JudikaturJustiz10ObS78/22a

10ObS78/22a – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. Juni 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Birgit Riegler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. M*, MSc (WU), LL.M., *, vertreten durch Mag. Michael Ibesich, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, wegen Kostenübernahme, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 26. April 2022, GZ 8 Rs 32/22t 29, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Die Vorinstanzen wiesen das Begehren des 1992 geborenen Klägers auf Übernahme der Kosten für bestimmte Präparate und Maßnahmen zur Behandlung des bei ihm diagnostizierten androgenetischen Haarausfalls mit der Begründung ab, dass keine behandlungsbedürftige Krankheit vorliegt.

Rechtliche Beurteilung

[2] Die dagegen gerichtete außerordentliche Revision des Klägers ist nicht zulässig.

[3] 1. Dem Kläger ist darin zuzustimmen, dass es sich bei dem androgenetischen Haarausfall insofern um einen regelwidrigen Körperzustand handeln kann, der den sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff erfüllt, als dieser vorzeitig (und nicht erst im fortschreitenden Alter) zu einem (dauerhaften) Haarverlust führt (vgl 10 ObS 160/06m SSV NF 21/12 zum strahlungsbedingten Haarverlust). Wird ein regelwidriger Körperzustand bejaht, kommt es auf die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob die Verneinung eines solchen Zustands bei altersbedingtem männlichen Haarausfall eine geschlechtsspezifische Diskriminierung darstellt, nicht entscheidend an. Selbst wenn man mit dem Kläger das Vorliegen eines regelwidrigen Körperzustands bejaht, folgt daraus aber nicht die Berechtigung des vom Kläger begehrten Anspruchs auf Kostenübernahme.

[4] 2. Das Fehlen der Kopfbehaarung des Mannes ist in erster Linie ein störender optischer Zustand (10 ObS 160/06m SSV NF 21/12). Kosmetische Behandlungen gelten (nur) als Krankenbehandlung, wenn sie der Beseitigung anatomischer oder funktioneller Krankheitszustände dienen (§ 133 Abs 3 ASVG). Solche Krankheitszustände nimmt die Rechtsprechung etwa bei entstellendem Aussehen (10 ObS 160/06m SSV NF 21/12) oder bei Behinderung einer Körperfunktion (3 Ob 175/13a [Nasenatmung]; 8 Ob 32/85 [Lidschluss]) an.

[5] 2.1. Das Fehlen von Kopfhaar kann zu einem optischen Defizit führen, das Betroffene subjektiv als störend empfinden, wird aber im Allgemeinen nicht als entstellend beurteilt (vgl 10 ObS 160/06m SSV NF 21/12). Dass der Haarverlust beim Kläger zu einem entstellenden Aussehen führen wird, behauptet er in der Revision auch nicht.

[6] 2.2. Der in der Revision behauptete Schutz des Kopfs vor Sonneneinstrahlung und Kälte mag eine Funktion des Kopfhaars sein, die durch sein Fehlen beeinträchtigt wird. Diese Beeinträchtigung bedarf aber keiner ärztlichen Hilfe.

[7] 2.2.1. Die in § 120 Abs 1 Z 1 ASVG normierte Voraussetzung der Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit ist dann erfüllt, wenn der regelwidrige Zustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, zumindest aber gebessert oder vor einer Verschlimmerung bewahrt werden kann oder wenn die ärztliche Behandlung erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern (RIS Justiz RS0117777 [T1]). Notwendig ist in diesem Sinn jede Maßnahme, die zur Erreichung des Zwecks unentbehrlich oder unvermeidlich ist (10 ObS 55/21t; 10 ObS 135/14x SSV NF 28/73).

[8] 2.2.2. Nach den Feststellungen kann ein hinreichender Schutz des Kopfes gegen Belastung mit Sonnenstrahlen durch einfache Maßnahmen gewährleistet werden, insbesondere das Tragen einer geeigneten Kopfbedeckung, die auch Schutz gegen Kälte bietet. Die vom Kläger gewünschte Behandlung ist zur Erreichung dieses Zwecks also nicht unentbehrlich oder unvermeidlich. Die Beurteilung der Vorinstanzen, die die Notwendigkeit der geforderten Behandlung verneinten, hält sich somit im Rahmen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung.

[9] 2.2.3. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang darauf abstellt, dass es im Zeitpunkt der Behandlung bloß vertretbar sein müsse, sie als medizinisch notwendig anzusehen, bezieht sich dieses Kalkül nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auf die Frage, ob bei bloßem Krankheitsverdacht eine Kostenübernahme zu erfolgen hat, wenn sich nachträglich herausstellt, dass eine Krankheit nicht vorliegt (RS0127741). Auch der Verdacht, der nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft vertretbar zu sein hat, muss sich allerdings auf eine Krankheit beziehen, die (unter der Annahme der Richtigkeit des Verdachts) alle sonstigen Voraussetzungen für eine Krankenbehandlung erfüllt. Auch die Kosten der Behandlung einer in dem Sinn (nur) vertretbar vermuteten Krankheit sind nicht von der Versichertengemeinschaft zu tragen, wenn die Maßnahme zur Erreichung des Zwecks nicht unentbehrlich oder unvermeidlich ist. Eine unrichtige Beurteilung der Vorinstanzen zeigt die Revision somit auch insofern nicht auf.

[10] 3.1. Der Kläger führt zutreffend aus, dass eine psychische Folgeerkrankung eine Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn darstellen und eine Kostenübernahme für ihre notwendige Behandlung rechtfertigen kann (10 ObS 160/06m SSV NF 21/12). Die bloße Möglichkeit des Umschlagens einer psychischen Belastung in eine psychische Störung mit Krankheitswert ist aber keine Krankheit iSd § 120 Abs 1 Z 1 ASVG und daher auch kein entsprechender Versicherungsfall (RS0110227). Die Rechtsprechung verlangt vielmehr eine hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer psychischen Krankheit und der Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung (RS0110227 [T2]).

[11] 3.2. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Soweit der Kläger im Rechtsmittel ausführt, dass die von ihm gewünschte Behandlung geeignet sei, psychische Erkrankungen präventiv zu verhindern und bei Abbruch der Behandlung das Risiko bestünde, dass ernsthafte gesundheitliche Probleme auftreten, geht er nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, nach dem das Unterbleiben einer Versorgung des Klägers mit den von ihm begehrten Präparaten und Maßnahmen oder eine Verschlechterung des bei ihm bestehenden androgenetischen Haarausfalls nicht kausal zum Eintritt eines regelwidrigen Geisteszustands führen werden, der eine Krankenbehandlung erforderlich machen würde. Auf die vom Kläger geortete Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung zur Beurteilung von (eingetretenen) psychischen Folgeerkrankungen, kommt es im vorliegenden Fall nicht an.

[12] 4. Da die außerordentliche Revision keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, ist sie zurückzuweisen.

Rechtssätze
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