JudikaturJustizOp3/12

Op3/12 – OPMS Entscheidung

Entscheidung
27. Februar 2013

Kopf

Der Oberste Patent- und Markensenat hat durch die Präsidentin des Obersten Patent- und Markensenates Dr. Irmgrad GRISS, die Räte des Obersten Patent- und Markensenates Dr. Gottfried MUSGER und Mag. Wilfried KYSELKA als rechtskundige Mitglieder und die Räte des Obersten Patent- und Markensenates Mag. Maximilian GÖRTLER und Dipl.-Ing. Christian KÖGL als fachtechnische Mitglieder in der Patentrechtssache der Antragstellerin Firma   M *****  G m b H ,   ***** (vormals: L***** Gesellschaft m.b.H., *****), vertreten durch Sonn Partner Patentanwälte, Riemergasse 14, 1010 Wien, gegen die Antragsgegner   W*****, Deutschland, vertreten durch Patentanwälte Puchberger, Berger Partner, Reichsratsstraße 13, 1010 Wien, wegen Nichtigerklärung des Patentes Nr. AT E 301 047 über die Berufung der Antragstellerin gegen die Endentscheidung der Nichtigkeitsabteilung des Österreichischen Patentamtes vom 30. Mai 2012, N 16/2010-11, entschieden:

1. Die Bezeichnung der Antragstellerin wird auf M***** GmbH, ***** berichtigt.

2. Soweit der Schriftsatz der Antragstellerin vom 24. Jänner 2013 über die Bekanntgabe der Firmen- und Anschriftänderung hinausgeht, wird er zurückgewiesen.

Spruch

3. Der Berufung wird teilweise Folge gegeben. Die angefochtene Entscheidung wird teils bestätigt und teils dahin abgeändert, dass sie lautet:

„Das Patent EP 1 343 644 B1 (AT E 301 047) wird für Österreich in den Ansprüchen 1, 2 und 24 zur Gänze und in Anspruch 26 im Rückbezug auf Anspruch 24 für nichtig erklärt. Der weitergehende Antrag auf Nichtigerklärung des gesamten Patents wird abgewiesen.“

Die Antragsgegner sind zur ungeteilten Hand schuldig, der Antragstellerin einen mit 680 EUR bestimmten Anteil an den Barauslagen des Verfahrens erster und zweiter Instanz zu ersetzen. Im Übrigen werden die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehoben.

Text

Gründe:

Zu 1: Die Antragstellerin hat eine Änderung ihrer Firma und ihrer Anschrift bekannt gegeben. Ihre Bezeichnung war daher zu berichtigen.

Zu 2: Auch im Verfahren vor dem Obersten Patent- und Markensenat gilt der Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels (OPM OGM 3/07 = PBl 2009, 182). Die mit der Bekanntgabe der Firmen- und Anschriftänderung verbundene Ergänzung des Berufungsvorbringens ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

Zu 3: Die Antragsgegner sind Inhaber des am 21. Dezember 2001 mit Priorität vom 23. Dezember 2000 und 19. Oktober 2001 auch für Österreich angemeldeten Europäischen Patents EP 1 343 644 (AT E 301 047). Das Patent betrifft eine Gleisstopfmaschine mit Arbeitswagen und Zugmaschine, die als „Zwei-Wege-Maschine“ ausgestaltet ist. Sie kann daher sowohl im Straßenbetrieb (Transport) als auch am Gleis (Arbeit) verwendet werden. Die Ansprüche lauten wie folgt:

1.     Zweiwegefahrzeug (10) zur Durchführung von Gleisoberbauarbeiten mit einem Arbeitswagen (12) und einer Zugmaschine (11), die ein vorderes (14) und ein hinteres (15) Straßenradpaar aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass die Zugmaschine (11) auch ein vorderes (29) und ein hinteres (30) Schienenradpaar aufweist und der als Auflieger (12) auf einem an der Zugmaschine (11) befindlichen Sattel (32) ausgebildete Arbeitswagen (12) mit der Zugmaschine (11) beim Straßentransport und bei der Durchführung der Gleisoberbauarbeiten eine Einheit bildet.

2.     Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die Aufsattelstelle (35) des Aufliegers (12) an der Zugmaschine (11) sich über oder hinter der Schienenrad-Hinterachse (V-V) der Zugmaschine (11) befindet.

