JudikaturJustiz10Bs90/24x

10Bs90/24x – OLG Graz Entscheidung

Entscheidung
03. April 2024

Kopf

Das Oberlandesgericht Graz hat durch die Richter Dr. Sutter (Vorsitz), Mag. a Tröster und Dr. in Steindl-Neumayr in der Übergabesache des A* zur Strafverfolgung an die Republik Ungarn über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 7. März 2024, GZ 22 HR 23/24i (ON 12 der Akten AZ 624 HSt 27/24i der Staatsanwaltschaft Graz), in nichtöffentlicher Sitzung den

BESCHLUSS

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und der Antrag auf bedingte Übergabe des A* im Zeitraum 10. bis 16. April 2024 an die ungarischen Justizbehörden abgewiesen.

Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu.

Text

BEGRÜNDUNG :

Am 15. Februar 2024 ersuchte das ungarische Justizministerium die Staatsanwaltschaft Graz auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls des Zentralen Bezirksgerichts Pest vom 16. Jänner 2024, AZ 3.B.20.722/2020/230, um vorübergehende Übergabe des am ** geborenen ungarischen Staatsangehörigen A* für den Zeitraum von 10. bis 16. April 2024 zum Zweck der Teilnahme des Betroffenen an der Strafverhandlung vor dem Zentralen Bezirksgericht Pest am 12. April 2024 als Angeklagter wegen des Vorwurfs der Erpressung und der widerrechtlichen Freiheitsberaubung (ON 2.1).

Die Staatsanwaltschaft Graz leitete ein Übergabeverfahren gemäß § 16 EU-JZG ein und beantragte (hier relevant) die Bewilligung der Übergabe gemäß § 21 EU-JZG, deren Aufschub gemäß § 25 Abs 1 Z 3 bzw Z 6 EU-JZG bis zur Beendigung der Untersuchungshaft bzw einer nachfolgenden Strafhaft im Verfahren AZ 16 Hv 137/23d des Landesgerichts für Strafsachen Graz sowie die Entscheidung über die bedingte Übergabe gemäß § 26 EU-JZG für den Zeitraum vom 10. bis 16. April 2024 (ON 1.2 und ON 10).

Der Betroffene stimmte einer vereinfachten Übergabe nach § 20 EU-JZG nicht zu und sprach sich gegen die Bewilligung der Übergabe sowie der bedingten Übergabe aus, weil ihm in Ungarn kein faires Verfahren ermöglicht werde und er sich nicht entsprechend auf die Verhandlung im April 2024 vorbereiten könne (ON 10).

Gegen A* ist zum AZ 16 Hv 137/23d des Landesgerichts für Strafsachen Graz ein Strafverfahren anhängig. Er befindet sich im genannten Verfahren in Untersuchungshaft. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 15. Jänner 2024 wurde er im genannten Verfahren (nicht rechtskräftig) des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 5, 129 Abs 2 Z 1, 130 Abs 3 (iVm Abs 1 erster Fall), 12 dritter Fall, 15 StGB schuldig erkannt und hiefür nach § 130 Abs 3 StGB zur Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt, auf die gemäß § 38 Abs 1 Z 1 StGB die Vorhaft von 27. Juli 2023, 11.52 Uhr bis 15. Jänner 2024, 15.00 Uhr angerechnet wurde (ON 7). A* erhob gegen das Urteil die Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung (Einsichtnahme in VJ, ON 10, AS 2).

Mit in der Übergabeverhandlung vom 29. Februar 2024 mündlich verkündetem Beschluss wurde aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Zentralen Bezirksgerichts Pest vom 16. Jänner 2024, AZ 3.B.20.722/2020/230, die Übergabe des A* an die ungarischen Justizbehörden zur Strafverfolgung bewilligt, ausgesprochen, dass mit der Übergabe Spezialitätswirkungen verbunden sind und die Übergabe gemäß § 25 Abs 1 Z 3 bzw Z 6 EU-JZG bis zur Beendigung der Untersuchungshaft bzw einer nachfolgenden Strafhaft im Verfahren AZ 16 Hv 137/23d des Landesgerichts für Strafsachen Graz aufgeschoben (ON 11).

Nach Rechtskraft dieses Beschlusses vom 29. Februar 2024 bewilligte das Erstgericht mit dem angefochtenen Beschluss gemäß § 26 EU-JZG im Hinblick auf das Vorliegen einer schriftlichen Vereinbarung, insbesondere die Zusicherung der Rückstellung bis längstens 16. April 202 und nicht ersichtliche unangemessene Nachteile für den Betroffenen, dessen bedingte Übergabe für den Zeitraum vom 10. April 2024 bis zum 16. April 2024 an die ungarischen Justizbehörden (ON 12).

Dagegen richtet sich die Beschwerde des Betroffenen, in der er unter Hinweis auf die in der Untersuchungshaft bisher nicht mögliche Kontaktaufnahme mit seinem ungarischen Verteidiger unzureichende Vorbereitungsmöglichkeiten auf das äußerst umfangreiche ungarische Verfahren und sich daraus ergebende unangemessene Nachteile im Sinne des § 26 Abs 1 EU-JZG geltend macht und die Unzulässigerklärung der (gemeint: bedingten) Übergabe anstrebt (ON 15).

Rechtliche Beurteilung

Die Beschwerde, zu der sich die Oberstaatsanwaltschaft inhaltlich nicht äußerte, ist im Ergebnis berechtigt.

Die unionsrechtlichen Grundlagen zu aufgeschobener und bedingter Übergabe nach Art 24 des (nicht unmittelbar anwendbaren) Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten 2002/584/JI idF des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 wurden in Österreich in den §§ 25 und 26 EU-JZG umgesetzt (vgl RV 370 der Beilagen XXII. GP, 15).

