JudikaturJustiz7Ob3/24b

7Ob3/24b – OGH Entscheidung

Entscheidung
06. März 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtsache der klagenden Partei I* L*, vertreten durch Dr. Sebastian Lenz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wegen 96.000 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 21. November 2023, GZ 33 R 107/23g 105, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 30. März 2023, GZ 35 Cg 3/23i 99 bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.800,50 EUR (darin enthalten 466,75 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Zwischen den Streitteilen besteht ein Unfallversicherungsvertrag, dem die „Klipp Klar“ Bedingungen für die Unfallversicherung 2012 (UB00) zu Grunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

Was ist ein Unfall? – Artikel 6

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzliches von außen auf ihren Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

2. Als Unfall gelten auch folgende Ereignisse:

Verrenkungen von Gliedern sowie Verzerrungen und Zerreißungen von Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bänder und Kapseln sowie Meniskusverletzungen.

Hinsichtlich krankhaft abnützungsbedingter Einflüsse finden insbesondere Art 21 Pkt 3, Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes, Anwendung.

[...]

Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes – Artikel 21

1. Eine Versicherungsleistung wird von uns nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen (körperliche Schädigung oder Tod) erbracht.

2. Bei der Bemessung des Invaliditätsgrades wird ein Abzug in Höhe einer Vorinvalidität nur vorgenommen, wenn durch den Unfall eine körperliche oder geistige Funktion betroffen ist, die schon vorher beeinträchtigt war. Die Vorinvalidität wird nach Art 7 „Dauernde Invalidität“ Pkt 2 und 3 bemessen.

3. Haben Krankheiten oder Gebrechen, bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung – insbesondere solche Verletzungen, die durch krankhaft abnützungsbedingte Einflüsse verursacht oder mitverursacht worden sind – oder deren Folgen mitgewirkt, ist im Fall einer Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades, ansonsten die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens, zu vermindern, wenn dieser Anteil mindestens 25 % beträgt. Das gilt insbesondere auch, wenn die Gesundheitsschädigung durch einen abnützungsbedingten Einfluss mit Krankheitswert, wie beispielsweise Arthrose, mitverursacht worden ist. [...]“

[2] Die Klägerin leidet seit 1998 an eine m atypischen Morbus Parkinson. Beim Morbus Parkinson handelt es sich um keine m uskel- oder neuromuskuläre Erkrankung, es kommt durch ihn auch zu keinen Veränderungen am muskuloskelettalen Apparat. Die Krankheit ist daher an sich nicht dazu geeignet, Verletzungen wie bei der Klägerin entstandene herbeizuführen. Die Krankheit hat auch keine Auswirkungen auf die Sehnen oder Knochenqualität eines Erkrankten. Beim Morbus Parkinson handelt es sich vielmehr um eine neurodegenerative Erkrankung des Gehirns, die unter anderem aufgrund einer verminderten Schritthöhe und verkürzter Schrittlänge zu einer vermehrten Sturzanfälligkeit führt. Durch die mit der Erkrankung verbundene Gang störung, das vermehrte Umkippen und die Sturzneigung kommt es jedoch zu einer chronischen Überbelastung der Stell und Hal t ereflexe sowie der Sehnen und Bänder, und damit auch der Funktion der langen Peroneussehne.

[3] Am 26. 3. 2017 verspürte die Klägerin am Weg zu ihrem Auto plötzlich einen Stich in der linken Wade und nahm zeitgleich deutlich ein „Schnalzgeräusch“ wahr. Das war auf einen Riss der Peroneussehne im Bereich des linken oberen Sprunggelenkes zurückzuführen . Dieser wurde zu 100 % durch die chronisch degenerativen Veränderungen, die bei der Klägerin aufgrund der mit dem Morbus Parkinson verbundenen Gangstörung, des vermehrten Umkippens und der Sturzneigung bestanden, verursacht.

[4] Die Klägerin begehrte zuletzt 96.000 EUR als Leistung aus dem Versicherungsvertrag. Sie brachte – soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse vor –, dass bei ihr aufgrund des Vorfalls vom 26. 3. 2017 eine dauernde Gesamtinvalidität von 50 % vorliege. Vorerkrankungen oder Gebrechen bestünden nicht .

[5] Die Beklagte beantragte die kostenpflichtige Klagsabweisung. Der Riss der Peroneussehne sei nicht auf einen Unfall zurückzuführen. Die Klägerin weise eine degenerative Vorschädigung auf, die zu mehr als 25 % ursächlich für die beschriebenen Beschwerden und die daraus resultierende Dauerinvalidität sei.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Beim Riss der Peroneussehne hand le es sich zwar um einen Unfall im Sinn der Versicherungsbedingungen. Obwohl eine dauernde Invalidität vorliege, entfalle aber der Versicherungsschutz, weil diese zu 100 % durch die chronisch degenerativen Veränderungen verursacht worden sei.

