JudikaturVwGhRa 2024/02/0011

Ra 2024/02/0011 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
09. April 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed als Richter und die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer Kober und Mag. Schindler als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Andrés, über die Revision des S in S, vertreten durch die ONZ Partner Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Schwarzenbergplatz 16, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 28. August 2023, LVwG 2022/42/2073 1, betreffend Übertretung der StVO (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Tirol), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Tirol hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Tirol vom 1. Juli 2022 wurde der Revisionswerber einer Übertretung des § 52 lit. a Z 10a StVO schuldig erkannt, weil er am 4. April 2022 um 14:50 Uhr an einem näher genannten Tatort mit einem dem Kennzeichen nach bestimmten PKW die durch Straßenverkehrszeichen in diesem Bereich kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 33 km/h überschritten habe, wobei die in Betracht kommende Messtoleranz bereits abgezogen worden sei. Wegen dieser Verwaltungsübertretung wurde über ihn gemäß § 99 Abs. 2d StVO eine Geldstrafe in der Höhe von € 200, (Ersatzfreiheitsstrafe 1 Tag 10 Stunden) verhängt sowie ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens in der Höhe von € 20, festgesetzt.

2 In seiner dagegen erhobenen Beschwerde brachte der damals anwaltlich unvertretene Revisionswerber unter anderem vor, dass ein fehlerhaftes Messergebnis vorliegen müsse, weil das betreffende Elektrofahrzeug aus technischer Sicht nicht schneller als 130 km/h habe fahren können. Er verwies dazu auf eine mit E Mail erteilte Auskunft eines entsprechenden Autohändlers und ersuchte um Einholung der Rohdaten der Messung zur Aufklärung des Sachverhalts. Die Fehlmessung könnte auf eine mehrfache Reflexion im Messbereich zurückzuführen sein. Aus den Fotos sei ersichtlich, dass im Messfeld nicht nur ein Punkt reflektiere. Soweit er sich im behördlichen Verfahren darauf bezogen habe, dass Elektrofahrzeuge immer 130 km/h fahren dürfen, handle es sich hingegen um eine falsche Information des Autohändlers.

3 Das Landesverwaltungsgericht Tirol (Verwaltungsgericht) wies diese Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab, verpflichtete den Revisionswerber zur Zahlung eines Kostenbeitrages zum Beschwerdeverfahren und sprach aus, dass gegen diese Entscheidung eine Revision nicht zulässig sei.

4 Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass der Revisionswerber zum Tatzeitpunkt am Tatort die in diesem Bereich kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit um 33 km/h überschritten habe. Dazu hielt es in seinen beweiswürdigenden Erwägungen fest, dass der Revisionswerber nicht bestritten habe, eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten zu haben, sondern er habe in der Beschwerde angegeben, dass er mit seinem Elektroauto rechtlich zulässig mit 130 km/h unterwegs sein habe dürfen. In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz im Wesentlichen aus, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung von 100 km/h entgegen dem zu seiner Rechtfertigung ausschließlich erstatteten Vorbringen des Revisionswerbers auf einer Verordnung nach der StVO (und nicht dem Immissionsschutzgesetz) beruht habe. Das Absehen von der mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht damit, dass der Revisionswerber keine Verhandlung beantragt habe und die Voraussetzungen nach § 44 Abs. 3 VwGVG vorgelegen seien.

5 Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis zunächst erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers mit Beschluss vom 28. November 2023, E 3201/2023 5, ab und trat diese an den Verwaltungsgerichtshof ab.

6 In der Folge wurde die vorliegende außerordentliche Revision eingebracht. Eine Revisionsbeantwortung wurde in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Die Revision erweist sich bereits mit ihrem Vorbringen, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen, als zulässig und begründet.

8 Das Verwaltungsgericht hat gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG in Verwaltungsstrafsachen grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. In den Abs. 2 bis 5 leg. cit. finden sich zulässige Ausnahmen von der Verhandlungspflicht. Ein Absehen von der Verhandlung ist nach dieser Bestimmung zu beurteilen und zu begründen (vgl. VwGH 11.1.2024, Ra 2023/02/0214, mwN).

