JudikaturJustiz10ObS8/24k

10ObS8/24k – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. April 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Antonia Oberwalder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D*, vertreten durch Dr. Alexander Hiersche, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Ausgleichszulage, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 15. September 2022, GZ 10 Rs 22/22m 62, womit das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 1. Februar 2022, GZ 25 Cgs 60/20a 56, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Der Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger. Er ist mit einer rumänischen Staatsangehörigen verheiratet und hat einen minderjährigen Sohn. Der Kläger ist mit seiner Ehegattin im Sommer 2017 gemeinsam nach Österreich gekommen, wo er seit 8. 8. 2017 dauerhaft lebt. Er bezieht seit über zehn Jahren eine rumänische Pension (in der Höhe von monatlich netto 223 RON ab 1. 1. 2018 und 245 RON seit 1. 7. 2018).

[2] Die Ehegattin des Klägers war vom 3. 7. 2017 bis 2. 4. 2020 in Österreich unselbständig erwerbstätig und verdiente zwischen 1.200 EUR und 1.500 EUR netto. Sie war sodann bis 13. 7. 2020 arbeitslos (ohne Bezug), arbeitete vom 14. 7. 2020 bis 1. 10. 2020 wiederum als Reinigungskraft bei ähnlicher Entlohnung und bezog vom 13. 11. 2020 bis 20. 12. 2020 Arbeitslosengeld. Vom 17. 12. 2020 bis 1. 4. 2021 war sie geringfügig beschäftigt. Seit 1. 7. 2021 arbeitet sie wieder bei ihrem ersten Arbeitgeber.

[3] Der Kläger bewohnte zunächst mit seiner Ehegattin und dem Sohn eine Mietwohnung, die Ehegattin bezahlte die Miete von monatlich rund 420 EUR. Seit Herbst 2020 lebt das Ehepaar getrennt, ein Scheidungsverfahren ist anhängig, aber nicht abgeschlossen. Seit 25. 10. 2021 wohnt der Kläger in einer anderen Mietwohnung. Zuletzt war der Kläger arbeitssuchend. Er bezieht bedarfsorientierte Mindestsicherung.

[4] Mit Bescheid vom 28. 4. 2020 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 6. 12. 2017 auf Zuerkennung einer Ausgleichszulage zu seiner Pension ab.

[5] Der Kläger begehrt mit seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Klage die Zuerkennung einer Ausgleichszulage im gesetzlichen Ausmaß. Die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts sei in dem Umstand begründet, dass seine Ehe aufrecht bestehe und seine Ehegattin unselbständig erwerbstätig sei.

[6] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass der wirtschaftlich nicht aktive Kläger nicht über ausreichende Existenzmittel und daher nicht über einen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich verfüge. Ein allfälliges Aufenthaltsrecht als Ehepartner seiner erwerbstätigen Ehegattin vermittle keinen Anspruch auf Ausgleichszulage. Die Inanspruchnahme der Ausgleichszulage durch den Kläger sei im Verhältnis zur Höhe seiner rumänischen Pension unangemessen.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auch im zweiten Rechtsgang ab. Betrachte man die Familie als Gesamtes, genüge das Familieneinkommen – selbst wenn man es nur bis zum Zeitpunkt der Trennung der Ehegatten betrachte – insgesamt nicht, um ohne Sozialhilfeleistungen in Österreich das Auslangen finden zu können. Mangels ausreichender Existenzmittel fehle dem Kläger daher ein rechtmäßiger Aufenthalt im Inland als Anspruchsvoraussetzung.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es vertrat die Rechtsansicht, dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht in jedem Fall einen uneingeschränkten Zugang des Ehegatten eines Wanderarbeitnehmers zu den Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats garantiere. Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls sei ein Aufenthaltsrecht des Klägers als Ehegatte mit einem Anspruch auf Ausgleichszulage zu verneinen, weil dies eine rechtsmissbräuchlich eklatant unangemessene Inanspruchnahme österreichischer Sozialhilfeleistungen bedeuten würde. Die Revision sei zulässig, weil die Frage, ob für den Zugang des Ehegatten eines wirtschaftlich aktiven Unionsbürgers zu Sozialhilfeleistungen die Prüfung einer Unangemessenheit stattzufinden habe, in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehe.

[9] Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers, mit der er die Stattgebung der Klage anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist auch im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[11] 1.1 Der Kläger macht in seiner Revision zusammengefasst geltend, dass ihm gemäß Art 2 Z 2 lit a iVm Art 7 Abs 1 lit d Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (in Folge: RL 2004/38/EG) als Ehegatte ein Aufenthaltsrecht ohne die weitere Voraussetzung der Unterhaltsgewährung zukomme. Müsste der erwerbstätige Unionsbürger engste Angehörige aus wirtschaftlichen Gründen im Heimatstaat zurücklassen, wäre dies ein beträchtliches Hemmnis für die Mobilität der Unionsbürger.

