JudikaturJustiz9Bs23/16w

9Bs23/16w – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
16. März 2016

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz hat durch die Richter Dr. Winsauer als Vorsitzenden und Dr. Morbitzer sowie die Richterin Mag. Hemetsberger in der Strafsache gegen ***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach § 81 Abs 1 Z 1 StGB in der Fassung vor BGBl I 2015/112 über die Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit gegen das Unzuständigkeitsurteil der Einzelrichterin des Landesgerichts Salzburg vom 7. Oktober 2015, 63 Hv 85/15s-35, nach der in Anwesenheit des Oberstaatsanwalts Mag. Zentner, des Angeklagten und seiner Verteidiger ***** durchgeführten Berufungsverhandlung am 16. März 2016 zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und dem Erstgericht aufgetragen, sich der Verhandlung und Urteilsfällung zu unterziehen.

Text

Entscheidungsgründe:

In ihrem Strafantrag vom 4. August 2015, 4 St 46/15v (ON 29), legte die Staatsanwaltschaft Salzburg dem ***** Angeklagten ***** das Vergehen der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach § 81 Abs 1 Z 1 StGB (in der Fassung vor BGBl I 2015/112) zur Last, weil er in der Nacht zum 30. Oktober 2014 in Salzburg P***** unter besonders gefährlichen Verhältnissen, und zwar durch die Verabreichung von mehreren starken Morphininfusionen, fahrlässig getötet habe. In der Hauptverhandlung vom 7. Oktober 2015 modifizierte der öffentliche Ankläger den Strafantrag dahin, dass es nach der Wortfolge „unter besonders gefährlichen Verhältnissen und zwar durch” zu lauten habe: „Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen und anschließende Verabreichung von mehreren starken Morphininfusionen“ (S 44 in ON 34).

Mit dem angefochtenen Urteil sprach die Einzelrichterin des Landesgerichts Salzburg gemäß § 488 Abs 3 erster Satz StPO ihre sachliche Unzuständigkeit aus, weil in einer Gesamtschau der bisherigen Beweisergebnisse ein (zumindest bedingter) Tötungsvorsatz des Angeklagten naheliege und damit das in die Zuständigkeit des Geschworenengerichts fallende Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB indiziert wäre.

Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 6 iVm Z 5 und Z 4 StPO iVm § 489 Abs 1 StPO gestützte Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit (ON 42).

Die Oberstaatsanwaltschaft Linz beantragte in ihrer Stellungnahme vom 27. Jänner 2016 zusammengefasst, der Berufung keine Folge zu geben.

Die Berufung ist berechtigt.

Der Bezugspunkt für die Prüfung von (sachlicher) Zuständigkeit oder Unzuständigkeit ist in allen Verfahrensarten derselbe. Die Überprüfungsbasis besteht nach § 261 StPO in den „der Anklage zugrundeliegenden Tatsachen an sich oder in Verbindung mit den in der Hauptverhandlung hervorgetretenen Umständen”, also Modifikationen des Anklagesachverhalts ohne Änderung des Prozessgegenstands. Im Verfahren vor dem Bezirksgericht und dem Einzelrichter des Landesgerichts gilt nichts anderes (§ 447 StPO, § 488 Abs 1 und 3 StPO; Ratz in Fuchs/Ratz , WK StPO § 281 Abs 1 Z 5 bis 8 Rz 493 mwN).

Prüfungsinhalt des Unzuständigkeitsurteils ist ein Anschuldigungsbeweis. Die Verdachtsdichte, die den Ankläger zur Erhebung der Anklage berechtigt (vgl § 212 Z 2 StPO), genügt (vgl RIS-Justiz RS0098830). Der Anschuldigungsbeweis gilt dann als erbracht, wenn sich aus dem Anklagevorbringen - allenfalls in Verbindung mit einem in der Hauptverhandlung rechtmäßig vorgekommenen Beweismittel - der naheliegende Verdacht ergibt, der inkriminierte Sachverhalt wäre im Fall eines Schuldspruchs als eine in die Zuständigkeit (hier) des Geschworenengerichts fallende strafbare Handlung zu beurteilen. Ein dringender Verdacht ist dabei nicht erforderlich (RIS-Justiz RS0124012, RS0098830).