3.     Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die zueinander parallelen Hinterachsen des Aufliegers (12) für Schienen- und Straßenräder gemeinsam oder getrennt um eine im Wesentlichen vertikale Achse schwenkbar und in der Höhe gegeneinander verstellbar angeordnet sind.

4.     Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 3, dadurch gekennzeichnet, dass alle Hinterachsen des Aufliegers an einem Grundgestell gelagert sind, das gegenüber dem Auflieger um die im Wesentlichen vertikale Achse verdrehbar gelagert ist.

5.     Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 4, dadurch gekennzeichnet, dass am Grundgestell wenigstens annähernd vertikal gerichtete Führungen angeordnet sind, entlang deren ein Trägergestell verstellbar ist, und dass an einem dieser Gestelle die Lager für die Schienenräder und am anderen dieser Gestelle die Lager für die Straßenräder vorgesehen sind.

6.     Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 5, dadurch gekennzeichnet, dass die wenigstens annähernd vertikal gerichteten Führungen um Achsen schwenkbar gelagert sind, die wenigstens annähernd parallel zu den Hinterachsen des Aufliegers gerichtet sind.

7.     Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 6, dadurch gekennzeichnet, dass die Schwenklager der wenigstens annähernd vertikal gerichteten Führungen über schwingungsdämpfende Mittel am Grundgestell befestigt sind.

8.     Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 7, dadurch gekennzeichnet, dass am Grundgestell zwei Schienenräderpaare und am Trägergestell ein Straßenräderpaar gelagert sind.

9.     Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 8, dadurch gekennzeichnet, dass das Straßenräderpaar über Innenladerachsen am Trägergestell befestigt ist.

10.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 5, gekennzeichnet durch Verriegelungsmittel, mit denen das Trägergestell in seiner dem Grundgestell am nächsten kommenden Lage arretierbar ist.

11.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 8, dadurch gekennzeichnet, dass am Grundgestell Lagerkörper für die Schienenräderpaare tragende Wellen vorgesehen sind.

12.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 11, dadurch gekennzeichnet, dass der Abstand der Räder jedes Schienenräderpaares und entsprechend der Abstand der zugehörigen Lagerkörper am Grundgestell veränderbar ist.

13.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 12, dadurch gekennzeichnet, dass die Lagerkörper jedes Schienenräderpaares an ihren vom Grundgestell abliegenden Seiten durch einen Abstandshalter verbunden sind.

14.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 8, dadurch gekennzeichnet, dass am Grundgestell Antriebsmittel und Bewegungsübertragungsmittel zu den Schienenräderpaaren angeordnet sind.

15.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass am Zugmaschinenboden zwischen dem vorderen und dem hinteren Straßenradpaar ein Schienenradgestell für zwei ebenfalls zwischen den am Zugmaschinenboden befestigten Straßenradpaaren befindliche Schienenradpaare vorgesehen ist, das vier zum Zugmaschinenboden gerichtete, zumindest annähernd parallele Führungen für vier mit dem Zugmaschinenboden verbundene Führungskörper aufweist, und dass Drehachsen aller genannten Radpaare parallel zueinander gerichtet sind.

16.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 15, dadurch gekennzeichnet, dass die zum Zugmaschinenboden gerichteten Führungen in Ebenen nach vorn geneigt sind, welche zumindest annähernd parallel zu den Radebenen und rechtwinklig zu den Radachsen gerichtet sind.

17.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 16, dadurch gekennzeichnet, dass die zum Boden der Zugmaschine gerichteten Führungen in Ebenen schwenkbar gelagert sind, welche zumindest annähernd parallel zu den Radebenen und rechtwinklig zu den Radachsen gerichtet sind.

18.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 17, dadurch gekennzeichnet, dass die vorderen, mit dem Zugmaschinenboden verbundenen Führungskörper um eine zu den Radachsen zumindest angenähert parallele, über dem Schienenradgestell befindliche Achse parallel zu den Radebenen schwenkbar gelagert sind.

19.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 18, dadurch gekennzeichnet, dass die zum Zugmaschinenboden gerichteten Führungen am Schienenradgestell unter Zwischenschaltung von Dämpfungsmitteln gelagert sind.

20.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 19, dadurch gekennzeichnet, dass jeweils zwei auf derselben Seite des Schienenradgestells angeordnete Führungskörper durch Traversen verbunden sind, die parallel zu den Radebenen gerichtet sind und deren Verbindung von den vorderen oder hinteren Führungskörpern lösbar gestaltet ist.