Dem kommt Berechtigung zu:

[12] 2.1 Gemäß § 292 Abs 1 ASVG hat der Pensionsberechtigte Anspruch auf Ausgleichszulage, solange er seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat. Durch das Abstellen auf den „rechtmäßigen Aufenthalt“ soll ein Gleichklang der Ausgleichszulagenregelung mit dem europäischen und österreichischen Aufenthaltsrecht hergestellt werden (10 ObS 159/20k ua). Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht im Rahmen der Beurteilung des Anspruchs eines EWR Bürgers auf Ausgleichszulage selbständig zu prüfen, ob die für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts in Österreich notwendigen Voraussetzungen vorliegen (10 ObS 110/20d Rz 33 ua; RS0129251 [T1]).

[13] 2.2 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat ausgesprochen, dass die Einstufung einer Leistung (wie der österreichischen Ausgleichszulage) als „beitragsunabhängige Sonderleistung“ im Sinn des Art 70 Abs 2 lit c der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: VO (EG) 883/2004) nicht ausschließt, dass die Leistung gleichzeitig auch unter den Begriff der Sozialhilfeleistungen im Sinn der RL 2004/38/EG fallen kann. Die RL 2004/38/EG erlaubt es dem Aufnahmemitgliedstaat, wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Diese Möglichkeit zur Einschränkung gilt auch für die österreichische Ausgleichszulage (10 ObS 53/21y Rz 16 mzwH).

[14] 3.1 Das Niederlassungs und Aufenthaltsgesetz (BGBl I 2005/100, NAG) unterscheidet rechtsbegründende (konstitutive) Aufenthaltstitel für Fremde, die sich länger als sechs Monate im Bundesgebiet aufhalten oder aufhalten wollen (vgl die Aufzählung in § 8 NAG) von der lediglich deklaratorischen Dokumentation bereits bestehender unionsrechtlicher Aufenthalts und Niederlassungsrechte (so genannte Freizügigkeitssachverhalte, vgl § 9 NAG; 10 ObS 53/21y Rz 30 mwH). Der Kläger beruft sich im Verfahren nicht auf einen konstitutiven Aufenthaltstitel nach § 8 NAG.

[15] 3.2 Nach Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38/EG (bzw § 51 Abs 1 Z 2 NAG) steht das Recht auf Aufenthalt wirtschaftlich nicht aktiven Personen zu, die sich länger als drei Monate (aber nicht mehr als fünf Jahre) im Aufenthaltsmitgliedstaat aufhalten und die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38/EG erfüllen, dh über ausreichende Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (RS0130764). Nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38/EG steht dem Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zur Ausgleichszulage nach Art 24 Abs 1 RL 2004/38/EG eine Gleichbehandlung mit Inländern zu (10 ObS 11/23z Rz 19 mwH). Auf ein solches originäres unionsrechtliches Aufenthaltsrecht beruft sich der Kläger im vorliegenden Verfahren nicht.

[16] 3.3 Der Kläger beruft sich vielmehr auf ein von seiner Ehegattin abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nach § 52 Abs 1 Z 1 NAG. Auch das Aufenthalts und Niederlassungsrecht nach dieser Bestimmung ergibt sich nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrecht (10 ObS 11/23z Rz 17).

[17] 3.4 Der Kläger ist als Ehegatte einer Unionsbürgerin ein Familienangehöriger im Sinn des Art 2 Z 2 lit a RL 2004/38/EG. Als Familienangehöriger im Sinn dieser Bestimmung ist der Kläger Berechtigter im Sinn des Art 3 Abs 1 RL 2004/38/EG, sodass die Richtlinie für ihn gilt. Sie räumt ihm also bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat ein als dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

[18] 3.5 Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Ehegattin des Klägers in den festgestellten Zeiten in Österreich als Arbeitnehmerin (Art 7 Abs 1 lit a RL 2004/38/EG; § 51 Abs 1 Z 1 NAG) oder – gleichgestellt im Sinn des Art 7 Abs 3 lit b RL 2004/38/EG – als arbeitslos gemeldet (§ 51 Abs 2 Z 2 NAG) über ein originäres unionsrechtliches Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate verfügte. Diese Rechtsansicht wird von der Beklagten in der Revisionsbeantwortung auch nicht in Frage gestellt.

[19] 3.6 Ausgehend davon kommt dem Kläger als Familienangehörigem einer Unionsbürgerin, die die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit a RL 2004/38/EG erfüllt, ein abgeleitetes unionsrechtliches Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate gemäß Art 7 Abs 1 lit d RL 2004/38/EG zu. Der Kläger weist zutreffend darauf hin, dass seine Stellung als Familienangehöriger im Sinn des Art 2 Z 2 lit a RL 2004/38/EG als Ehegatte von keinen weiteren Voraussetzungen – insbesondere nicht von der Gewährung von Unterhalt (vgl Art 2 Z 2 lit c und d RL 2004/38/EG) – abhängt.

