JudikaturJustiz10ObS224/02t

10ObS224/02t – OGH Entscheidung

Entscheidung
02. September 2003

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Jörg Krainhöfner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing. Franz J***** vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1110 Wien, Wienerbergstraße 15-19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kostenerstattung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. April 2002, GZ 8 Rs 37/02y-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 26. November 2001, GZ 30 Cgs 124/01x-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen. Die beklagte Partei hat die Kosten der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger ist bei der beklagten Partei krankenversichert. Seine am 14. 3. 1984 geborene Tochter Veronika ist seit Geburt taub. Auf der rechten Seite wurde ihr ein Cochlearimplantat eingesetzt. Am 14. 3. 2001 verordnete ein Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten der Tochter des Klägers eine Funkmikrofonanlage. Diese ist ein telemetrisches Gerät, das dazu dient, beispielsweise den Vortrag eines Lehrers über ein Mikrofon direkt in die elektronische Hörhilfe eines Cochlearimplantates zu übertragen. Dadurch werden die Kommunikationsmöglichkeiten entscheidend verbessert, weil es möglich ist, durch die Mikrofonanlage störende Umweltgeräusche herauszufiltern und somit die gewünschte Vortragssprache besser zu übertragen. Die Verwendung einer Funkmikrofonanlage ist äußerst sinnvoll und notwendig. Dies zeigt sich auch am Studienerfolg der Tochter des Klägers. Der Einsatz einer Funkmikrofonanlage ist im Rahmen aller Veranstaltungen möglich, die über eine entsprechende Einrichtung verfügen. Der Einsatz eines Logopäden ist prinzipiell möglich, jedoch zeitaufwändiger, unpraktikabel und kostenintensiver. Manche Patienten benötigen mit einem Cochlearimplantat eine geringe Unterstützung, andere auch Unterstützung durch Gebärdensprache. Der Logopäde ist insbesondere am Beginn nach dem Einsetzen eines Cochlearimplantates sehr wichtig, weil das ein längerer mühsamer Prozess ist und man das Implantat nicht einfach bekommt und dann gut damit hört. Der Patient erreicht mit Hilfe eines Cochlearimplantates einen bestimmten Grad an Verständnis, im besten Fall braucht er dabei keine Unterstützung und kann normal kommunizieren, im schlechtesten Fall kann er bloß Umweltgeräusche differenzieren. Viel zu hören bedeutet bei gehörgeschädigten Patienten nicht, dass auch alles verstanden wird. Es geht um das Herausfiltern von Störeinflüssen. Damit ermöglicht die gegenständliche Anlage ein besseres Verstehen durch den Patienten. Die Funkmikrofonanlage kann auch etwa auf Schulskikursen zur Warnung der Tochter des Klägers vor Gefahren oder auch zu Hause eingesetzt werden, um die Tochter aus einem weiter entfernten Raum zu rufen. Bei entsprechenden technischen Adaptionen ist es möglich, die Funkmikrofonanlage direkt an ein Fernsehgerät anzuschließen.

Der Kläger erwarb die Funkmikrofonanlage um 35.714,40 S. Er bezieht für seine Tochter eine erhöhte Familienbeihilfe. Mit Bescheid vom 1. 6. 2001 lehnte die beklagte Gebietskrankenkasse den Antrag des Klägers auf Kostenerstattung ab.

Der gegen diesen Bescheid erhobenen, auf Zahlung von 35.714,40 S gerichteten Klage gab das Erstgericht mit einem Teilbetrag von 5.287,20 S (= 384,24 EUR) statt. Das Mehrbegehren wies es ab. Rechtlich führte es aus, die Funkmikrofonanlage sei ein Hilfsmittel im Sinn des § 154 ASVG. Dessen Kosten habe die beklagte Partei gemäß § 41 ihrer Satzung in Höhe des Dreifachen des Messbetrags (§ 108b ASVG) zu erstatten. Da der Kläger für seine Tochter die erhöhte Familienbeihilfe beziehe, habe die beklagte Partei satzungsgemäß auch den Anteil des (versicherten) Angehörigen zu tragen. Die Differenz zwischen dem satzungsmäßigen Höchstbetrag und den konkreten Kosten des Hilfsmittels belaste hingegen den Kläger.