Die rechtliche Beurteilung des (hier) Berufungsgerichts hat - ebenso wie jene des Berufungswerbers - an dem vom Erstgericht für wahrscheinlich gehaltenen Sachverhalt anzuknüpfen. Dieser kann nur nach Maßgabe der Kriterien der Z 5 des § 281 Abs 1 StPO (zu Gunsten des Angeklagten auch Z 5a), nicht aber beweiswürdigend in Frage gestellt werden. Zudem kommt im Fall eines Unzuständigkeitsurteils auch die Geltendmachung von Verfahrensmängeln (Z 2 - 4 [nach Maßgabe des Abs 3]) - jeweils in Verbindung mit § 281 Abs 1 Z 6 StPO - in Betracht. Verfehlte rechtliche Unterstellung der Sachverhaltsannahmen ist allein Gegenstand der Z 6 (vgl zum Prüfungsinhalt Ratz in Fuchs/Ratz , WK StPO § 281 Abs 1 Z 5 bis 8 Rz 499 mwN).

Der Nichtigkeitsgrund der Z 6 liegt vor, wenn es an den sachlichen Voraussetzungen eines Unzuständigkeitsurteils fehlt. Dies ist zunächst dann der Fall, wenn der Sachverhalt eine geschworenengerichtliche Zuständigkeit nicht indiziert, die Verdachtsdichte also jene eines Anschuldigungsbeweises nicht erreicht. Ein Fall der Z 6 ist aber auch dann gegeben, wenn das Erstgericht bei Annahme einer geschworenengerichtlichen Zuständigkeit einem Subsumtionsfehler unterliegt. Begründungsmängel iSd Z 5 sind gegen ein Unzuständigkeitsurteil im Rahmen einer Nichtigkeitsbeschwerde gemäß Z 6 auszuführen (vgl Lewisch in Fuchs/Ratz , WK StPO § 261 Rz 24ff mwN).

Zur Klarstellung: Wenn zuweilen betont wird, das Unzuständigkeitsurteil habe „keine Beweise zu würdigen“ und keine „Tatsachenfeststellungen zu enthalten“, sind damit nur Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellungen iS eines verurteilenden Erkenntnisses gemeint ( Ratz aaO Rz 498).

Nach den Sachverhaltsannahmen des Erstgerichts (US 6ff) klagte die 79-jährige Bewohnerin des Seniorenwohnheims ***** am 29. Oktober 2014 gegen 19.22 Uhr über Atemnot und erlitt anschließend einen Atemstillstand, woraufhin sie vom diensthabenden Pflegepersonal reanimiert wurde, bis der verständigte Notarzt eintraf. Nach erfolgreicher Reanimation wurde P***** dem Rettungsteam übergeben. Nachdem der diensthabende Notarzt ***** P***** intubiert und stabilisiert hatte, wurde sie ins Landeskrankenhaus ***** überstellt. Um zirka 20.00 Uhr hat Dr. T***** die Patientin ***** im Schockraum des Landeskrankenhauses ***** an den Angeklagten und Dr. B***** übergeben. Bei Eintreffen im Schockraum lag bei P***** ein stabiler Kreislauf und eine assistierte Spontanatmung vor; P***** hatte normale Blutdruckwerte und einen normalen Herzrhythmus. Der Notarzt Dr. T***** setzte den Angeklagten davon in Kenntnis, dass der Patientin am 18. Oktober 2014 ein Fentanyl-Pflaster verabreicht und am 29. Oktober 2014 erneuert wurde, weil es abgefallen war. Auch gab Dr. T***** dem Angeklagten bekannt, welche Medikamente er der Patientin im Zuge der notärztlichen Erstversorgung verabreicht hatte. Dr. T***** äußerte gegenüber dem Angeklagten auch den Verdacht, dass der Zustand der Patientin mit dem Fentanyl-Pflaster im Zusammenhang stehen könnte.

