JudikaturJustizBsw77587/12

Bsw77587/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. Februar 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache V.C.L und A.N. gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 16.2.2021, Bsw. 77587/12.

Spruch

Art. 4 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK - Kein ausreichender Schutz für strafrechtlich verurteilte Menschenhandelsopfer.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Verletzung von Art. 4 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 25.000,– an jeden der Bf. für immateriellen Schaden; € 20.000,– an jeden der Bf. für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um zwei 1994 bzw. 1992 geborene Vietnamesen, die von der Polizei im Jahr 2009 in Cannabisplantagen entdeckt wurden. Sie wurden festgenommen und wegen Drogenanbaus strafrechtlich verfolgt. Nachdem sie sich schuldig bekannt hatten, wurden sie zu 20 bzw. 18 Monaten Haft verurteilt.

Obwohl es schon früher Hinweise darauf gegeben hatte, dass die beiden Bf. Opfer von Menschenhandel geworden sein könnten, wurden sie erst nach ihrer Verurteilung von den staatlichen Behörden als solche anerkannt. (Anm: Im April 2009 schuf die Regierung ein nationales Leitsystem (National Referral Mechanism; »NRM«) zur Identifizierung und Weiterleitung von potentiellen Opfern moderner Sklaverei und zur Sicherstellung von deren angemessener Unterstützung. Damit der NRM auf sie anwendbar ist, müssen potentielle Menschenhandelsopfer zunächst an eine der zwei Competent Authorities des Vereinigten Königreichs (das United Kingdom Human Trafficking Centre innerhalb der National Crime Agency oder das Innenministerium) verwiesen werden, die dafür zuständig sind, abschließende Entscheidungen zu treffen, ob eine Person zum Zweck der Ausbeutung Menschenhandel unterworfen wurde und sie deshalb als Opfer anzuerkennen ist.)

Sie erhoben daraufhin Berufung gegen ihre Verurteilung und brachten insbesondere vor, dass sie als Opfer von Menschenhandel nicht strafrechtlich verfolgt werden hätten dürfen. Das Berufungsgericht wies ihre Beschwerden jedoch am 20.2.2012 zurück und stellte klar, dass Menschenhandelsopfer nicht automatisch Freiheit von Strafverfolgung genießen würden und die Entscheidungen in den vorliegenden Fällen gerechtfertigt gewesen wären und daher keinen Verfahrensmissbrauch dargestellt hätten. Das Gericht reduzierte allerdings die Haftstrafen auf zwölf bzw. vier Monate.

Eine später vom ErstBf. erhobene neuerliche Berufung wurde vom Berufungsgericht mit derselben Begründung abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügten eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit), da der belangte Staat durch ihre strafrechtliche Verfolgung insbesondere seine Pflicht verletzt hätte, sie als Opfer von Menschenhandel zu schützen. Darüber hinaus beschwerten sie sich als Folge der Verletzung der positiven Verpflichtungen unter Art. 4 EMRK über eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Verbindung der Beschwerden

(108) Angesichts des ähnlichen Gegenstands der Beschwerden erachtet es der GH für angemessen, sie gemeinsam in einem einzigen Urteil zu untersuchen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK

Zulässigkeit

(115) Die Regierung brachte vor, dass die Bf. nicht behaupten könnten, »Opfer« der gerügten Verletzung zu sein, da die innerstaatlichen Gerichte die Feststellung des Crown Prosecution Service [Staatsanwaltschaft, im Folgenden: »CPS«] unterstützt hatten, wonach die Bf. keine glaubhaften Opfer von Menschenhandel oder im Falle des ZweitBf. von Zwangsarbeit wären.