21.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 15, gekennzeichnet durch Verriegelungsmittel, die bestrebt sind, die Führungskörper in ihrer unteren Lage nahe dem Schienenradgestell zu halten.

22.   Zweiwegefahrzeug gemäß den Ansprüchen 5 und 15, dadurch gekennzeichnet, dass der Abstand der Räder jedes Schienenräderpaares veränderbar ist.

23.   Zweiwegefahrzeug gemäß den Ansprüchen 5 und 15, dadurch gekennzeichnet, dass den Rädern der Schienenradpaare Bremsmittel zugeordnet sind.

24.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass der Auflieger an und bezüglich der Aufsattelstelle höhenverstellbar angeordnet ist.

25.   Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass am vorderen Ende des Aufliegers, in der Nähe der Sattelstelle, Stabilisatoren vorgesehen sind, die ein Nicken dieses Aufliegerendes weitestgehend verhindern.

26.   Zweiwegefahrzeug gemäß mindestens einem der Ansprüche 3, 5, 15, 24, 25 dadurch gekennzeichnet, dass zur Schwenkung der Schienen - und Straßenräder um die vertikale Achse, zur Verschiebung der Führungsstücke entlang der Führungen und zur Betätigung der Rastmittel hydraulische oder pneumatische Getriebe und Getriebesteuerungen verwendet werden.

Die Antragstellerin beantragt die Nichtigerklärung des für Österreich erteilten Patents. Es fehlten sowohl die Neuheit als auch eine erfinderische Tätigkeit. Zur Begründung stützt sich die Antragstellerin, soweit im Verfahren vor dem Obersten Patent- und Markensenat noch relevant, in erster Linie auf eine bereits vor dem Prioritätszeitpunkt eingesetzte Gleisstopfmaschine eines anderen Unternehmens („UST 78 U“ der Firma Plasser und Theurer; ./A und ./G1 – G18; in der Fassung als „UST 78 U“ bezeichnet). Sämtliche Merkmale von Anspruch 1 seien dadurch vorweggenommen; insbesondere habe die Zugmaschine auch dort zwei Schienenradpaare gehabt. Weiters weise Anspruch 1 gegenüber näher bezeichneten älteren Patentschriften (./B, ./C und ./H) keine Erfindungseigenschaft auf. Für einen Fachmann liege eine Kombination von UST 78 U mit einem Auflieger wie in ./B nahe, da der Unterschied nur darin liege, das Messradpaar durch ein tragendes Schienenradpaar zu ersetzen. Die kennzeichnenden Merkmale von Anspruch 2 und 3 seien ebenfalls von UST 78 U vorweggenommen, jene des Anspruchs 3 zudem durch ältere Patentschriften (./E, ./F) in Kombination mit UST 78 U nahegelegt. Die Merkmale von Anspruch 4 würden in ./F gezeigt, zudem hätten sie zum Stand der Technik gehört. Die Merkmale der Ansprüche 5 bis 23 seien – sowohl jeder für sich als auch in Kombination miteinander – bekannte handwerkliche Maßnahmen. Das Merkmal von Anspruch 24 habe als übliche Ausführungsform dem Stand der Technik entsprochen und sei durch UST 78 U und die Patentschrift ./C vorweggenommen. Die Merkmale der Ansprüche 25 und 26 lägen im Bereich des fachmännischen Könnens.

Die Antragsgegner bestritten, dass UST 78 U die Erfindung vorweggenommen habe. Diese Maschine sei anders konzipiert gewesen und habe nicht alle Merkmale von Anspruch 1 aufgewiesen. Insbesondere seien dort nicht zwei tragende Schienenradpaare vorhanden gewesen, vielmehr habe es sich beim hinteren Radpaar um bloße Messräder gehandelt. Aus der Gesamtoffenbarung ergebe sich, dass in Anspruch 1 sowohl die Straßen- als auch die Schienenradpaare lasttragend seien. ./B zeige einen Zwei-Wege-Arbeitswagen, ./C eine Zwei-Wege-Zugmaschine. Nicht beschrieben werde jedoch eine Kombination, bei der sowohl beim Transport auf der Straße als auch beim Arbeiten auf der Schiene Zugwagen und Arbeitswagen eine funktionelle Einheit bildeten. Daher sei Anspruch 1 neu und erfinderisch gegenüber UST 78 U, ./B und ./C. ./H zeige eine Zwei-Wege-Zugmaschine, also keinen Zwei-Wege Arbeitswagen. Zudem sei für den Gleisbetrieb eine Eisenbahnkupplung vorgesehen, nicht ein Sattelauflieger wie in Anspruch 1. Die weiteren Ansprüche seien unmittelbar oder mittelbar auf Anspruch 1 rückbezogen, sodass sie ebenfalls bestehen bleiben könnten.