[7] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Der Riss der Peroneussehne habe nicht beim Unfallereignis selbst mitgewirkt, er sei jedoch ausschließlich – zu 100 % – durch die chronisch-degenerativen Veränderungen bei der Klägerin verursacht worden. Mitwirkender Faktor sei auch nicht der Morbus Parkinson an sich, sondern die dadurch bedingten hochgradig degenerativen Veränderungen. Da eine 100%ige Mitwirkung nach Art 21.3 UB00 des bei der Klägerin gegebenen Gebrechens die Unfallfolge des Risses der Peroneussehne bewirkt habe, bestehe kein Anspruch auf Versicherungsleistung.

[8] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Beklagte begehrt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

[11] 1. Voranzustellen ist, dass im Revisionsverfahren nur mehr die Frage einer Invaliditäts entschädigung aufgrund des Vorfalls vom 26. 3. 20 17 Gegenstand ist. Darüber hinaus wird d ie Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin am 26. 3. 2017 eine in Art 6.2 UB00 beschriebene Verletzung erlitt, weshalb vom Eintritt eines Unfalls auszugehen sei, nicht bestritten.

[12] 2. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 ff ABGB) auszulegen und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlau t auszulegen, dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).

[13] 3.1 Die §§ 179 ff VersVG enthalten keine Umschreibung des Unfallsbegriffs. Art 6.1 UB00 definiert den allgemeinen Unfallbegriff. Danach hand elt es sich bei einem Unfall um ein plötzlich von außen auf den Körper der versicherten Person einwirkendes Ereignis, wodurch diese unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

[14] 3 . 2.1 Art 21.3 UB00 beinhaltet eine Regelung zur Leistungskürzung bei mitwirkenden Ursachen. Haben Krankheiten oder Gebrechen, die schon vor dem Unfall bestanden, bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, ist im Fall der Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades, ansonsten die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu vermindern.

[15] 3 . 2.2 Die Bestimmung sieht eine sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes insofern vor, als eine Versicherungsleistung nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen zu erbringen ist, der Versicherer also nur für die Folgen einzutreten hat, für die der Unfall (allein) kausal ist (RS0119520). Der durchschnittliche Versicherungsnehmer versteht diese Regelung so, dass unfallfremde Krankheiten oder Gebrechen grundsätzlich zu seinen Lasten gehen, nämlich zu einer Kürzung eines Anspruchs oder eine m Abzug von der Gesamtinvalidität führen (vgl 7 Ob 103/15w mwN). Aus der Klausel folgt für den Versicherungsnehmer klar, dass der Unfallversicherer keinen Versicherungsschutz für unfallfremde Ursachen von Gesundheitsschädigungen wie Krankheiten oder konstitutionell oder schicksalhaft bedingte gesundheitliche Anomalien bietet.

[16] 3.2.3 Eine Krankheit ist ein abnormer (regelwidriger) Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf. Ein Gebrechen ist ein dauernder abnormer Gesundheitszustand, der eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen zumindest teilweise nicht mehr zulässt (7 Ob 103/15w mwN). Maßstab für den regelwidrigen Körperzustand ist der altersbedingte Normalzustand. Konstitutionelle Schwächen, Körperdispositionen oder die erhöhte Empfänglichkeit für bestimmte Krankheiten sind keine Gebrechen, wenn diese im Rahmen der medizinischen Normen liegen (vgl Maitz , AUVB A llgemeine Bedingungen für die Unfallversicherung 2 20 7f ; Knappmann in Prölls/Martin Versicherungsvertragsgesetz 31 AUB 2014 Ziff 3 Rn 7; BGH IV ZR 125/18).

[17] 3 . 2 . 4 Abgestellt wird allein auf die Mitwirkung der Krankheiten oder Gebrechen auf die Unfallfolgen, nicht darauf, ob beim Unfallereignis selbst Vorerkrankungen mitgewirkt haben (vgl 7 Ob 103/15w mwN).

