendungsbereich erweitert, sodass Richter, die der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation verdächtigt werden, des gerichtlichen Schutzes beraubt werden, den das türkische Recht Mitgliedern der Richterschaft gewährt, einschließlich des Bf., eines am Verfassungsgericht tätigen und damit gemäß Gesetz Nr. 6216 unter diesen Schutz fallenden Richters. Im Ergebnis macht diese Interpretation unter Umständen wie jenen des vorliegenden Falls die prozessualen Sicherungen zunichte, die Mitgliedern der Richterschaft gewährt werden, um sie vor einer Einflussnahme der Exekutive zu schützen.

(113) [...] Ein derartiger gerichtlicher Schutz wird Richtern nicht um ihres persönlichen Vorteils Willen gewährt, sondern zur Sicherstellung der unabhängigen Ausübung ihrer Funktionen. Wie die Regierung zu Recht betont, läuft ein solcher Schutz nicht auf Straflosigkeit hinaus. Sein Zweck besteht darin sicherzustellen, dass das Gerichtssystem im Allgemeinen und seine Mitglieder im Besonderen während der Wahrnehmung ihrer gerichtlichen Funktionen keinen rechtswidrigen Einmischungen seitens Organen außerhalb der Gerichtsbarkeit oder auch seitens Richtern, die eine Aufsichts- oder Rechtsmittelfunktion ausüben, unterworfen werden. Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die türkische Gesetzgebung die Freiheitsentziehung eines Mitglieds des Verfassungsgerichts nicht verbietet, vorausgesetzt die in der Verfassung und in Gesetz Nr. 6216 verankerten Garantien werden eingehalten. [...]

(114) Überdies kann der GH anhand der Lektüre des Urteils des Kassationsgerichtshofs vom 10.10.2017 nicht erkennen, wie dessen ständige Rechtsprechung zum Konzept des Dauerdelikts die Ausdehnung des Geltungsbereichs des Konzepts des Betretens auf frischer Tat [...] rechtfertigen hätte können. [...]

(115) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zum Ergebnis, dass die Ausdehnung des Geltungsbereichs des Konzepts des Betretens auf frischer Tat und seine Anwendung im vorliegenden Fall nicht nur im Hinblick auf die Rechtssicherheit problematisch sind, sondern auch offensichtlich unsachlich erscheinen.

Dementsprechend erfolgte die Entziehung der Freiheit des Bf., die auf Art. 100 StPO beruhte und ihn der Mitgliedern des Verfassungsgerichts gewährten prozessualen Sicherungen beraubte, nicht wie von Art. 5 Abs. 1 EMRK verlangt auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise.

Art. 15 EMRK

(116) Bei der Beurteilung einer Derogation gemäß Art. 15 EMRK gewährt der GH den nationalen Behörden einen weiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Art und den Umfang der zur Abwehr des Notstands erforderlichen Maßnahmen. Dennoch ist es letztendlich Sache des GH zu bestimmen, ob die Maßnahmen »unbedingt erforderlich« waren. Insbesondere wenn eine abweichende Maßnahme ein grundlegendes Konventionsrecht berührt, wie das Recht auf persönliche Freiheit, muss der GH überzeugt sein, dass es sich um eine wirkliche Antwort auf die Notstandssituation handelte, dass sie von den besonderen Umständen des Notstands in vollem Umfang gerechtfertigt wurde und dass angemessene Sicherungen gegen einen Missbrauch bestanden.