Der Angeklagte und die ihm als Beiärztin unterstellte Dr. B***** untersuchten die Patientin P*****, erhoben Vorerkrankungen und begannen im Schockraum mit der Untersuchung und Erstversorgung der Patientin. Der Angeklagte koordinierte die Behandlung. Aufgrund der von Dr. T***** geäußerten Verdachtsdiagnose („Fentanyl-Intoxikation“) verabreichte der Angeklagte der Patientin in weiterer Folge ein Gegenmittel namens Naloxon. Das Fentanyl-Pflaster wurde noch im Schockraum entfernt. Im Schockraum reagierte die Patientin auf Ansprache und musste für die Durchführung des Thorax-CT mit Propofol sediert werden. Im CT konnte keine klare Ursache für das Kollapsgeschehen der Patientin gefunden werden. Festgestellt werden konnten allerdings zahlreiche Rippenfrakturen und ein Zustand nach Reanimation.

In weiterer Folge begab sich Dr. B***** wieder auf die Station zu anderen Patienten. An diesem Abend waren acht Patienten auf der Intensivstation zu betreuen. Kurz darauf kam auch der Angeklagte mit der Patientin P***** aus dem Schockraum auf die Intensivstation, wo die Patientin monitiert wurde. Auch wurden weitere Untersuchungen durchgeführt und weitere Informationen hinsichtlich Vorerkrankungen der Patientin eingeholt. P***** litt an multiplen Vorerkrankungen.

Im Rahmen der Obduktion wurden folgende Erkrankungen der Patientin P*****, die bei einer Körpergröße von 146 cm 43 kg wog, festgestellt:

- ausgeprägte hämorrhagische Tracheitis,

- Lungenwassersucht beidseits bei deutlicher Minderbelüftung der Lungen,

- abnormale Lage von Groß- und Kleinhirn mit deutlicher occipitaler Kompression derselben,

- flächenhafte occipitale betonte knöcherne Verhärtung der harten Hirnhaut,

- Blutbildungsherde innerhalb des Schädelknochens,

- deutliche Verkalkung der Aorten- und Mitralklappe bei in Frage gestellter Schlussfähigkeit,

- geringgradig ausgeprägte Coronaratheromatose,

- deutlich ausgeprägte allgemeine Aortensklerose,

- Nebennierenmarkverbreiterung linksseitig,

- deutliche Einweichung des Gewebes von Leber und Milz,

- hämorrhagische Stauungszeichen der Bauchspeicheldrüse,

- gestielte Geschwulstbildung unterhalb des rechten Rippenbogens,

- Zustand nach Entfernung des Wurmfortsatzes sowie der Gebärmutter samt Anhanggebilde vor längerer Zeit,

- Einblutung am Zungengrund rechtsseitig,

- verstärkte Gefäßzeichnung im unteren Drittel der Speiseröhre,

- Rippenbrüche beidseits wie nach Reanimation,

- Zeichen ärztlicher Maßnahmen.

Lediglich die angeführte Entzündung der Luftröhre, die ausgeprägte Lungenwassersucht beidseits und die beginnende Pneumonie stellen Akutdiagnosen dar. Darüber hinaus litt P***** an chronisch degenerativen Wirbelsäulenschmerzen und am Gebrechlichkeitssyndrom. Davon abgesehen war P***** vor ihrem gegenständlichen Aufenthalt im LKH ***** noch sehr mobil, konnte mit Unterstützung kurze Strecken ohne Rollator spazieren gehen und war in der Lage, ihre Wünsche kund zu tun.

Während Dr. B***** mit dem Aufnahmeprozedere begann, erholte sich P***** relativ schnell, die Patientin war gezielt kontaktfähig, zunehmend orientiert, mehr und mehr ansprechbar, machte die Augen auf und wurde schließlich, zumal sie auch begann, selbständig zu atmen, extubiert. Zumal P***** jedoch schnell wieder schwach wurde und nicht mehr selbständig atmen und die Sekrete nicht abhusten konnte, musste sie wieder intubiert werden, wobei der Tubus ohne Komplikationen verlegt werden konnte, der Beatmungsaufwand aber deutlich höher war als bei der Einlieferung. Bei der im Anschluss durchgeführten Bronchoskopie stellte sich heraus, dass die Öffnung des Tubus durch die Schleimhaut der Luftröhre verlegt war, weshalb der Angeklagte den Beatmungstubus durch einen Spiraltubus ersetzte. Daraufhin ließ sich die Patientin wieder beatmen. Aus dem anschließend durchgeführten Thorax-Röntgen war eine beginnende Lungenentzündung ersichtlich, weshalb sofort mit der Antibiose begonnen wurde.