[20] 4.1 Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 16. 5. 2023, 10 ObS 139/22x, dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) folgende (hier gekürzt wiedergegebene) Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

[21] „Ist Art 7 der [RL 2004/38/EG] dahin auszulegen, dass ein wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger keinen Anspruch auf eine Sozialhilfeleistung im Sinn der Unionsbürger RL hat, wenn er sich im Aufnahmemitgliedstaat länger als drei Monate, aber kürzer als fünf Jahre aufhält und sein Aufenthaltsrecht nur aus seiner Eigenschaft als Ehegatte […] einer im Aufnahmestaat unselbständig beschäftigten Unionsbürgerin (Wanderarbeitnehmerin) ableitet […], aber selbst nicht über ein originäres Aufenthaltsrecht nach Art 7 Abs 1 Buchstabe a, b oder c Unionsbürger RL verfügt?“

[22] 4.2 Seine Bedenken formulierte der Oberste Gerichtshof zusammengefasst dahin, dass fraglich sei, ob Personen ganz allgemein bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen sollen. Die RL 2004/38/EG verfolge nur zweitrangig das Ziel des Schutzes des Familienlebens des Unionsbürgers und der Integration seiner Familie im Aufnahmestaat. Nach dem primären Ziel dieser Richtlinie müsste sich eigentlich auch der Kläger als nichterwerbstätiger Unionsbürger auf ein originäres Aufenthaltsrecht gemäß Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38/EG stützen, das im vorliegenden Fall am unstrittigen Fehlen ausreichender Existenzmittel des Klägers scheitern würde. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, ob sich der Kläger in einer solchen Situation auf ein von seiner Ehegattin bloß abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger stützen könne, womit er einer Person gleichgestellt wäre, die bereits ein Recht auf Daueraufenthalt erworben habe.

[23] 4.3 Der EuGH entschied mit Urteil vom 21. 12. 2023 (Große Kammer) in der Rs C 488/21, GV , ECLI:EU:C:2023:1013, die auch hier zu beantwortenden Rechtsfragen der Auslegung des Unionsrechts. Infolge dieser Entscheidung zog der Oberste Gerichtshof sein Ersuchen um Vorabentscheidung mit Beschluss vom 16. 1. 2024, 10 ObS 139/22x, zurück.

[24] 4.4 In C 488/21 war folgender wesentlicher Sachverhalt zu beurteilen: Die rumänische Staatsangehörige AC wohnt und arbeitet in Irland. Ihre Mutter (GV) ist ebenfalls rumänische Staatsangehörige. Die Mutter war finanziell von der Tochter abhängig, die ihr regelmäßig Geld schickte. Seit 2017 wohnt die Mutter mit ihrer Tochter in Irland. Am 28. 9. 2017 stellte die Mutter wegen der Verschlechterung ihres Gesundheitszustands einen Antrag nach dem irischen „Act 2005“ auf Gewährung von Invaliditätsbeihilfe. Bei dieser Leistung handelt es sich um eine Sozialhilfeleistung, die gezahlt wird, ohne dass der Betreffende Sozialversicherungsbeiträge entrichtet haben muss. Das irische Recht schließt die Zahlung dieser Beihilfe an eine Person aus, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Irland hat, wie dies bei einer Person ohne Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat der Fall ist. Bei der Invaliditätsbeihilfe handelt es sich um eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung im Sinn der VO (EG) 883/2004.

[25] 4.5 Der EuGH erkannte zu Recht: Der in Art 7 Abs 2 der Verordnung (EU) Nr 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (in der Folge: VO 492/2011) konkretisierte Art 45 AEUV iVm Art 2 Z 2 lit d, Art 7 Abs 1 lit a und d sowie Art 14 Abs 2 RL 2004/38/EG ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es den Behörden dieses Mitgliedstaats erlaubt, einem Verwandten in gerader aufsteigender Linie, dem zum Zeitpunkt der Beantragung dieser Leistung von einem Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft Unterhalt gewährt wird, eine Sozialhilfeleistung zu versagen oder sogar das Recht, sich für mehr als drei Monate in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten, zu entziehen, weil die Gewährung der Sozialhilfeleistung dazu führen würde, dass er keinen Unterhalt mehr von diesem Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft beziehen und damit die Sozialhilfeleistungen dieses Staats unangemessen in Anspruch nehmen würde.

