JudikaturJustiz7Bs303/11z

7Bs303/11z – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
20. Oktober 2011

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz hat durch die Richter Dr. Gföllner als Vorsitzende, Dr. A. Henhofer und Dr. Morbitzer in der Auslieferungssache betreffend Nurettin P***** über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Linz gegen den Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichtes Linz vom 15. September 2011, 18 HR 207/11y-46, nach der in Anwesenheit des Oberstaatsanwalts Mag. Zentner, des Betroffenen Nurettin P*****, seiner Verteidiger Rolf Haug, Rechtsanwalt in Deutschland, und Mag. Breiteneder (Einvernehmensanwalt) durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung am 20. Oktober 2011 entschieden:

Spruch

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

Text

BEGRÜNDUNG:

Am 4. August 2011 beantragte die Staatsanwaltschaft Linz die Einleitung des Auslieferungsverfahrens und Verhängung der Auslieferungshaft über den türkischen Staatsangehörigen Nurettin P***** gemäß Art 1 ff des EuAlÜbk in Verbindung mit § 173 Abs 1 und 2 Z 1 StPO.

Mit den der Verbalnote der Türkischen Botschaft Wien vom 25. August 2011 angeschlossenen Unterlagen ersucht die Republik Türkei um Auslieferung des türkischen Staatsangehörigen Nurettin P***** zur Vollstreckung der über ihn mit rechtskräftigem Urteil des Strafgerichts Kurtalan vom 29. Jänner 2002, AZ 2001/110, Urteil Nr. 2002/5, wegen Verstoßes gegen das türkische Gesetz Nr. 6136, § 13/2 unter Anwendung von StGB Nr. 765, §§ 36, 40, 59/2, verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten, abzüglich der Untersuchungshaft von 53 Tagen (ON 36, 38 und 44).

Nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung gemäß § 31 ARHG am 15. September 2011 (ON 45) erklärte der Einzelrichter des Landesgerichtes Linz die Auslieferung des Nurettin P***** an die Republik Türkei für nicht zulässig (ON 46).

Dagegen richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Linz, die nicht berechtigt ist.

Das Auslieferungsbegehren ist auf Grundlage des Europäischen Auslieferungsübereinkommens zu prüfen. Gemäß Art 2 Abs 1 EuAlÜbk wird wegen Handlungen ausgeliefert, die sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch nach dem des ersuchten Staates mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind. Im Fall einer Auslieferung zur Strafvollstreckung muss das Maß der noch zu vollstreckenden Freiheitsstrafe mindestens vier Monate betragen. Wie schon der Erstrichter zutreffend aufzeigt, sind diese Voraussetzungen aufgrund der mit einer Verbalnote der Türkischen Botschaft Wien übermittelten Unterlagen erfüllt. Die dem Urteil des Strafgerichts Kurtalan vom 29. Jänner 2002 zugrunde liegende strafbare Handlung ist nach türkischem Recht mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zu acht Jahren und schwerer Geldstrafe bedroht. Nach österreichischem Recht ist vom Vergehen nach § 50 Abs 1 Z 4 WaffG auszugehen, das mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen bedroht ist. Die noch zu verbüßende Strafe beträgt vier Jahre und sieben Tage.

Der Erstrichter gründete die Unzulässigkeit der Auslieferung auf die Bestimmung des Art 8 EMRK und führte dazu aus, dass Nurettin P***** seit 2002 mit seiner zweiten Ehefrau und den fünf gemeinsamen unmündigen Kindern in Deutschland lebe; seine Auslieferung an die türkischen Justizbehörden zur Verbüßung einer rund vierjährigen Freiheitsstrafe würde eine lange Trennung der Familie nach sich ziehen; den in Deutschland aufwachsenden schulpflichtigen Kinder sei eine Übersiedlung in die Türkei nicht zuzumuten, da dies einen Wechsel ins türkische Schulsystem mit sprachlichen und kulturellen Hindernissen zur Folge hätte; hinzu käme ein mehrjähriger Verlust des Unterhalts für die Gattin und die fünf Kinder.