Der Angeklagte kontaktierte schließlich - seiner Einschätzung nach war die Patientin „kritisch“ erkrankt - das Altenwohnheim ***** und brachte beim dortigen Pflegepersonal in Erfahrung, dass für P***** keine Patientenverfügung vorliegt. Weiters wurde ihm mitgeteilt, dass es lediglich eine Person gebe, die gelegentlich auf Besuch kommen würde, nämlich den Neffen von P*****, der ab und zu vorbei komme. Anschließend kontaktierte der Angeklagte den (Halb)Neffen von P*****, *****, telefonisch und ersuchte ihn, ins Krankenhaus zu kommen.

Ausgehend von diesen, im wesentlichen durch den Akt indizierten Annahmen hielt das Erstgericht weiters den in der Folge wiedergegebenen Sachverhalt (US 9f) für wahrscheinlich:

Obwohl der Angeklagte davon ausging, dass die Patientin P***** - die sich seiner Ansicht nach in einem „kritischen“ Zustand befand, eine etwas weniger als 50 %-ige Chance hat, nach einer etwa zwei- bis dreiwöchigen Intensivtherapie (Beatmung und Antibiose) das Krankenhaus lebend zu verlassen, wollte er den mutmaßlichen Willen der Patientin eruieren und entschied sich nach einem Gespräch mit dem (Halb)Neffen der Patientin P*****, *****, die intensivmedizinische Behandlung der P***** zu beenden und auf „Komforttherapie“ umzustellen. Zu diesem Zeitpunkt lag P***** nicht aktiv im Sterben. Auch lagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht sämtliche Untersuchungsergebnisse vor. So waren etwa das CAP und die Leber- und Nierenwerte noch nicht vorhanden. Dennoch entschied sich der Angeklagte gegen eine Fortsetzung der intensivmedizinischen Behandlung und für die Einleitung der sogenannten „Komforttherapie“. Dies, obwohl seiner Einschätzung nach eine etwas weniger als 50 %-ige Chance bestand, dass P***** nach zwei- bis dreiwöchiger intensivmedizinischer Behandlung (künstliche Beatmung und Antibiose) das Krankenhaus lebend verlässt, wobei sie sich seiner Einschätzung nach nicht zu einem - seiner Ansicht nach - bedeutungsvollen bzw akzeptablen Lebenszustand erholt hätte, sie sich also vielleicht bzw eventuell nicht mehr selbständig die Zähne bürsten hätte können, vielleicht bzw eventuell nicht mehr selbständig den Toilettengang durchführen hätte können oder vielleicht nicht mehr am Rollator gehen hätte können. Trotzdem dem Angeklagten klar war, dass die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen (Beatmung) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Tod von P***** führt, entschloss er sich dazu, P***** zu extubieren. Ein Sterbeprozess war bei P***** bis zur Beendigung der Beatmung noch nicht im Gange .

Ohne bereits an dieser Stelle auf die im Urteil anschließend festgehaltenen, im Ermittlungsverfahren ausschließlich für relevant erachteten Morphingaben einzugehen, ist zum Vorwurf der Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen mit Blick auf das Verhandlungsergebnis vorauszuschicken, dass der Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung auch dann, wenn dazu - wie etwa beim Abschalten eines Beatmungsgeräts - auch ein positives Tun erforderlich ist, nicht unter das Verbot der aktiven Sterbehilfe fällt. Es ist vielmehr anerkannt, dass die in Rede stehende Konstellation - ungeachtet der naturalistischen Zuordnung der einzelnen Verhaltenselemente zu Tun oder Unterlassen - gemäß ihrem sozialen Sinn insgesamt als Unterlassung der weiteren Behandlung zu werten und dementsprechend nach den Regeln der passiven Sterbehilfe zu beurteilen ist ( Burgstaller in JAP 2009/2010/21).