(117) Zunächst bemerkt der GH, dass die vorliegende Beschwerde sich streng genommen nicht auf Maßnahmen bezieht, die während des Notstands ergriffen wurden und von der Konvention abwichen, sondern hauptsächlich die Inhaftierung des Bf. am 20.7.2016 nach seiner Festnahme am 16.7.2016 betrifft. Festzuhalten ist, dass während des Notstands der Ministerrat unter dem Vorsitz des Präsidenten gemäß Art. 121 der Verfassung 37 Gesetzesdekrete (Nr. 667 bis 703) erlassen hat. Diese Dekrete schränkten die im innerstaatlichen Recht für jede in Polizeigewahrsam oder Untersuchungshaft festgehaltene Person vorgesehenen prozessualen Sicherungen erheblich ein [...]. Allerdings wurde der Bf. im vorliegenden Fall hauptsächlich wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung, einer nach Art. 314 des Strafgesetzes strafbaren Handlung, in Polizeigewahrsam und anschließend in Untersuchungshaft genommen. Es ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass das im vorliegenden Fall anwendbare Recht, nämlich Art. 100 StPO und die Bestimmungen über den Status der Richter des Verfassungsgerichts, während des Notstands nicht geändert wurde. Vielmehr wurden die umstrittenen Maßnahmen [...] anhand von Gesetzen ergriffen, die bereits vor der Erklärung des Staatsnotstands und auch danach in Kraft waren und überdies nach wie vor anwendbar sind.

(118) Wie der GH in diesem Zusammenhang anmerkt, kann eine ausdehnende Auslegung des Konzepts der Betretung auf frischer Tat eindeutig nicht als angemessene Reaktion auf einen Notstand angesehen werden. Eine solche Auslegung, die außerdem nicht in Reaktion auf die zwingenden Notwendigkeiten des Notstands erfolgte, ist nicht nur im Hinblick auf die Rechtssicherheit problematisch, sondern negiert auch, wie bereits festgestellt wurde, die prozessualen Sicherungen, die Mitgliedern der Richterschaft gewährt werden, um sie vor Einmischungen seitens der Exekutive zu schützen. Zudem hat sie rechtliche Konsequenzen, die weit über den rechtlichen Rahmen des Notstands hinausgehen. Folglich ist sie keineswegs durch die besonderen Umstände des Notstands gerechtfertigt.

(119) Angesichts des Vorgesagten findet der GH, dass die Entscheidung, den Bf. in Untersuchungshaft zu nehmen, die nicht »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« erfolgte, nicht von der Lage »unbedingt erfordert« wurde. Es hat daher eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK durch die Unrechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Bf. stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Mert).

Zum behaupteten Fehlen eines hinreichenden Verdachts

Allgemeine Grundsätze

(126) [...] Eine Person darf unter Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK nur im Kontext eines Strafverfahrens angehalten werden, um sie aufgrund eines hinreichenden Verdachts der Begehung einer Straftat der zuständigen Gerichtsbehörde vorzuführen. [...] Ein hinreichender Verdacht setzt das Bestehen von Tatsachen oder Informationen voraus, die einen objektiven Beobachter davon überzeugen würden, dass die betroffene Person möglicherweise die Straftat begangen hat. [...]

(129) Bei der Beurteilung des »Hinreichens« eines Verdachts muss der GH in der Lage sein sich zu vergewissern, ob der Kern der von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gewährten Garantie bewahrt wurde. Folglich muss die belangte Regierung zumindest einige Tatsachen oder Informationen liefern, die geeignet sind, den GH davon zu überzeugen, dass die festgenommene Person vernünftigerweise verdächtigt werden konnte, die Tat begangen zu haben.

Anwendung im vorliegenden Fall

Art. 5 Abs. 1 EMRK

(133) Der GH muss alle relevanten Umstände berücksichtigen um zu entscheiden, ob es objektive Informationen dafür gab, dass der Verdacht gegen den Bf. zum Zeitpunkt seiner anfänglichen Freiheitsentziehung »hinreichend« war. [...]

(134) Der sehr spezielle Kontext des vorliegenden Falls erfordert nach Ansicht des GH ein hohes Maß an Genauigkeit bei der Prüfung der Fakten. Er ist bereit, dabei die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, mit denen die Türkei in Folge des versuchten Militärputsches vom 15.7.2016 konfrontiert war.

(135) Die Regierung betonte die atypische Art der fraglichen Organisation – von der die türkischen Gerichte annahmen, dass sie den Putschversuch vom 15.7.2016 geplant hatte – und behauptete, diese hätte unter dem Deckmantel der Rechtmäßigkeit in großem Umfang einflussreiche staatliche Einrichtungen und das Gerichtssystem unterwandert. Derartige behauptete Umstände könnten bedeuten, dass das »Hinreichen« eines die Festnahme rechtfertigenden Verdachts nicht anhand jener Standards beurteilt werden kann, die im Umgang mit herkömmlichen Straftaten zur Anwendung kommen.