Unter Umständen kann der Schutz des Familienlebens einer Auslieferung, Ausweisung oder Abschiebung entgegenstehen, nämlich dann, wenn der Betroffene im Aufenthaltsstaat persönliche oder familiäre Bindungen hat, die ausreichend stark sind und durch eine Auslieferung beeinträchtigt würden. Ein Eingriff begründet dann eine Verletzung von Art 8 EMRK, wenn er nicht gesetzlich vorgesehen ist oder kein legitimes Ziel verfolgt oder nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden kann. Bei der zufolge Art 8 Abs 2 EMRK erforderlichen Notwendigkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung einer solchen das Familienleben beschränkenden Maßnahme ist insbesondere darauf abzustellen, ob den Familienmitgliedern zugemutet werden kann, der betroffenen Person in den Heimatstaat zu folgen und sich dort niederzulassen. Dies ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn begründete Aussicht besteht, dass sich die Familie relativ rasch in die Gesellschaft des ersuchenden Staates wird integrieren können. Bei der notwendigen Verhältnismäßigkeitsprüfung muss im Blick behalten werden, dass den Interessen der betroffenen Person das öffentliche Interesse des ersuchenden Staates an der Verfolgung bereits begangener Straftaten und der Vollstreckung dafür verhängter Sanktionen gegenübersteht (14 Os 87/10s mwN).

Wie die Beschwerdeführerin zutreffend geltend macht, liegt in Anbetracht der noch zu vollstreckenden vierjährigen Freiheitsstrafe und des Umstandes, dass der Betroffene Nurettin P***** mit seiner (türkischen) Ehegattin und drei in der Türkei geborenen Kindern erst 2002 in Kenntnis des erstinstanzlich ergangenen Schuldspruchs die Türkei verlassen hat und in Deutschland einen Wohnsitz begründet hat, kein derart außergewöhnlicher Umstand vor, der iSd Art 8 EMRK eine Auslieferung des Nurettin P***** an die Republik Türkei verhindern könnte.

Dennoch hat der Erstrichter im Ergebnis zu Recht die Auslieferung des Nurettin P***** an die Türkei für nicht zulässig erklärt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 19 ARHG ist eine Auslieferung unzulässig, wenn zu besorgen ist, dass

1. das Strafverfahren im ersuchenden Staat den Grundsätzen der Art 3 und 6 der Konvention zum Schutz der Menschenrecht und Grundfreiheiten nicht entsprechen werde oder nicht entsprochen habe,

2. die im ersuchenden Staat verhängte Strafe (…) in einer den Erfordernissen des Art 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht entsprechenden Weise vollstreckt werden würde, oder

3. die auszuliefernde Person im ersuchenden Staat unter anderem wegen ihrer politischen Anschauungen einer Verfolgung ausgesetzt wäre oder aus diesem Grund andere schwerwiegende Nachteile zu erwarten hätte.

§ 19 ARHG verpflichtet im vertragslosen Auslieferungsverkehr ausdrücklich zur Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze des Art 3 EMRK, des Art 6 EMRK sowie des Auslieferungsasyls (Göth-Flemmich WK2 ARHG § 19 Rz 1).

Unter der Z 2 des § 19 ARHG bildet die konkrete Gefahr einer Art 3 EMRK widersprechenden Strafvollstreckung ein Auslieferungshindernis. Schlechte Haftbedingungen können eine Auslieferung unzulässig machen, wenn die Mindeststandards des Art 3 EMRK nicht gewährleistet werden können. Auch das Fehlen einer lebenswichtigen medizinischen Versorgung im ersuchenden Staat kann die Auslieferung unzulässig machen (Göth-Flemmich aaO Rz 18).