Dass der Angeklagte verdächtig sei, das Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB begangen zu haben, begründete das Erstgericht mit den Ausführungen in den (gerichtsmedizinischen) Sachverständigengutachten Dris. K***** und Dris. K***** im Zusammenhalt mit den übrigen Beweisergebnissen der durchgeführten Hauptverhandlung (vgl US 12), erkennbar den im angefochtenen Urteil auszugsweise dargestellten Angaben des Angeklagten selbst unter Mitberücksichtigung dessen persönlichen Eindrucks sowie den Angaben des Zeugen *****.

Vorab ist festzuhalten, dass Verzicht und Abbruch einer lebenserhaltenden medizinischen Maßnahme 1. bei wirksamer Ablehnung durch den Patienten (zB durch eine beachtliche Patientenverfügung), 2. bei hinreichend dokumentiertem mutmaßlichen Patientenwillen oder 3. bei fehlender medizinischer Indikation grundsätzlich rechtlich zulässig bzw geboten sind. Auch aus dem Patientenverfügungsgesetz ist ableitbar, dass der behandelnde Arzt an eine verbindliche Verfügung, die eine bestimmte Behandlung untersagt, selbst dann unmittelbar gebunden ist, wenn die Behandlung medizinisch indiziert wäre und der Patient ohne diese voraussichtlich sterben wird (RV 1299 BlgNR 22. GP 2). Schlüsselstelle der Straflosigkeit der passiven Sterbehilfe ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, also sein Wille (vgl dazu Moos in WK 2 StGB Vorbem zu §§ 75 – 79 Rz 31f mwN). Die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts wird durch den Tatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung (§ 110 StGB) auch strafrechtlich geschützt.

Liegt wie hier eine ausdrückliche Willensäußerung des zum relevanten Zeitpunkt äußerungsunfähigen Patienten in Form einer Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht nicht vor, ist für die weitere ärztliche Behandlung der mutmaßliche Wille des Patienten maßgebend (vgl Moos aaO Rz 36f mwN). Das heißt, eine Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen ist zulässig, wenn nach den Umständen des Falls und bei Würdigung der Interessenlage des einwilligungsunfähigen Patienten anzunehmen ist, dass er die Zustimmung zu der anstehenden Behandlung verweigern würde, wenn er dazu in der Lage wäre ( Burgstaller in JAP 2009/2010/21). Die Frage nach dem mutmaßlichen Patientenwillen ist nach der Lehre eine solche der Tatsachenebene. Für die Einschätzung des mutmaßlichen Willens sind primär mündliche oder schriftliche Äußerungen des Patienten entscheiden (vgl dazu 6 Ob 286/07p mwN).

Zu dem, vom Angeklagten von Beginn an ins Treffen geführten - und für die hier anzustellende Bewertung maßgeblichen - mutmaßlichen Patientenwillen der P***** führte das Erstgericht aus, dass der Angeklagte den Willen der Patientin P***** nicht kannte. Allein die Befragung des (Halb-)Neffen der Patientin ***** gereichte nicht hin, um den mutmaßlichen Willen der Patientin festzustellen. Hinzu kommt, dass ***** dem Angeklagten gegenüber klar dargelegt hat, dass er nicht entscheiden könne und ihm keine Entscheidungsbefugnis zukomme (US 12).

Dass P***** ihren (Halb-)Neffen ***** als ihren Stellvertreter bestimmt hätte, der zur Entscheidung über medizinische Behandlungen ermächtigt sei, ist aber durch den Akt ohnehin nicht indiziert. Selbst nahe Angehörige haben per se keine rechtliche Stellvertretungsbefugnis. Vielmehr, und nichts anderes ist auch aus den Aussagen des Angeklagten ableitbar, sind (ua) Gespräche mit Angehörigen eine Möglichkeit, den mutmaßlichen Willen eines entscheidungsunfähigen Patienten zu ermitteln. Dabei geht es natürlich nicht darum, wie der Angehörige entscheiden würde; Ziel ist unter Berücksichtigung ua eines Angehörigengesprächs festzustellen, wie sich der Patient im konkreten Fall zur lebenserhaltenden Maßnahme äußern würde, wenn er könnte. Nur dass es sich beim Zeugen ***** nicht um den einzigen Angehörigen der P***** bzw. (nur) deren Halbneffen gehandelt habe, ist letztlich irrelevant.