(117) [...] Zur Zeit [der Auffindung der Bf.] scheint es klare Beweise dafür gegeben zu haben, dass die Kultivierung von Cannabispflanzen eine Aktivität war, die häufig von Opfern von Kinderhandel vorgenommen wurde. Sowohl die vom CPS im Dezember 2007 veröffentlichten Leitlinien [zur Strafverfolgung der Begehung von Straftaten beschuldigter Jugendlicher, die Opfer von Menschenhandel sein könnten] als auch seine Leitlinien zu Menschenhandel und -schmuggel [...] hoben hervor, dass die »Kultivierung von Cannabispflanzen« eine Straftat darstellte, die wahrscheinlich von Opfern von Kinderhandel ausgeführt wurde. Zudem identifizierte der erste Scoping-Bericht des Child Exploitation and Online Protection Command [Behörde gegen die Ausbeutung von Kindern und für den Schutz von Kindern im Internet; im Folgenden »CEOP«], der im Juni 2007 veröffentlicht wurde, vietnamesische Jungen und Mädchen als besonders verwundbare Gruppe. In einer weiteren Gefährdungseinschätzung, die im April 2009 veröffentlicht wurde, wies das CEOP darauf hin, dass vietnamesische Kinder der höchsten Wahrscheinlichkeit ausgesetzt waren, Menschenhandel unterworfen zu werden [...]. Die von der CEOP identifizierten vietnamesischen Kinder waren primär an der Kultivierung von Cannabispflanzen beteiligt. Viele wurden bei Polizeirazzien auf Cannabisplantagen festgenommen. Es ist wesentlich, dass das CEOP in dem Bericht festhielt, dass sowohl die Association of Chief Police Officers [Verband der leitenden Polizeibeamten] als auch der CPS Leitlinien zur Behandlung von Kindern erlassen hätten, die in solchen kriminellen Betrieben aufgefunden wurden, um sicherzustellen, dass kein Kind vor Gericht gebracht wurde, wenn es sich bei dem begangenen Verbrechen um das direkte Ergebnis von Menschenhandel handelte.

(118) Es scheint kein Zweifel bestanden zu haben, dass es sich beim ErstBf. um einen Minderjährigen handelte. [...] Angesichts des Umstands, dass er ein Minderjähriger war, der bei einer Razzia auf einer Cannabisplantage entdeckt wurde, befindet der GH, dass sich zu Beginn die Polizei und danach auch das CPS der Existenz von Umständen bewusst sein hätten müssen, die einen ernstzunehmenden Verdacht entstehen ließen, dass er Menschenhandel unterworfen worden war.

(119) Bei seiner Entdeckung in der Nähe der Cannabisplantage gab der ZweitBf. sein Geburtsjahr mit 1972 an. Allerdings änderte er dieses neun Tage später, als er bereits wegen Beteiligung am Anbau von [...] Drogen [...] angeklagt worden war, [...] auf 1992. Der Fall wurde danach aufgrund der Annahme behandelt, dass er 17 war. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte der CPS sich der Existenz von Umständen bewusst sein müssen, die einen ernstzunehmenden Verdacht entstehen ließen, dass der ZweitBf. Menschenhandel unterworfen worden war.

(120) Daher entstand in beiden Fällen kurz nach der Entdeckung der Bf. eine positive Verpflichtung, operative Maßnahmen zu setzen, um sie als potentielle Opfer von Menschenhandel zu schützen. Angesichts des Umstands, dass die potentielle Reichweite dieser Verpflichtung sich über ihre Identifikation als Opfer von Menschenhandel hinaus erstreckt, wurde zudem keiner der Bf. durch die Entscheidung der Competent Authority seines Opferstatus iSv. Art. 34 EMRK beraubt.

(123) [...] Die Beschwerden unter Art. 4 EMRK werfen ausreichend komplexe Fragen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf und können daher nicht als offensichtlich unbegründet [...] zurückgewiesen werden. Sie sind auch aus keinen anderen Gründen unzulässig und müssen somit für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(152) Wie Art. 2 und Art. 3 EMRK kann Art. 4 EMRK einen Staat unter bestimmten Umständen dazu verpflichten, operative Maßnahmen zu setzen, um Opfer oder potentielle Opfer von Menschenhandel zu schützen. Damit eine solche positive Verpflichtung [...] in einem konkreten Fall entsteht, muss gezeigt werden, dass den staatlichen Behörden Umstände bekannt waren oder sein hätten müssen, die einen ernstzunehmenden Verdacht entstehen ließen, dass ein identifiziertes Individuum Menschenhandel iSv. Art. 3 lit. a des Palermo-Protokolls (Anm: Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalitñt vom 15.11.2000, StF. BGBl. III 220/2005.) und Art. 4 lit. a des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (Anm: Übereinkommen vom 16.5.2005, StF. BGBl. III 10/2008.)

unterworfen oder ausgebeutet worden oder einer diesbezüglichen realen und unmittelbaren Gefahr ausgesetzt gewesen war. Wenn dies der Fall ist, kommt es zu einer Verletzung von Art. 4 EMRK, wenn die Behörden es verabsäumen, innerhalb ihrer Befugnisse angemessene Maßnahmen zu setzen, um das Individuum aus dieser Situation oder aus dieser Gefahr zu befreien.