Das Berufungsgericht bestätigte über Berufung des Klägers diese Entscheidung, weil es die Rechtsansicht des Erstgerichts billigte. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Der Kläger macht in seiner Revision geltend, bei der Funkmikrofonanlage handle es sich nicht um ein "eigenständiges" Hilfsmittel, weil sie als ergänzendes Gerät zur Erhöhung der Wirkung des Implantats diene, sodass die beklagte Partei die Kosten des Geräts wie die Kosten des Implantats selbst zur Gänze zu tragen habe. Die von der beklagten Partei beantwortete Revision ist zwar zulässig, aber nicht berechtigt.

Nach § 120 Abs 1 Z 1 ASVG gilt der Versicherungsfall der Krankheit mit dem Beginn der Krankheit, das ist des regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands, der eine Krankenbehandlung notwendig macht, als eingetreten. Gemäß § 133 Abs 1 ASVG umfasst die Krankenbehandlung ärztliche Hilfe, Heilmittel und Heilbehelfe. Nach Abs 2 dieser Gesetzesstelle muss die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wieder hergestellt, gefestigt oder gebessert werden. Die Leistungen der Krankenbehandlung werden, soweit im ASVG nichts anderes bestimmt wird, als Sachleistungen erbracht.

Eine notwendige Krankenbehandlung muss daher nicht die endgültige vollständige Heilung des Patienten zum Ziel haben; es genügt vielmehr, wenn sie die Besserung des Leidens oder die Verhütung von Verschlimmerungen bezweckt (SSV-NF 10/95 mwN ua; RIS-Justiz RS0106403; RS0106245; Binder in Tomandl, SV-System 15. ErgLfg 202 mwN). Die Krankenversicherungsträger haben allerdings für Dauerleiden nur solange einzutreten, als deren Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Fehlt infolge der abgeschlossenen Entwicklung des Leidens die Möglichkeit ärztlicher Einflussnahme im Sinn einer Heilung, Besserung oder Verhütung von Verschlimmerungen, ist die Regelwidrigkeit dem Gebrechen zuzuordnen. Der Krankheitsbegriff (§ 120 ASVG) und der Gebrechensbegriff (§ 154 ASVG) schließen einander aus (Binder aaO 202)

Im Falle des Vorliegens einer Krankheit sind Heilbehelfe (Brillen, orthopädische Schuheinlagen, Bruchbänder und sonstige notwendige Heilbehelfe) dem Versicherten nach § 137 Abs 1 ASVG in einfacher und zweckentsprechender Ausführung zu gewähren. Billige Heilbehelfe werden nicht vergütet (Abs 2). Für teurere Heilbehelfe übernimmt der Krankenversicherungsträger die Kosten, allerdings nur bis zu einer durch die Satzung festzulegenden Höchstgrenze; auch innerhalb dieser Höchstgrenze hat der Versicherte einen Selbstbehalt von 10 % zu tragen, sofern nicht eine im Gesetz normierte Ausnahme zum Tragen kommt (Abs 3, 4 und 5).