Die psychiatrische Sachverständige Dr. Claudia Z***** kommt in ihrem am 8. Oktober 2011 erstatteten psychiatrischen Gutachten zum Ergebnis, dass bei Nurettin P***** eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt. Bei dieser Störung handelt es sich um einen anhaltenden, psychischen Zustand, der sowohl durch die subjektiv veränderte Selbstwahrnehmung und Veränderung der Sinn- und Wertewelt, als auch durch äußere, aggravierende Faktoren einer Fluktuation der Intensität unterlegen ist. Diese ist bei Nurettin P***** durch drei charakteristische syndromale Cluster definiert, nämlich Intrusionen (unwillkürliches Wiedererleben von Aspekten des ursprünglichen Traumas), auf das Trauma bezogenes Vermeidungsverhalten und Symptome einer autonom-nervösen Übererregbarkeit. Die Belastungsdimension durch das Trauma ist von extremer Intensität und führt zu einem Gefühl von existenzieller Bedrohung mit Todesnähe. Nurettin P***** erlebte sich in der Türkei als hilflos einem System ausgeliefert, das alle seine Werte korrumpierte. Die Ereignisse haben seine Adaptationsfähigkeiten überflutet und ausgeschaltet, sein Selbst- und Weltbild wurde unwiderruflich zerstört. Es ist anzunehmen, dass die chronischen existenziellen Traumaerlebnisse bereits zu psychovegetativen und hirnorganischen Strukturveränderungen und somit zu permanenten biologischen Defiziten geführt haben. Er leidet an angstbesessenen Traumaerinnerungen, die ihn zu (para-)suizidalen Handlungen leiten. Er bietet Vermeidungsverhalten, Arousal-Reaktionen, gleichzeitig emotionale Starre, Impuls- und Affektkontrollstörungen mit situationsinadäquaten Angstreaktionen, vegetative Reaktionen bei Traumaerinnerung, somatische Beschwerden, Dissoziation und psychotische Anteile.

Grundsätzlich hängt die Verarbeitung eines traumatischen Ereignisses von den individuellen Coping-Strategien und psychosozialen Unterstützungsressourcen ab. Zur Vermeidung von Chronifizierung gehört unter anderem auch, den Verursacher des Traumas zur Rechenschaft zu ziehen, um das Bedürfnis nach Gerechtigkeit wieder herzustellen, was dem Opfer ermöglicht, aus seiner Opferrolle auszusteigen. Dies dürfte im Fall des Nurettin P***** nicht möglich sein.

Die psychiatrische Sachverständige empfiehlt daher bei Nurettin P***** eine psychiatrische Behandlung mit medikamentöser Einstellung bei gleichzeitiger Traumatherapie.

Die den Betroffenen im ersuchenden Staat erwartenden Haftbedingungen stellen grundsätzlich nur dann einen Hinderungsgrund für die Auslieferung dar, wenn die Umstände der Haft ein mit Art 3 EMRK unvereinbares Maß erreichen. Haftbedingungen können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bedeuten, auch wenn sie nicht darauf abzielen, den Gefangenen zu demütigen oder zu erniedrigen. Sie verletzen Art 3 EMRK, wenn sie erhebliches psychisches oder physisches Leid verursachen, die Menschenwürde beeinträchtigen oder Gefühle von Demütigung und Erniedrigung erwecken. Insbesondere darf die Haft nicht zu einer wesentlichen dauerhaften Beeinträchtigung der Gesundheit führen. Das Fehlen oder die Verweigerung einer angemessenen medizinischen Betreuung kann eine Verletzung von Art 3 darstellen (Göth-Flemmich aaO Rz 11; 11 Os 46/08m).

Bei der Prüfung, ob ein konkretes Risiko besteht, dass die betroffene Person im ersuchenden Staat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt ist, ist auf objektive, verlässliche Informationsquellen zurückzugreifen. Eine wichtige Informationsquelle zu den Haftbedingungen in den Mitgliedsstaaten des Europarates stellen die Berichte des Europäischen Ausschusses zur Verhütung der Folter (CPT) dar, die auf der Grundlage von Besuchen in Haftanstalten vor Ort verfasst werden (Göth-Flemmich aaO Rz 12).

Dem aktuellen Bericht des CPT anlässlich des Besuches von 4. bis 17. Juni 2009 ist im Kapitel 6. Health Care unter Pkt. 121 ff zu entnehmen, dass es in türkischen Gefängnissen keine angemessene Behandlung psychisch kranker Insassen gibt.

Mit Blick auf die schwere psychische Erkrankung des Nurettin P*****, die einer gezielten psychiatrischen Behandlung bedarf, ist daher davon auszugehen, dass im Falle seiner Auslieferung an die Türkei ein ihn im Speziellen treffendes konkretes Gefährdungspotenzial vorläge (13 Os 150/07v).

Die Beschwerde musste daher erfolglos bleiben.

Rechtssätze
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