(153) [...] Schutzmaßnahmen umfassen die Erleichterung der Identifikation von Opfern durch qualifizierte Personen sowie die Unterstützung von Opfern bei ihrer physischen und psychischen Erholung und sozialen Rehabilitation.

Die Verfolgung von Opfern und potentiellen Opfern von Menschenhandel

(157) Bislang hatte der GH noch keinen Fall zu prüfen, der die strafrechtliche Verfolgung eines Opfers oder potentiellen Opfers von Menschenhandel betraf. Dies ist daher die erste Gelegenheit [...] zu prüfen, ob und wann eine solche Verfolgung eine Frage unter Art. 4 EMRK aufwerfen kann.

(158) Es ist klar, dass weder aus dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels noch aus irgendeinem anderen internationalen Instrument ein allgemeines Verbot der strafrechtlichen Verfolgung von Menschenhandelsopfern abgeleitet werden kann. Tatsächlich enthalten die Bestimmungen in Art. 26 des Übereinkommens, Art. 8 der RL 2011/36/EU (Anm: Richtlinie 2011/36/EU des Europñischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2011 zur Verhütung und Bekñmpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl. L 101, 1.) und Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zum Übereinkommen über Zwangsarbeit der ILO aus 2014 (Anm: StF. BGBl. III 157/2019.) alle zwei wichtige Einschränkungen: Das Opfer des Menschenhandels muss gezwungen worden sein, die strafbare Handlung zu begehen; und wenn das zutrifft, sollen die nationalen Behörden befugt, aber nicht verpflichtet sein, von einer strafrechtlichen Verfolgung abzusehen. Während Zwang nicht notwendig zu sein scheint, um ein Kind in den Anwendungsbereich von entweder Art. 26 des Übereinkommens des Europarats oder von Art. 8 der RL 2011/36/EU zu bringen, kann jedoch keines der Instrumente so ausgelegt werden, dass es die strafrechtliche Verfolgung eines Opfers von Kinderhandel jedenfalls ausschließt.

(159) Dennoch ist der GH der Ansicht, dass die strafrechtliche Verfolgung von Opfern oder potentiellen Opfern von Menschenhandel unter bestimmten Umständen im Widerspruch zur staatlichen Verpflichtung stehen kann, operative Maßnahmen zu ihrem Schutz zu setzen, wenn den Staaten Umstände bekannt sind oder sein müssten, die einen ernstzunehmenden Verdacht entstehen lassen, dass ein Individuum Menschenhandel unterworfen wurde. Nach Ansicht des GH hat die Pflicht unter Art. 4 EMRK, operative Maßnahmen zu setzen, zwei wesentliche Ziele: das Opfer von Menschenhandel vor weiterem Schaden zu schützen und seine Rehabilitation zu erleichtern. Es liegt auf der Hand, dass die strafrechtliche Verfolgung von Opfern von Menschenhandel schädlich für ihre physische und psychische Erholung und soziale Rehabilitation wäre und sie dafür verwundbar machen könnte, in der Zukunft erneut Menschenhandel unterworfen zu werden. Sie müssten nicht nur die Strapazen einer strafrechtlichen Verfolgung durchlaufen, sondern eine strafrechtliche Verurteilung könnte auch ein Hindernis für ihre folgende Integration in die Gesellschaft schaffen. Zudem kann ihr Einsperren ihren Zugang zur Unterstützung und zu den Diensten behindern, die vom Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels vorgesehen wurden.

(160) Damit die strafrechtliche Verfolgung eines Opfers oder potentiellen Opfers von Menschenhandel Respekt für die durch Art. 4 EMRK garantierten Freiheiten zeigt, ist seine vorherige Identifikation von vorrangiger Bedeutung. Daraus folgt, dass sobald den Behörden Umstände bekannt sind oder sein müssten, die einen ernstzunehmenden Verdacht entstehen lassen, dass ein der Begehung einer Straftat verdächtigtes Individuum Menschenhandel unterworfen oder ausgebeutet wurde, dies rasch von Personen beurteilt werden muss, die im Umgang mit Opfern von Menschenhandel geschult und qualifiziert sind. Diese Beurteilung ist auf die Kriterien zu stützen, die im Palermo-Protokoll und im Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels festgelegt sind (nämlich dass die betreffende Person unter Androhung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung zum Zweck der Ausbeutung einer Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme unterworfen wurde). Dabei ist der Umstand speziell zu berücksichtigen, dass die Androhung von Gewalt und/oder Nötigung nicht erforderlich ist, wenn es sich bei dem Individuum um ein Kind handelt.