Entscheidungswesentlich verkennt daher das Erstgericht bei seinem Schluss, der Angeklagte wollte den mutmaßlichen Willen der Patientin eruieren, obwohl er davon ausging, dass die Patientin P***** - die sich seiner Ansicht nach in einem „kritischen“ Zustand befand, eine etwas weniger als 50 %-ige Chance hat, nach einer etwa zwei- bis dreiwöchigen Intensivtherapie (Beatmung und Antibiose), das Krankenhaus lebend zu verlassen, dass der Angeklagte als Arzt beim Einsatz lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen im Sinne der obigen Kriterien tatsächlich verpflichtet sein kann, den mutmaßlichen Patientenwillen zu erforschen, um nicht den Tatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung (§ 110 StGB) zu verwirklichen. Selbst nach den diesbezüglichen Sachverhaltsannahmen des Erstgerichts hat der Angeklagte aufgrund des seiner Einschätzung nach kritischen Zustands der Patientin entschieden, dass die Erforschung des mutmaßlichen Patientenwillens angezeigt sei. Bei der Eruierung des mutmaßlichen Willens der Patientin hat der Angeklagte Kontakt mit dem Pflegeheim hergestellt und sich nach Angehörigen, die für seine Entscheidung von Relevanz sein könnten, erkundigt. Zudem veranlasste er, dass der Zeuge ***** ins Krankenhaus kam, und führte dort mit dem Zeugen ein nach seinen eigenen Angaben 15- bis 20-minütiges Gespräch (S 29 in ON 34). Dass sich der Zeuge ***** nicht im Detail an dieses Gespräch erinnern kann, ist angesichts der konkreten Umstände nicht weiter verwunderlich und spielt letztlich bei der hier anzustellenden Überprüfung keine Rolle. Angesichts des vom Erstgericht als naheliegend angenommenen Tatbestands des Mordes ist jedoch an dieser Stelle schon darauf zu verweisen, dass der Zeuge ***** auch in der Hauptverhandlung angegeben hat, dass er der Meinung sei, dass seine Tante nicht künstlich am Leben erhalten werden hätte wollen (S 53 in ON 34). Abgesehen davon darf aber nicht übersehen werden, dass der Angeklagte nicht nur ein Gespräch mit einem Angehörigen suchte und führte, sondern auch andere Grundlagen für seine Entscheidung zur Verfügung hatte. Neben seinen eigenen Wahrnehmungen und Untersuchungen sowie den zum inkriminierte Tatzeitpunkt teilweise bereits vorliegenden Untersuchungsergebnissen standen ihm nämlich auch die Unterlagen der Geriatrie von vorherigen Aufenthalten zur Verfügung, woraus sich neben den im angefochtenen Urteil näher angeführten multiplen Vorerkrankungen auch ein hochgradiger Herzklappenfehler ergab. Die Patientin habe demnach aber die weitere Behandlung abgelehnt und gesagt, sie wolle sich nicht operieren lassen, sondern nur konservativ behandelt werden (S 5 in ON 34).