9 Ein Absehen von der Verhandlung nach § 44 Abs. 2 und 4 VwGVG kommt nicht in Betracht, weil das Verwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet abgewiesen hat. Auch ein ausdrücklicher Verzicht auf die mündliche Verhandlung im Sinn des § 44 Abs. 5 VwGVG ist nicht ersichtlich (vgl. zu diesem etwa VwGH 26.4.2019, Ra 2018/02/0260 , mwN).

10 Die Bestimmung des § 44 Abs. 3 Z 3 VwGVG sieht vor, dass das Verwaltungsgericht von einer Verhandlung absehen kann, wenn im angefochtenen Bescheid eine € 500, nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde und dies gilt für alle Tatbestände dieser Bestimmung keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat.

11 Im vorliegenden Fall wurde eine Geldstrafe von € 200, verhängt. Einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hatte der im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht unvertretene Revisionswerber nicht gestellt.

12 § 44 VwGVG ist verfassungskonform dahingehend zu verstehen, dass er ein Absehen von der mündlichen Verhandlung erlaubt, wenn auch nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK von einem konkludenten Verzicht auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung auszugehen ist. Der Ausschluss der Annahme eines konkludenten Verzichts ist jedoch nicht schon bei jeder Gegenbehauptung anzunehmen, sondern nur dann, wenn die Gegendarstellung verfahrensrelevante Umstände, also den vorgeworfenen Tatbestand betrifft (vgl. dazu VwGH 24.9.2019, Ra 2017/06/0091 , mit Verweis auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, unter anderem EGMR 23.11.2006, 73053/01, Jussila , mwN, in dem der EGMR in einem Verwaltungsstrafverfahren, in dem sich Fragen tatsächlicher Natur stellten, der Beschuldigte es aber verabsäumte, in seinem Rechtsmittel die Tat substantiiert zu bestreiten, keine Konventionsverletzung feststellte). In der zitierten Entscheidung Jussila erinnerte der EGMR auch daran, dass die Verpflichtung zur Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nicht absolut sei; sie könne etwa in Fällen entfallen, in denen die Tatsachen oder die Glaubwürdigkeit von Zeugen unbestritten seien und die Gerichte bereits auf Grundlage des Aktenmaterials und des schriftlichen Vorbringens der Parteien zu einer fairen und ausgewogenen Entscheidung kommen könnten (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 15.2.2024, Ra 2023/02/0226, mwN).

13 Eine Fallkonstellation, die die Annahme eines konkludenten Verzichts auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung rechtfertigte, liegt gegenständlich jedoch nicht vor:

14 Der Revisionswerber hat in seiner Beschwerde gegen das Straferkenntnis das Vorliegen eines fehlerhaften Messergebnisses behauptet und dies damit begründet, dass gemäß der von ihm eingeholten Auskunft eines Autohändlers sein Elektroauto aus technischen Gründen nicht die ihm vorgeworfene Geschwindigkeit von über 130 km/h habe fahren können und dass eine aus den übermittelten Fotos ersichtliche mehrfache Reflektion im Messbereich zu einem fehlerhaften Messergebnis geführt haben könnte. Ein eindeutiger Sachverhalt, nämlich, dass der Revisionswerber mit der ihm zur Last gelegten Geschwindigkeit gefahren sei, lag daher nicht vor. Der Revisionswerber hatte in seiner Beschwerde den Sachverhalt bestritten und eine konkrete, sachverhaltsbezogen verfahrensrelevante Gegendarstellung abgegeben, deren Inhalt jedenfalls aufzuklären war. Damit kann aber auch die das Absehen von einer Verhandlung ermöglichende Bestimmung des § 44 Abs. 3 Z 1 VwGVG fallbezogen nicht zur Anwendung kommen, hat doch der Revisionswerber in seiner Beschwerde nicht bloß eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet. Auch die Tatbestände des § 44 Abs. 3 Z 2 und 4 VwGVG kamen gegenständlich nicht in Betracht.

15 Das Verwaltungsgericht wäre somit gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG verpflichtet gewesen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

16 Ein Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen die aus Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeleitete Verhandlungspflicht führt auch ohne nähere Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG (vgl. etwa VwGH 9.11.2022, Ra 2021/02/0214, mwN).

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 9. April 2024

Rechtssätze
0

Keine verknüpften Rechtssätze zu diesem Paragrafen