(161) Da der Status eines Individuums als Opfer von Menschenhandel beeinflussen kann, ob es ausreichende Beweise für eine Strafverfolgung gibt und ob diese im öffentlichen Interesse liegt, sollte zudem jede Entscheidung, ob ein potentielles Opfer von Menschenhandel strafrechtlich verfolgt wird – soweit als möglich – erst getroffen werden, wenn von einer qualifizierten Person eine Beurteilung im Hinblick auf Menschenhandel durchgeführt wurde. Das ist besonders wichtig, wenn Kinder betroffen sind. Da Letztere besonders verwundbar sind, hat der GH anerkannt, dass die vom Staat gesetzten Maßnahmen, um sie gegen eine unter Art. 3 und 8 EMRK fallende Gewalthandlung zu schützen, wirksam sein und angemessene Schritte einschließen müssen, um eine Misshandlung zu verhindern, von welcher die Behörden wussten oder wissen hätten müssen. Ebenso haben sie eine wirksame Abschreckung vor derartigen schwerwiegenden Verletzungen der persönlichen Integrität zu umfassen. Solche Maßnahmen müssen darauf abzielen, die Achtung der Menschenrechte sicherzustellen und das Kindeswohl zu schützen. Da Menschenhandel die Menschenwürde und grundlegende Freiheiten der Opfer bedroht, trifft dies auch auf Maßnahmen zum Schutz vor Handlungen zu, die in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fallen.

(162) Sobald von einer qualifizierten Person eine Beurteilung im Hinblick auf Menschenhandel durchgeführt wurde, hat jede folgende Entscheidung im Rahmen der Strafverfolgung diese Beurteilung zu berücksichtigen. Während der Staatsanwalt durch die Feststellungen, die im Zuge einer solchen Beurteilung im Hinblick auf Menschenhandel getroffen wurden, nicht gebunden sein mag, braucht er doch eindeutige Gründe im Einklang mit der Definition des Menschenhandels im Palermo-Protokoll und im Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels, um dieser Beurteilung nicht zuzustimmen.

Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegenden Fälle

ErstBf.

(163) Der GH hat bereits festgestellt, dass die Behörden, als der ErstBf. [...] entdeckt wurde, damit rechnen hätten müssen, dass er wie alle anderen auf der Cannabisplantage entdeckten Personen Opfer von Menschenhandel sein könnte. Obwohl es keinen offenkundigen Zweifel daran gab, dass er minderjährig war, leiteten ihn weder die Polizei noch das CPS für eine Beurteilung an eine der Competent Authorities weiter [...]. Stattdessen wurde er angeklagt [...].

(164) [...] Im August 2009 bekannte er [...] sich im Hinblick auf die Straftat für schuldig, wegen derer er angeklagt worden war. [...]

(165) Zu diesem Zeitpunkt überprüfte das CPS die Entscheidung zur Strafverfolgung, kam aber zum Schluss, dass keine glaubhaften Beweise existierten, wonach der ErstBf. Menschenhandel unterworfen worden wäre. Für diese Entscheidung wurden dem GH keine weiteren Gründe mitgeteilt.

(166) Nach der abschließenden Entscheidung der Competent Authority, in welcher diese befand, dass der ErstBf. Menschenhandel unterworfen worden war, überprüfte das CPS den Fall erneut und bestätigte die Entscheidung zur Durchführung einer Strafverfolgung abermals, ohne eine offizielle Begründung dafür anzugeben [...].

(167) [...] Im Februar 2012 wurde die Berufung des ErstBf. abgewiesen, da das Berufungsgericht zum Schluss kam, dass die Entscheidung zu seiner strafrechtlichen Verfolgung hinreichend gerechtfertigt gewesen wäre. In diesem Verfahren konzentrierte sich die Staatsanwaltschaft auf Beweise, welche ihrer Ansicht nach nahelegten, dass der ErstBf. kein Opfer von Menschenhandel war. Dazu gehörten die Umstände, dass er mit Bargeld aufgefunden worden war und ein Mobiltelefon gehabt hatte, die Plantage sich in einem Haus befunden hatte und nicht in einem »provisorischen Gefängnis«, der ErstBf. wöchentlich mit Lebensmitteln versorgt worden war und in seinen Aussagen Widersprüche bestanden hatten.