In Übereinstimmung mit dem Berufungswerber kann demnach, ausgehend von den auszugsweise wiedergegebenen Sachverhaltsannahmen des Erstgerichts hier gerade nicht davon gesprochen werden, dass die Verfahrensergebnisse bei Anlegung eines realitätsbezogenen Maßstabes die Annahme der Erfüllung aller Merkmale eines bestimmten Straftatbestandes, nämlich des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB als naheliegend erkennen lassen (vgl dazu RIS-Justiz RS0098830). Zudem ist die Annahme des Erstgerichts, allein die Befragung des Zeugen habe nicht gereicht, um den mutmaßlichen Willen der Patientin festzustellen, sowie der Angeklagte habe beim Abbruch der lebenserhaltenden Maßnahme mit Tötungsvorsatz iSd § 75 StGB gehandelt, vor dem Hintergrund der eingehenden Verantwortung des Angeklagten zu seinen Entscheidungsgrundlagen und seiner diesbezüglichen Wertung, nicht mängelfrei begründet. In Übereinstimmung mit dem Berufungswerber hat sich das Erstgericht nämlich mit seinen im Sinne der obigen Kriterien entscheidenden Angaben, dass er die lebenserhaltenden Maßnahmen abgebrochen habe, weil und weshalb er in der konkreten Situation von einem diesbezüglichen mutmaßlichen Patientenwillen ausgegangen sei, nicht hinreichend begründet auseinandergesetzt. Allein die isoliert hervorgehobenen, im übrigen später relativierten bzw konkretisierten (vgl S 45 in ON 34) Ausführungen des Angeklagten zur Überlebenswahrscheinlichkeit der Patientin bzw zu dem in diesem Fall zu erwartenden Zustand der Patientin, auf denen die angefochtene Entscheidung erkennbar insbesondere gründet, können diese Einschätzung nicht relativieren. Dem Schluss des Erstgerichts, aus der eigenen Verantwortung des Angeklagten auf sein inneres Vorhaben in dem Sinn zu schließen, er habe mit bedingtem Tötungsvorsatz iSd § 75 StGB gehandelt, kann nicht gefolgt werden. Der Vollständigkeit halber sei festgehalten, dass die beiden bislang beigezogenen Sachverständigen zu diesen Fragen mangels der von ihnen selbst angesprochenen Sachkompetenz im Bereich der Intensivmedizin wenig beitragen konnten. Davon, dass eine Verurteilung wegen Mordes nahe liege (vgl dazu Birklbauer/Mayrhofer, WK-StPO § 210 Rz 5) kann hier alles in allem nicht gesprochen werden.

Zusammengefasst bedeutet das, dass mit Blick auf einen allfälligen, im Sinne der obigen Kriterien zu hinterfragenden mutmaßlichen Patientenwillen und die - bislang mangels Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Bereich der Intensivmedizin letztlich völlig ungeprüfte - medizinische Indikation fraglich ist, ob überhaupt der objektive Tatbestand im Sinne eines Anschuldigungsbeweises angenommen werden könnte (vgl auch § 8 erster Satz StGB). Vor allem aber wurde in Übereinstimmung mit dem Berufungswerber übersehen, dass sich der Vorsatz auf alle Elemente des objektiven Tatbestands beziehen muss. Bei genauer Betrachtung des hier inkriminierten Vorwurfs ist der Vorsatz jedoch im Umfang des gesamten Tatbestands nicht abgedeckt (§ 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall StPO).

Rechtliche Beurteilung

Ob dem Angeklagten überhaupt ein strafbares Verhalten angelastet werden kann, wird vom erkennenden Gericht im weiteren Verfahren zu klären sein. Dabei wird zu zu beachten sein, dass für eine allfällige Strafbarkeit wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB erste Voraussetzung wäre, dass der Angeklagte schon bei der Feststellung des mutmaßlichen Patientenwillens ungewöhnlich und auffallend sorgfaltswidrig gehandelt habe, sodass der Eintritt eines dem gesetzlichen Tatbild entsprechenden Sachverhalts als geradezu wahrscheinlich vorhersehbar war (§ 6 Abs 3 StGB). Ein (grob) fahrlässiges Verhalten wäre auch im Zusammenhang mit dem Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme (lege artis?) zumindest denkbar. Die in das Zentrum des Strafverfahrens gerückten Morphingaben sind tatsächlich rechtlich nicht erheblich, weil bei gesetzmäßiger Beurteilung des Patientenwillens und bei einem lege artis erfolgten Behandlungsabbruch die schmerzlindernde Sterbebegleitung eines Patienten mit Morphin nicht als (grob) fahrlässige Tötung beurteilt werden kann.

Rechtssätze
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