Die Entscheidung über eine bedingte Übergabe nach § 26 Abs 1 EU-JZG setzt die Bewilligung der Übergabe nach § 20 Abs 2 EU-JZG oder § 21 Abs 1 EU-JZG voraus ( Hinterhofer in WK² EU-JZG § 26 Rz 4). Die (nur) das Verfahren zur Bewilligung der Übergabe betreffenden besonderen Verfahrensbestimmungen nach § 21 Abs 1 EU-JZG iVm § 31 Abs 6 ARHG sind daher im Beschwerdeverfahren gegen die Bewilligung der bedingten Übergabe nach § 26 EU-JZG nicht anzuwenden.

Wurde ein Aufschub der Übergabe nach § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG angeordnet, so kann gemäß § 26 Abs 1 EU-JZG die betroffene Person der ausstellenden Justizbehörde zur Durchführung bestimmter Verfahrenshandlungen in jenem Verfahren vorläufig übergeben werden, für das die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bewilligt wurde, insbesondere zur Hauptverhandlung und Urteilsfällung, wenn die Rückstellung der Person nach Durchführung der Verfahrenshandlungen zugesichert und eine schriftliche Vereinbarung nach Abs 3 leg cit abgeschlossen wird. Die vorläufige Übergabe hat zu unterbleiben, wenn sie unangemessene Nachteile für die betroffene Person zur Folge hätte.

Eine bedingte Übergabe nach § 26 Abs 1 EU-JZG setzt daher voraus, dass ein Aufschub der bewilligten Übergabe nach § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG angeordnet wurde. Der Aufschub der Übergabe muss also deshalb erfolgt sein, weil an der betroffenen Person in Österreich eine von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde verhängte Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsentziehung verbundene vorbeugende Maßnahme zu vollziehen ist ( Hinterhofer in WK2 EU-JZG § 26 Rz 4 und § 25 Rz 13).

Fallbezogen ist das in Österreich gegen den Betroffenen geführte Strafverfahren AZ 16 Hv 137/23d des Landesgerichts für Strafsachen Graz noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. A* befindet sich demnach nach wie vor in Untersuchungshaft und nicht in Strafhaft. Der Aufschub der Übergabe gründet somit aktuell auf § 25 Abs 1 Z 3 EU-JZG, weshalb die ausdrücklich an einen Aufschub nach § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG anknüpfende Bestimmung des § 26 Abs 1 EU-JZG zum jetzigen Zeitpunkt, dh vor Abschluss des gegen den Betroffenen geführten inländischen Strafverfahrens, nicht zum Tragen kommt (vgl Hinterhofer in WK2 EU-JZG § 26 Rz 4 und 8). Dass der Aufschub der Übergabe mit Beschluss vom 29. Februar 2024 auch bereits für die Dauer einer nachfolgenden Strafhaft ausgesprochen wurde, ändert nichts daran, dass sich die Anordnung des Aufschubs, soweit sie auf § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG gestützt wird, (erst) auf die Zeit nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens AZ 16 Hv 137/23d des Landesgerichts für Strafsachen Graz bezieht und von dessen Ergebnis abhängt. Auch die (vergleichbare) Bestimmung nach § 38 Abs 1 ARHG nimmt bei einem Aufschub der Übergabe nach § 37 Z 2 ARHG betreffend die Möglichkeit einer vorläufigen Übergabe nur auf eine Person, an der eine Freiheitsstrafe oder vorbeugende Maßnahme vollzogen wird, Bezug. Eine planwidrige Regelungslücke ist unter Berücksichtigung des den Aufschubsgründen nach § 25 Abs 1 Z 3 bis 6 EU-JZG zugrunde liegenden Grundsatzes des Vorrangs der Interessen der österreichischen Strafrechtspflege ( Hinterhofer in WK² EU-JZG § 25 Rz 9, vgl auch Göth-Flemmich/Riffel in WK² ARHG § 37 Rz 3) und des die bedingte Übergabe nach § 26 Abs 1 EU-JZG explizit auf Fälle eines Aufschubs nach § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG einschränkenden Wortlauts nicht anzunehmen (RIS-Justiz RS0106092, RS0008866, RS0098756, vgl zudem das bei eingriffsrelevanten Verfahrensnormen zu beachtende Verbot richterlicher Rechtsfortbildung: Wiederin in WK StPO § 5 Rz 54).

Vollständigkeitshalber ist anzumerken, dass eine (aufgrund einer Europäischen Ermittlungsanordnung auch während der Untersuchungshaft mögliche) Überstellung nach § 55g Abs 1 EU-JZG (über die nach § 55c Abs 4 EU-JZG jenes Gericht, auf dessen Entscheidung die Haft beruht, zu entscheiden hätte) nicht in Betracht kommt, wenn sich die inhaftierte Person in einem Hauptverfahren im Ausstellungsstaat als Angeklagter verantworten muss, was – wie hier – Gegenstand eines Übergabeverfahrens aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zu sein hat ( Herrnfeld in Göth-Flemmich/Herrnfeld/Kmetic/Martetschläger , Internationales Strafrecht, § 55g EU-JZG Rz 1, RV 66 der Beilagen XXVI. GP, 11f).

Die aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Zentralen Bezirksgerichts Pest, AZ B.20.722/2020/230, begehrte bedingte Übergabe des A* gemäß § 26 Abs 1 EU-JZG an die ungarischen Justizbehörden ist im beantragten Zeitraum 10. bis 16. April 2024 daher nicht möglich.

Der Ausschluss eines weiteren Rechtszugs folgt aus § 1 Abs 2 EU-JZG iVm § 9 Abs 1 ARHG und § 89 Abs 6 StPO ( Hinterhofer in WK² EU-JZG § 1 Rz 16f).

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