Die Nichtigkeitsabteilung wies den Antrag ab.

UST 78 U sei zumindest ab Februar 2000, also vor der Priorität des angegriffenen Patents, von einem Kölner Unternehmen ohne sichtbehindernde Maßnahmen benutzt worden. Diese Maschine gehöre daher zum Stand der Technik. Zugfahrzeug und Arbeitswagen bildeten dabei sowohl im Straßen- als auch im Schienenbetrieb eine Einheit. Allerdings habe die Zugmaschine nur ein lasttragendes Schienenpaar, das zweite diene nur Messzwecken. Demgegenüber könne Anspruch 1 nur so verstanden werden, dass beide Schienenradpaare lasttragend seien. Weiters werde bei UST 78 U im Schienenbetrieb das hintere Ende des Zugfahrzeugs durch den Arbeitswagen angehoben und getragen, während der Arbeitswagen nach Anspruch 1 auch im Schienenbetrieb auf dem Sattel des Zugfahrzeugs aufliege. Die in ./B geoffenbarte Sattelzugmaschine fahre nach dem Entkopplungsvorgang weg, die Gleisstopfmaschine sei während des Arbeitsvorgangs selbständig. ./C zeige ein Zugfahrzeug, mit dem im Straßenbetrieb Auflieger gezogen werden könnten. Für die Verschiebung von Schienenfahrzeugen am Bahnbetriebswerk verfüge das Zugfahrzeug über eine Kupplung an der Vorderseite. Damit wäre ein Betrieb im Sinne des Streitpatents unmöglich. Gleiches gelte für eine Kombination des Aufliegers aus ./B mit dem Zugfahrzeug aus ./H. Denn ./H sehe für den Schienenbetrieb eine Eisenbahnkupplung vor. Anspruch 1 sei daher nicht nur neu, sondern auch erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik. Da die Unteransprüche direkt oder indirekt auf Anspruch 1 rückbezogen seien, hätten auch diese Bestand.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung der Antragstellerin , mit der sie weiterhin die Nichtigerklärung des gesamten Patents anstrebt, ist teilweise berechtigt .

1. Zunächst ist Anspruch 1 zu prüfen. Er kann wie folgt gegliedert werden:

a.   ein Zweiwegefahrzeug zur Durchführung von Gleisoberbauarbeiten mit

b.   einem Arbeitswagen und

c.   einer Zugmaschine,

d.   die ein vorderes und ein hinteres Straßenradpaar aufweist, dadurch gekennzeichnet , dass

e.   die Zugmaschine auch ein vorderes und ein hinteres Schienenradpaar aufweist,

f.    der Arbeitswagen als Auflieger auf einem an der Zugmaschine befindlichen Sattel ausgebildet ist,

g.   der Arbeitswagen mit der Zugmaschine beim Straßentransport eine Einheit bildet, und

h.  der Arbeitswagen mit der Zugmaschine bei der Durchführung der Gleisoberbauarbeiten eine Einheit bildet.

1.1. Die Auffassung der Nichtigkeitsabteilung, dass Anspruch 1 neu sei, trifft zu.

1.1.1. Es ist unstrittig, dass die Merkmale des Anspruchs in den von den Antragstellern vorgelegten Patentschriften nicht (vollständig) geoffenbart sind. Allerdings gehört auch die Gleisstopfmaschine UST 78 U zum relevanten Stand der Technik. Sie nimmt jedenfalls folgende Merkmale von Anspruch 1 vorweg:

a.   ein Zweiwegefahrzeug zur Durchführung von Gleisoberbauarbeiten mit

b.   einem Arbeitswagen und

c.   einer Zugmaschine,

d.   die ein vorderes und ein hinteres Straßenradpaar aufweist,

g.   wobei der Arbeitswagen mit der Zugmaschine beim Straßentransport eine Einheit bildet.