Liegt keine Krankheit, sondern eine Verstümmelung, Verunstaltung oder ein körperliches Gebrechen vor, welches die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit oder die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, wesentlich beeinträchtigt, kann gemäß § 154 Abs 1 ASVG die Satzung des Krankenversicherungsträgers Zuschüsse für die Anschaffung der notwendigen Hilfsmittel sowie für deren Instandsetzung vorsehen, soweit nicht aufgrund anderweitiger gesetzlicher Bestimmungen (etwa im Rahmen der medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation aus der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 154a Abs 2 Z 2 ASVG oder aus der gesetzlichen Pensionsversicherung nach § 302 Abs 1 Z 2 ASVG) eine diesbezügliche Leistungsverpflichtung besteht (Subsidiaritätsprinzip). Hilfsmittel sind Gegenstände oder Vorrichtungen, die geeignet sind, die Funktion fehlender oder unzulänglicher Körperteile zu übernehmen, die mit einer Verstümmelung, Verunstaltung oder einem Gebrechen verbundene körperliche oder psychische Beeinträchtigung zu mildern oder zu beseitigen. Bei Festsetzung der Höhe der Zuschüsse gilt die für Heilbehelfe maßgebende Kostenbeteiligungsregelung sinngemäß. Es ist daher auch der dort vorgesehene Höchstbetrag anzuwenden. Der Begriff "Heilbehelf" ist im Gesetz nicht definiert. Die Auslegung des Begriffes "Behelf" hat sich am Sprachgebrauch und an den gesetzlichen Beispielen zu orientieren. Nach herrschender Rechtsprechung und Lehre ist § 137 Abs 1 ASVG dahin auszulegen, dass unter "Heilbehelf" nur solche Behelfe zu verstehen sind, die der Heilung, Linderung oder Verhütung von Verschlimmerungen der Krankheit dienen, während "Hilfsmittel" erst nach Abschluss des Heilungsprozesses zum Einsatz gelangen (SZ 73/290 = SSV-NF 14/60 = ZAS 2001/13 [Naderhirn]; SSV-NF 12/20 = DRdA 1999/12 [Binder] = ZAS 1999/5 [Risak] mwN ua; RIS-Justiz RS0109536; RS0109537; Binder in Tomandl aaO 230 mwN). Der Oberste Gerichtshof hat daher etwa eine Lennox-Hill-Orthese als Heilbehelf (SSV-NF 4/146, hingegen eine Lesebrille (SSV-NF 10/120) oder ein Hörgerät (SZ 73/92) als Hilfsmittel beurteilt. Ein Hörgerät sei eine Vorrichtung, die geeignet sei, die mit einem Gebrechen (Schwerhörigkeit) verbundene körperliche Beeinträchtigung zu mildern oder zu beseitigen. Im Wesentlichen bildet diese Differenzierung zwischen Heilbehelfen und Hilfsmitteln eine Konsequenz der vom Gesetzgeber vorgenommenen und bereits oben dargestellten Trennung zwischen Krankheit (im sozialversicherungsrechtlichen Sinn) und dem Gebrechen. Es kann daher nach diesem Verständnis ein und derselbe Gegenstand einmal Heilbehelf, ein anderes Mal Hilfsmittel sein. Diese Frage kann nur nach den besonderen konkreten Umständen des Falls beantwortet werden (vgl SSV-NF 12/20).

Im vorliegenden Fall ist die Funkmikrofonanlage als Hilfsmittel einzustufen. Körperliches Gebrechen ist ein medizinisch in seinem Wesen nicht mehr beeinflussbarer, gänzlich oder teilweiser Ausfall normaler Körperfunktionen, wenn dadurch die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit oder die Selbsthilfefähigkeit wesentlich beeinträchtigt wird (vgl SSV-NF 14/90; Binder aaO 264/18). Die Funkmikrofonanlage ist ein Gerät, das geeignet ist, eine nach Einsetzung des Cochlearimplantates und nach allfälliger Sprachtherapie durch einen Logopäden bestehende, medizinisch nicht mehr beeinflussbare Störung des Hörvermögens zu bessern oder zu beseitigen. Insofern ist sie einem Hörapparat vergleichbar. Mit der Einstufung der Funkmikrofonanlage als Hilfsmittel ist sogleich eine Qualifikation als sonstiges Heilmittel im Sinn des § 136 Abs 1 lit b ASVG verneint, weil keine Krankheit mehr, sondern ein Gebrechen vorliegt.

Zu den nach der im vorliegenden Fall anzuwendenden Satzung 1999 der beklagten Partei, Amtliche Verlautbarung Nr 70/1999, SozSi 1999, 650 ff, idF der 1. Änderung, Amtliche Verlautbarung Nr 92/2000 für Hilfsmittel zu gewährenden Kostenzuschuss (§ 41 Abs 1 Z 2 und Abs 4), nämlich dem auf volle Schilling gerundeten Dreifachen des Messbetrags (§ 108b ASVG) - das waren 2001 4.406 S zuzüglich der anteiligen Umsatzsteuer -, wurde die beklagte Partei bereits rechtskräftig verurteilt.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 1 und Z 2 lit b ASGG.