[26] 4.6 Begründend führte der EuGH aus, dass nach Art 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) Abs 2 Unterabs 1 RL 2004/38/EG Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach ua Art 7 RL 2004/38/EG zusteht, solange sie die in Art 7 genannten Voraussetzungen erfüllen (Rn 59). Nach den konkreten Umständen des Falls erfülle die Mutter zum Zeitpunkt der Antragstellung die Voraussetzung für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG als „Familienangehörige“ (Rn 62). Ein Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft genieße das Recht auf Gleichbehandlung nach Art 45 Abs 2 AEUV in seiner Konkretisierung durch Art 7 Abs 2 VO 492/2011 (Rn 63). Eine Sozialhilfeleistung wie die irische Invaliditätsbeihilfe sei eine „soziale Vergünstigung“ im Sinn des Art 7 Abs 2 VO 492/2011, dies auch dann, wenn der Wanderarbeitnehmer einem Verwandten in gerader aufsteigender Linie Unterhalt gewährt (Rn 64 ff). Ein Wanderarbeitnehmer wäre in seinem Recht auf Gleichbehandlung verletzt, wenn er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und einem Verwandten in gerader aufsteigender Linie Unterhalt gewährt, diesem aber eine Sozialhilfeleistung, die für den Wanderarbeitnehmer eine „soziale Vergünstigung“ darstellt, versagt worden ist, während Verwandte in gerader aufsteigender Linie von Arbeitnehmern des Aufnahmemitgliedstaats Anspruch darauf haben (Rn 67). Art 7 Abs 2 VO 492/2011 schütze vor Diskriminierungen, denen der Wanderarbeitnehmer und seine Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat ausgesetzt sein könnten (Rn 68). Die Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie, dem im Sinn von Art 2 Z 2 lit d RL 2004/38/EG „Unterhalt gewährt“ werde, werde durch die Gewährung einer Sozialhilfeleistung im Aufnahmemitgliedstaat nicht berührt (Rn 69). Das Ziel, eine übermäßige finanzielle Belastung für den Aufnahmemitgliedstaat zu vermeiden, könne eine Ungleichbehandlung von Wanderarbeitnehmern und inländischen Arbeitnehmern nicht rechtfertigen, weil ein Wanderarbeitnehmer mit den Abgaben, die er an den Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen seiner dort ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichte, zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Mitgliedstaats beitrage und daher davon unter den gleichen Bedingungen profitieren müsse wie die inländischen Arbeitnehmer (Rn 71).

[27] 5. Damit kommt im vorliegenden Fall dem Argument der Beklagten in der Revisionsbeantwortung, die Leistung einer Ausgleichszulage stelle eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats dar, was mit dem Ziel der RL 2004/38/EG, die finanzielle Inanspruchnahme der Mitgliedstaaten in Grenzen zu halten, unvereinbar sei, keine Berechtigung zu. Der Kläger kann sich auf seine Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinn des Art 2 Z 2 lit a RL 2004/38/EG zur Begründung eines abgeleiteten unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts in Österreich berufen. Dieses Aufenthaltsrecht begründet im konkreten Fall auch einen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinn des § 292 Abs 1 ASVG, weil sich aus der Entscheidung des EuGH C 488/21 ergibt, dass die Eigenschaft des Klägers als Familienangehöriger (Ehegatte) einer Wanderarbeitnehmerin durch die Gewährung einer Ausgleichszulage nicht berührt wird. Verwehrte man dem Kläger diese Leistung, hätte dies eine Diskriminierung der Ehegattin des Klägers als Wanderarbeitnehmerin im Sinn des Art 7 Abs 2 VO 492/2011 aus den vom EuGH dargelegten Gründen zur Folge. Der Vollständigkeit halber ist zu ergänzen, dass es auf eine Beurteilung des „gesamten“ Familieneinkommens im vorliegenden Fall nicht ankommt: Das Vorhandensein „ausreichender Existenzmittel“ spielt nur für die Bejahung des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach Art 7 Abs 1 lit b RL 2004/38/EG eine Rolle. Das originäre unionsrechtliche Aufenthaltsrecht der Ehegattin des Klägers als Wanderarbeitnehmerin hat jedoch seine Grundlage in Art 7 Abs 1 lit a RL 2004/38/EG.

[28] 6. Der Kläger erfüllt aus diesen Gründen als Familienangehöriger (Ehegatte) die Voraussetzung eines rechtmäßigen Aufenthalts im Inland im Sinn des § 292 Abs 1 ASVG. Da die Ehe des Klägers zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz (noch) aufrecht bestand, erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig, weil Feststellungen zu Ausmaß und Höhe des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Ausgleichszulage bisher nicht getroffen wurden.

[29] Es war daher der Revision Folge zu geben und die Rechtssache zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[30] Der Kostenvorbehalt beruht auf den § 2 ASGG, § 52 ZPO.

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