Da die Zugmaschine von UST 78 U ein Messradpaar aufweist, das bei Gleisbauarbeiten im Einsatz sein muss, kann die Zugmaschine auch im Arbeitsbetrieb nicht vom Arbeitswagen getrennt werden, muss damit also eine Einheit bilden. Damit zeigt UST 78 U auch Merkmal (h) von Anspruch 1. Im Straßenbetrieb ist der Arbeitswagen von UST 78 U als Auflieger auf einem an der Zugmaschine befindlichen Sattel ausgebildet, die Zugmaschine trägt damit einen Teil von dessen Gewicht. Auch Merkmal (f) ist daher in UST 78 U vorweggenommen.

1.1.2. Zu prüfen bleibt damit Merkmal (e), wonach die Zugmaschine ein vorderes und ein hinteres Schienenradpaar aufweist. Auch UST 78 U zeigt ein zweites, also hinteres, Schienenradpaar. Damit scheint der Wortlaut von Anspruch 1 getroffen. Allerdings handelt es sich beim zweiten Schienenradpaar von UST 78 U um ein Messradpaar, das nicht lasttragend ist. Damit hängt es von der Auslegung von Anspruch 1 ab, ob auch Merkmal (e) von UST 78 U vorweggenommen wird. Ist dieser Anspruch dahin zu verstehen, dass beide Schienenradpaare der Zugmaschine lasttragend sein müssen, wäre er (auch) gegenüber UST 78 U neu, sonst nicht.

1.1.3. Nach Art 69 EPÜ wird der Schutzbereich des Patents durch den Inhalt der Patentansprüche bestimmt; die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen. Nach dem Auslegungsprotokoll zu Art 69 EPÜ ist diese Bestimmung nicht in der Weise auszulegen, dass unter dem Schutzbereich des europäischen Patents nur jener zu verstehen wäre, der sich aus dem genauen Wortlaut der Patentansprüche ergäbe, und dass die Beschreibung sowie die Zeichnungen nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten in den Patentansprüchen anzuwenden wären. Ebenso wenig ist Art 69 dahin auszulegen, dass die Patentansprüche lediglich als Richtlinie dienten und der Schutzbereich sich auch auf das erstreckte, was sich dem Fachmann nach Prüfung der Beschreibung und der Zeichnungen als Schutzbegehren des Patentinhabers darstellte. Die Auslegung soll vielmehr zwischen diesen extremen Auffassungen liegen und einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbinden (OPM Op 1/00 = PBl 2001, 127; Op 4, 5/00 = PBl 2002, 32; OGH 4 Ob 178/03k). Maßgebend für den Schutzumfang eines Patents ist demnach ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem, was sich aus dem genauen Wortlaut der Patentansprüche ergibt, und dem, was aus der Beschreibung und den Zeichnungen als Lösung des technischen Problems hervorgeht (Op 3/09 = PBl 2010, 151). Dabei ist auf das Verständnis des im jeweiligen Gebiet tätigen Fachmanns abzustellen ( Scharen in Benkard , EPÜ2 [2012] Art 69 Rz 6; Stauder in Stauder / Luginbühl , EPÜ6 [2013] Art 69 Rz 11).

1.1.4. Für diesen Fachmann geht aus der strittigen Anmeldung eindeutig hervor, dass in Anspruch 1 zwei tragende Schienenradpaare gemeint sind. Dafür spricht schon der nicht zwischen den beiden Radpaaren differenzierende Wortlaut des Anspruchs. Messräder sind von tragenden Rädern so verschieden, dass kein Fachmann sie unter einem gemeinsamen Oberbegriff zusammenfassen würde; vielmehr würde er bei der Formulierung des Anspruchs ohne jeden Zweifel zwischen ihnen unterscheiden. Dazu kommen zwei weitere Argumente: Zum einen ergibt sich der tragende Charakter beider Radpaare eindeutig aus der Zeichnung „Fig. 1“, die (innerhalb des Wortsinns) zur Auslegung des Anspruchs heranzuziehen ist. Zum anderen wäre die in Anspruch 1 dargestellte Auflegerlösung mit nur einem lasttragenden Schienenradpaar instabil und daher in Wahrheit technisch unmöglich. Allein daraus würde der Fachmann schließen, dass beide in diesem Anspruch genannten Schienenradpaare lasttragend sein müssen. Auf dieser Grundlage wird Merkmal (e) durch UST 78 U nicht vorweggenommen, weil dort nur ein tragendes Schienenradpaar vorhanden ist. Damit ist das Kriterium der Neuheit bei Anspruch 1 erfüllt.