(136) Die mit dem Umgang mit organisiertem Verbrechen einhergehenden Notwendigkeiten können es allerdings nach Ansicht des GH nicht rechtfertigen, den Begriff des »Hinreichens« bis zu einem Punkt zu überdehnen, an dem der Kern der Garantie des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK beeinträchtigt wird. Es ist daher im vorliegenden Fall Aufgabe des GH zu prüfen, ob es zur Zeit der anfänglichen Anhaltung des Bf. ausreichende objektive Elemente gab, die einen objektiven Beobachter davon überzeugen konnten, dass er die Straftat begangen haben konnte, die ihm von den Strafverfolgungsbehörden vorgeworfen wurde. [...]

(137) [...] Das Verfassungsgericht bezog sich bei der Überprüfung der umstrittenen Maßnahme [...] auf folgende Beweise gegen den Bf.: die Aussagen von zwei anonymen Zeugen und eines ehemaligen Berichterstatters des Verfassungsgerichts [...], über [die Messenger-App] ByLock verschickte Nachrichten sowie andere Tatsachen [...].

(138) Es muss allerdings festgestellt werden, dass diese Beweismittel lange nach der anfänglichen Anhaltung des Bf. erlangt wurden. [...] Der Bf. wies die nationalen Behörden wiederholt auf diese Tatsache hin [...], das Verfassungsgericht ging jedoch nicht darauf ein. Auch die Regierung äußerte sich nicht dazu und brachte keine konkreten Argumente vor, um der diesbezüglichen Behauptung des Bf. zu widersprechen [...].

(139) Anders als das Verfassungsgericht erachtet der GH es daher nicht als notwendig, diese lange nach der anfänglichen Anhaltung des Bf. erlangten Beweismittel zu prüfen um sich zu vergewissern, ob der Verdacht, auf den sich die Anordnung der Haft stützte, »hinreichend« war. [...] Im Kontext des vorliegenden Falls besteht die Aufgabe des GH darin zu untersuchen, ob die ursprüngliche Verhaftung des Bf. am 20.7.2016 auf einem hinreichenden Verdacht beruhte, und nicht ob ein solcher Verdacht während der folgenden Anhaltung aufrecht blieb. [...] Auch wenn das spätere Erlangen von Beweisen hinsichtlich der Vorwürfe gegen den Bf. einen Verdacht [...] erhärten hätte können, konnte es nicht die alleinige Grundlage für einen Verdacht bilden, der seine anfängliche Festnahme rechtfertigte. In jedem Fall befreit die spätere Sammlung solcher Beweise die nationalen Behörden nicht von ihrer Verpflichtung, eine ausreichende Tatsachengrundlage zu liefern, die die Freiheitsentziehung des Bf. rechtfertigen konnte. Eine andere Schlussfolgerung würde den Zweck des Art. 5 EMRK untergraben, nämlich den Schutz vor willkürlichen oder nicht gerechtfertigten Freiheitsentziehungen.

(140) [...] Der Bf. wurde eindeutig nicht verdächtigt, an den Ereignissen vom 15.7.2016 beteiligt gewesen zu sein. [...]

(142) Der GH stellt insbesondere fest, dass die Anordnung der Festnahme des Bf. [...] nicht den Eindruck erweckt, als hätte diese Maßnahme auf irgendwelchen Tatsachenbeweisen beruht, die auf das Bestehen eines starken Verdachts hingewiesen hätten [...]. [...] Die vagen und allgemeinen Verweise auf den Wortlaut von Art. 100 StPO und die Beweise im Akt können nach Ansicht des GH angesichts des Fehlens sowohl einer spezifischen Bewertung der einzelnen Beweisstücke im Akt als auch jeglicher Information, die den Verdacht gegen den Bf. rechtfertigen hätte können, nicht als ausreichend angesehen werden, um das Hinreichen des Verdachts zu begründen, auf dem die Freiheitsentziehung des Bf. beruhen sollte.