[18] 3.2.5 Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer wird Art 21.3 UB00 dahin verstehen, dass auch schon die (erste) Gesundheitsschädigung (Unfallfolgeereignis) eine Unfallfolge im Sinne der Bestimmung darstellt. Er wird zu den Unfallfolgen alle Verletzungen seines Körpers und alle weiteren Gesundheitsschäden rechnen, die durch das Unfallereignis herbeigeführt wurden. Ihm ist geläufig, dass es Unfallfolgen unterschiedlicher Art gibt, etwa vorübergehende und Dauerfolgen, sofort und erst später eintretende Folgen. Eine Leistungsverkürzung ist daher auch schon insoweit vorzunehmen, als Krankheiten oder Gebrechen bei der (ersten) Gesundheitsschädigung (Unfallfolgeereignis) im Sinne von Art 21.3 UB00 mitgewirkt haben (vgl Mangen in Beckmann/Matusche Beckmann Versicherungsrechtshandbuch 3 § 47 Rn 214; BGH IV ZR 264/ 9 8).

[19] 4.1 Nach Art 6.2 UB00 gelten auch Verrenkungen von Gliedern sowie Verzerrungen oder Zerreißungen von Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bändern und Knorpel sowie Meniskusverletzungen als Unfall.

[20] 4 . 2 Art 6.1 UB00 definiert – wie erwähnt – den allgemeinen Unfallbegriff, Art 6.2 UB00 enthält einen erweiterten Unfallbegriff – die sog Unfallfiktion. Die Bestimmung nennt Verletzungen, die für sich gesehen schon einen versicherten Unfall darstellen (vgl 7 Ob 115/17p, 7 Ob 112/22k).

[21] 4 . 3 Nun ist zu prüfen, ob eine Leistungskürzung im Sinn des Art 21.3 UB00 auch bei einer Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen an einer nach Art 6.2 UB00 versicherten Verletzung vorzunehmen ist, ob also die Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen zu berücksichtigen ist , wenn „Unfallereignis und Unfallereignisfolge zusammenfallen“.

[22] 4 . 4 Dies ist bereits ausgehend von dem in Art 6.2 UB00 ausdrücklich aufgenommenen Hinweis, dass hinsichtlich krankhaft abnützungsbedingter Einflüsse Art 21.3 UB00 Anwendung findet, zu bejahen. Der Bestimmung kann damit nur das Verständnis unterstellt werden , dass die Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen an den versicherten Verletzungen mitzuberücksichtigen ist . Das heißt, der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer wird die Bestimmung dahin verstehen, dass unfallfremde Krankheiten und Gebrechen grundsätzlich auch im Zusammenhang mit den nach Art 6.2 UB00 versicherten Verletzungen zu seinen Lasten gehen, nämlich zu einer Kürzung des Anspruchs oder eine m Abzug von der Gesamtinvalidität führen. Die Einschränkung seines Versicherungsschutzes wird ihm deutlich vor Augen geführt, Anhaltspunkte dafür, dass eine solche nur für einen Unfall im Sinn des Art 6.1 UB00, nicht jedoch für die Unfallfiktion nach Art 6.2 UB00 gelten soll, lassen sich schon vor dem Hintergrund der insoweit klaren Bestimmung nicht finden.

[23] 4 . 5 Eine Minderung wegen Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen nach Art 21.3 UB00 kann daher auch bei eine r nach Art 6.2 UB00 versicherten Verletzung in Betracht kommen (vgl BGH IV ZR 125/18).

[24] 4 . 6 D ie Ansicht Maitz ( aaO 211), der Versicherer dürfe seine Leistung nicht kürzen, wenn eine versicherte Verletzung im Sinn des Art 6.2 UB00 ohne Vorschädigungen medizinisch nicht möglich sei, weil er andernfalls in vielen Fällen eine von vornherein verkürzte Leistung versprechen würde, wird nicht geteilt . Eine Leistungskürzung kommt nämlich ohnedies nur bei außerhalb des altersbedingten Normalzustands vorliegenden Krankheiten und Gebrechen, für die der Unfallversicherer – auch für den Versicherungsnehmer erkennbar – keinen Versicherungsschutz gewähren möchte, in Betracht (BGH IV ZR 125/18).

[25] 5 . Im vorliegenden Fall wurde die nach Art 6.2 UB00 versicherte Verletzung der Klägerin (Riss der Peroneussehne) zu 100 % durch die vom Morbus Parkinson (Krankheit) verursachten chronisch degenerativen Veränderungen (Gebrechen) bewirkt. A ufgrund der damit vorliegenden 100%igen Mitwirkung an der versicherten Verletzung – und damit zwingend an einer dadurch hervorgerufenen dauernden Invalidität – besteht kein Versicherungsschutz.

[26] 6 . Der Revision war keine Folge zu geben. Die Kostenentscheidung gründet auf die §§ 41, 50 ZPO.

Rechtssätze
3
  • RS0050063OGH Rechtssatz

    17. April 2024·3 Entscheidungen

    Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach Vertragsauslegungsgrundsätzen auszulegen. Die Auslegung hat sich daher am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren (vgl VR 1992/277; VR 1992/284).