1.2. Allerdings fehlt bei Anspruch 1 eine erfinderische Tätigkeit.

1.2.1. Eine Erfindung gilt nach Art 56 EPÜ als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Dies ist nicht schon dann der Fall, wenn der Fachmann aufgrund des Standes der Technik zu ihr hätte gelangen können, sondern erst, wenn er sie aufgrund eines hinreichenden Anlasses in Erwartung einer Verbesserung oder eines Vorteils auch tatsächlich vorgeschlagen hätte ( Kinkeldey/Karamanli in Benkard , EPÜ2 Art 56 Rz 72; Kroher in Stauder / Luginbühl , EPÜ6 Art 56 Rz 54 ff; OGH 17 Ob 24/09t = ÖBl 2010, 134 [ Beetz 110] - Nebivolol). Diese Prüfung kann insbesondere nach dem vom Europäischen Patentamt herangezogenen Aufgabe-Lösungs-Ansatz erfolgen (OPM Op 1/02, PBl 2003, 29 mwN; Op 6/08, PBl 2009, 107; Op 4/11, PBl 2012, 106). Dafür ist zuerst der nächstliegende Stand der Technik zu ermitteln, dann die zu lösende objektive technische Aufgabe zu bestimmen und schließlich zu prüfen, ob die beanspruchte Erfindung angesichts des nächstliegenden Standes der Technik und der objektiven Aufgabenstellung für den Durchschnittsfachmann naheliegend gewesen wäre.

1.2.2. Der nächstliegende Stand der Technik ist UST 78 U. Diese Maschine trifft alle Merkmale des Oberbegriffs von Anspruch 1 (Merkmale [a] bis [d]), gehört also zu jenem Stand der Technik, von welchem die Erfindung auch nach Angabe der Patentinhaber ausgeht. Als technische Aufgabe nennt die Patentschrift, dass für die Arbeitsmittel zwischen den Achsen ein (möglichst) großer Freiraum geschaffen, die Bearbeitung enger Radien ermöglicht, die verwendeten Massen reduziert, die Arbeitsleistung erhöht und das Eingleisen vereinfacht werden soll. Diese sehr breit formulierte Aufgabenstellung trifft auf fast alle Gleisbaumaschinen zu.

1.2.3. In der geschichtlichen Entwicklung der Gleisbaumaschinen haben die Arbeitseinheiten wie etwa Stopfaggregate mit der Erhöhung ihrer Leistung an Größe zugenommen, sodass auch der Freiraum für deren Einbau immer größer werden musste. Aus diesem Grund wurden die Zweiwegefahrzeuge für den Gleisbau immer länger. Ab einer gewissen Länge konnte man ein Zweiwege-Gleisbaufahrzeug, zumindest für den Straßenbetrieb, nicht mehr als starres Fahrzeug ausführen, sondern musste es in Zugmaschine und Anhänger teilen. Beim Eingleisen muss ein Zweiwegefahrzeug durch Rangieren mit den Schienenrädern exakt über den Schienen positioniert werden, was ein genaues Zurückschieben erfordert. Das ist nur mit einem Sattelschlepper möglich, nicht aber mit einem Anhänger mit zwei Achsen und einer Deichsel. Folglich kam ab einer gewissen Größe der Arbeitseinheiten für ein Zweiwegefahrzeug nur mehr eine Ausbildung als Sattelschlepper für den Straßenbetrieb in Betracht. Eine solche Maschine wurde etwa in ./B (DE 27 12 189 A) in den 1970er-Jahren dargestellt. Diese Maschine wäre als starres Straßenfahrzeug, also ohne Gelenk, sicher zu lang. In einem weiteren Entwicklungsschritt wurde, wahrscheinlich aus Platzgründen, ein Messradpaar vom Auflieger auf die Zugmaschine transferiert, wie dies bei UST 78 U verwirklicht ist. Diese Maschine stammt vom gleichen Hersteller wie jene aus ./B, sie wurde aber später konstruiert. Da die Zugmaschine von UST 78 U ein Messradpaar trägt, muss sie bei der Durchführung der Gleisbauarbeiten, also im Schienenbetrieb, dauernd mit dem Arbeitswagen verbunden bleiben.