(143) Aus den obigen Gründen wurden nach Ansicht des GH im anfänglichen Verfahren, das dennoch mit dem Ergreifen einer solchen Maßnahme gegen ihn abgeschlossen wurde, keine spezifischen Tatsachen oder Informationen erwähnt oder vorgelegt, die einen seine Freiheitsentziehung rechtfertigenden Verdacht gegen den Bf. begründet hätten.

(145) Im Lichte der obigen Analyse ist der GH der Ansicht, dass die ihm vorliegenden Beweise unzureichend sind um die Schlussfolgerung zu unterstützen, es hätte zur Zeit der anfänglichen Freiheitsentziehung des Bf. ein hinreichender Verdacht gegen ihn bestanden. [...]

Art. 15 EMRK

(147) [...] Wie bereits festgestellt wurde, sind die Schwierigkeiten, mit denen die Türkei in Folge des versuchten Militärputsches vom 15.7.2016 konfrontiert war, ohne Zweifel ein vom GH [...] zu berücksichtigender Faktor. [...] Dies bedeutet jedoch nicht, dass es den Behörden unter Art. 5 EMRK freisteht, während des Notstands die Anhaltung einer Person ohne überprüfbare Beweise oder Informationen anzuordnen oder ohne eine ausreichende Tatsachengrundlage, die den Mindestanforderungen des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK hinsichtlich der Begründetheit eines Verdachts entspricht. [...]

(148) Was die Anordnung der Untersuchungshaft des Bf. vom 20.7.2016 betrifft, [...] hat der GH festgestellt, dass die ihm vorliegenden Beweise nicht ausreichen, um die Schlussfolgerung zu unterstützen, es habe zur Zeit der anfänglichen Freiheitsentziehung ein hinreichender Verdacht gegen den Bf. bestanden. [...] Obwohl sie unter richterlicher Überwachung erlassen wurde, beruhte die Haftanordnung auf einem bloßen Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Ein solcher Grad des Verdachts kann nicht ausreichen, um die Anordnung der Freiheitsentziehung einer Person zu rechtfertigen. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt werden, die umstrittene Maßnahme wäre angesichts der Lage unbedingt erforderlich gewesen. Zu einem anderen Ergebnis zu gelangen würde die Mindestanforderungen des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK hinsichtlich der Begründetheit eines Verdachts, der eine Freiheitsentziehung rechtfertigt, missachten und dem Zweck von Art. 5 EMRK widersprechen.

Diese Überlegungen sind [...] im vorliegenden Fall besonders wichtig, weil er die Anhaltung eines an einem Höchstgericht tätigen Richters [...] betrifft.

(149) Der GH kommt daher zu der Schlussfolgerung, dass eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK [...] stattgefunden hat, weil es zur Zeit der anfänglichen Freiheitsentziehung des Bf. an einem hinreichenden Verdacht fehlte, dass er eine Straftat begangen hatte (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Mert).

Zur behaupteten fehlenden Begründung der Anordnung der Untersuchungshaft

(150) Angesichts seiner Feststellungen unter Art. 5 Abs. 1 EMRK (Rn. 149) erachtet es der GH nicht als notwendig, [...] zu prüfen, ob die Behörden ihrer Aufgabe nachgekommen sind, relevante und ausreichende Gründe für die Freiheitsentziehung [...] zu liefern [...] (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 10.000,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Mert).

Vom GH zitierte Judikatur:

A. u.a./GB v. 19.2.2009 (GK) = NL 2009, 46

Mooren/D v. 9.7.2009 (GK) = NL 2009, 205 = EuGRZ 2009, 566

Baka/H v. 23.6.2016 (GK) = NLMR 2016, 267

Mehmet Hasan Altan/TR v. 20.3.2018 = NLMR 2018, 114

Ramos Nunes Carvalho e Sá/P v. 6.11.2018 (GK) = NLMR 2018, 505

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.4.2019, Bsw. 12778/17, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 119) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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