1.2.4. Wenn einem Durchschnittsfachmann die Kenntnis des Standes der Technik zu unterstellen ist, dann kennt er auch dessen historische Entwicklung. Wenn nun der Platzbedarf für die Arbeitsaggregate weiter steigt und durch UST 78 U schon die Anleitung vorhanden ist, ein Messradpaar vom Auflieger auf die Zugmaschine zu transferieren, dann wird der Durchschnittsfachmann auch dazu angeleitet, auch ein tragendes Schienenradpaar vom Arbeitswagen auf die Zugmaschine zu verlagern. Damit wird, was für den Fachmann unmittelbar einsichtig ist, im Gleisbetrieb eine Konfiguration hergestellt, wie sie bei Sattelschleppern im Straßenbetrieb allgemein üblich ist. Damit werden alle Aufgabenstellungen gelöst: Der Freiraum für die Arbeitsaggregate wird größer; es können kleinere Kurvenradien bearbeitet werden; dadurch ermöglichte größere Arbeitsaggregate erhöhen die Arbeitsleistung; das Eingleisen wird zumindest nicht schwieriger; die Lastverteilung wird günstiger, also kann die gesamte Maschine leichter ausgeführt werden. Damit ist anzunehmen, dass ein mit diesen Aufgaben konfrontierter Fachmann die Verlagerung eines tragenden Schienenradpaar vom Arbeitswagen auf die Zugmaschine nicht nur in Betracht ziehen könnte, sondern auch tatsächlich in Betracht ziehen würde; dies insbesondere deswegen, weil durch UST 78 U schon bekannt war, dass ein Messradpaar vom Arbeitswagen auf die Zugmaschine verlagert wird. Damit ist Anspruch 1 nicht erfinderisch gegenüber UST 78 U.

1.2.5. Dem Argument der Antragsgegner, dass ein Sattelzug mit Auflieger bei Schienenfahrzeugen sehr ungewöhnlich und im Stand der Technik nicht verwirklicht sei, ist zu entgegen, dass zumindest durch ./H ein Zweiwegezugfahrzeug bekannt ist, das sowohl im Straßenbetrieb als auch im Schienenbetrieb als Sattelzug mit Auflieger verwendet wird (./H, Spalte 3, Zeilen 24 ff). Auch das weitere Argument, dass die konstruktive Maßnahme nach Anspruch 1 nicht naheliegend sein könne, da sie lange - von der Veröffentlichung der Beilage ./B bis zur Anmeldung des strittigen Patents - nicht verwirklicht worden sei, trägt nicht: Zwischen ./B und dem strittigen Patent liegt die Konstruktion von UST 78 U. Bei dieser Maschine wurde der Freiraum durch Verlegung eines Messradpaares auf die Zugmaschine vergrößert, was damals ausreichend gewesen sein wird. Der Bedarf für noch mehr Freiraum stieg erst später weiter an.

2. Damit ist Anspruch 1 für nichtig zu erklären. Nach dessen Wegfall beruht auch Anspruch 2 nicht mehr auf einer erfinderischen Tätigkeit. Dieser Anspruch lautet wie folgt:

Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die Aufsattelstelle (35) des Aufliegers (12) an der Zugmaschine (11) sich über oder hinter der Schienenrad-Hinterachse (V-V) der Zugmaschine (11) befindet.

Betrachtet man den Zweiwege-Sattelschlepper gemäß ./H im Schienenbetrieb, so liegt der gezogene Eisenbahnwaggon mit einem Teil seines Gewichts (also als Auflieger) auf der Kupplung (Pos 26 in ./H) auf (Fig 3 und 4 und Spalte 3, Zeilen 24-30 in ./H). Die Aufsattelstelle ist also hinter der Schienenrad-Hinterachse (Pos 24 in ./H). Damit zeigt die Beilage ./H alle Merkmale des strittigen Anspruchs 2.

3. Bestand hat demgegenüber Anspruch 3:

Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die zueinander parallelen Hinterachsen des Aufliegers (12) für Schienen- und Straßenräder gemeinsam oder getrennt um eine im Wesentlichen vertikale Achse schwenkbar und in der Höhe gegeneinander verstellbar angeordnet sind.

Von der Antragstellerin wurde im Nichtigkeitsantrag vorgebracht, dass dieser Anspruch durch UST 78 U sowie durch ./E (AT 131 402) und ./F (AT 190 087) nahegelegt sei. In keiner Abbildung von UST 78 U ist allerdings zu erkennen, dass die Hinterachsen der Straßenräder um eine vertikale Achse gegenüber dem Rahmen schwenkbar wären. Die Abbildungen lassen eher darauf schließen, dass die Hinterachsen der Straßenräder starr mit dem Rahmen verbunden sind. Die relevanten Offenbarungen von ./E und ./F beziehen sich auf Zugfahrzeuge und nicht auf Anhänger oder Auflieger. In ./F ist nicht ersichtlich, dass die Achsen der Straßenräder um eine vertikale Achse gegenüber dem Rahmen schwenkbar wären. Außerdem sind die vorderen und hinteren Achsen mit Antriebswellen (Pos 20 und 14 in ./F) verbunden, was gegen eine Verschwenkbarkeit der Räderachsen um eine vertikale Achse spricht. In ./E geht es um die Vorderachsen eines Zugfahrzeugs. Auch diese Patentschrift kann einen Fachmann nicht dazu anleiten, die Achse(n) der hinteren Straßenräder eines Aufliegers eines Zweiwegefahrzeugs um eine senkrechte Achse schwenkbar anzuordnen. Anspruch 3 ist daher neu und erfinderisch.

4. Die Ansprüche 4-14 sind unmittelbar oder mittelbar auf Anspruch 3 rückbezogen und daher in Verbindung mit diesem ebenfalls neu und erfinderisch.

5. Die Anordnungen der beiden Schienenradpaare auf der Zugmaschine auf einem eigenen höhenverstellbaren Gestell, wie in Anspruch 15 beansprucht, wird vom Stand der Technik weder vorweggenommen noch nahegelegt. Auch Anspruch 15 ist daher neu und erfinderisch. Das gilt auch für die unmittelbar oder mittelbar auf Anspruch 5 und/oder 15 rückbezogenen Ansprüche 16 bis 23.

6. Anspruch 24 hat folgenden Wortlaut:

Zweiwegefahrzeug gemäß Anspruch 2, dadurch gekennzeichnet, dass der Auflieger an und bezüglich der Aufsattelstelle höhenverstellbar angeordnet ist.

Anspruch 2 beruht auf keiner erfinderischen Tätigkeit. Die für Anspruch 24 kennzeichnende Höhenverstellung an der Aufsattelstelle ist bereits in UST 78 U verwirklicht (./G5 und ./G8). Damit beruht auch Anspruch 24 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

7. Stabilisatoren in der Nähe der Sattelstelle, wie von Anspruch 25 gefordert, sind aus dem Stand der Technik weder ersichtlich noch nahegelegt. Anspruch 25 hat daher Bestand.

8. Die kennzeichnenden Merkmale von Anspruch 26 (Verwendung hydraulischer oder pneumatischer Getriebe und Getriebesteuerungen) sind trivial. Damit beruht Anspruch 26 auf keiner erfinderischen Tätigkeit, soweit er auf den für nichtig erklärten Anspruch 24 rückbezogen ist. Hingegen ist Anspruch 26 neu und erfinderisch, soweit er mittelbar oder unmittelbar auf einen der aufrecht gebliebenen Ansprüche 3, 5, 15 oder 25 rückbezogen ist.

9. Damit ist die Berufung teilweise berechtigt. Die Ansprüche 1, 2 und 24 sind zur Gänze für nichtig zu erklären; in Anspruch 26 hat der Rückbezug auf Anspruch 24 zu entfallen. Im Übrigen ist die abweisende Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung zu bestätigen.

10. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 122 Abs 1 und § 140 Abs 1 PatG 1970 iVm §§ 41, 50 ZPO. Die Antragstellerin ist mit ihrem Begehren unter Bedachtnahme auf die sachliche Bedeutung der für nichtig erklärten und der aufrecht gebliebenen Ansprüche etwa zur Hälfte durchgedrungen. Die Antragsgegner haben ihr daher die halben Barauslagen des Verfahrens vor der Nichtigkeitsabteilung und vor dem Obersten Patent- und Markensenat zu ersetzen; im Übrigen sind die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufzuheben.

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