(168) Die Competent Authority überprüfte ihre Entscheidung vor dem Hintergrund des Materials in der Akte des CPS beinahe zwei Jahre später. Sie kam dabei aber zum Schluss, dass diese Informationen ihre abschließende Entscheidung nicht änderten. Insbesondere hätte sich [...] nicht geändert, dass die beiden zentralen Elemente der Definition von »Menschenhandel« vorliegen würden, die im Fall eines Minderjährigen erforderlich waren, nämlich die »Handlung« und der »Zweck«. [...]

(169) Der Fall des ErstBf. wurde in der Folge an das Berufungsgericht zurückverwiesen, doch wurde seine Berufung erneut abgewiesen. [...]

(170) [...] Die Staatsanwaltschaft [...] stellte wiederholt fest, dass es keine eindeutigen Beweise dafür geben würde, dass der ErstBf. Menschenhandel unterworfen worden wäre. Zusätzlich brachte sie in keinem Stadium klare Gründe vor, warum sie zu anderen Schlüssen gelangte als die Competent Authority [...]. Das Berufungsgericht scheint sich bei der zweimaligen Abweisung der Berufung des ErstBf. auf dieselben Gründe gestützt zu haben.

(171) Zum Zeitpunkt der Festnahme des ErstBf. waren vietnamesische Minderjährige bereits als eine besonders verwundbare Gruppe identifiziert worden [...]. Wie das CPS [...] zeigte, konnten Menschenhandel unterworfene Kinder zögern, die Umstände ihrer Ausbeutung zu enthüllen, entweder aufgrund von Angst vor Vergeltungsmaßnahmen oder aufgrund von unangebrachter Loyalität zu den Menschenhändlern oder weil sie entsprechend instruiert worden waren. Es war auch möglich, dass sie eher psychischem Zwang oder Drohungen unterworfen wurden [...]. Daher konnten die Umstände, dass der ErstBf. Bargeld und ein Mobiltelefon hatte, die Plantage selbst kein Gefängnis war, er mit Lebensmitteln versorgt wurde und sein Bericht zeitweise widersprüchlich war, nicht ohne Weiteres ausschließen, dass er Menschenhandel unterworfen wurde.

(172) Es wäre dem CPS – auf der Basis von klaren Gründen im Einklang mit der Definition von Menschenhandel im Palermo-Protokoll und im Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels – offengestanden, der abschließenden Entscheidung zu widersprechen. Hätte es akzeptiert, dass es sich beim ErstBf. um ein Opfer von Kinderhandel handelte, wäre es ihm auch offengestanden, ihn strafrechtlich zu verfolgen, falls es der Ansicht gewesen wäre, [...] dass es keine Verbindung zwischen der Straftat und dem Menschenhandel gab. Jedoch geschah hier keines von beidem. Obwohl der ErstBf. unter Umständen entdeckt wurde, die für sich bereits einen glaubhaften Verdacht bewirkten, dass es sich bei ihm um ein Opfer von Menschenhandel handelte, wurde sein Fall nicht an den National Referral Mechanism verwiesen. Stattdessen wurde er wegen einer Straftat angeklagt, im Hinblick auf die er sich auf Anraten seines rechtlichen Vertreters schuldig bekannte. Auch wenn er in der Folge von der Competent Authority als Opfer von Menschenhandel anerkannt wurde, widersprach das CPS dieser Beurteilung ohne angemessene Begründung und das Berufungsgericht, das sich auf dieselbe Begründung stützte, stellte zweimal fest, dass die Entscheidung, ihn zu verfolgen, gerechtfertigt gewesen wäre.

(173) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass der Staat seine Pflicht unter Art. 4 EMRK nicht erfüllt hat, operative Maßnahmen zu setzen, um den ErstBf. zunächst als potentielles Opfer von Menschenhandel und später als von der Competent Authority anerkanntes Opfer von Menschenhandel zu schützen.

(174) Daher stellt er fest, dass eine Verletzung von Art. 4 EMRK erfolgt ist (einstimmig).

ZweitBf.

(175) Am 21.4.2009 wurde der ZweitBf. von der Polizei in der Nähe einer Cannabisplantage entdeckt. Er wurde wie ein Erwachsener behandelt, weil er ursprünglich 1972 als Geburtsjahr angab [...]. Angesichts dessen, dass er tatsächlich 17 Jahre alt war, ist nicht klar, wie glaubhaft seine Behauptung war, 37 zu sein. Auch wenn die Polizei keinen Grund gehabt hätte, daran zu zweifeln, dass es sich bei ihm um einen Erwachsenen handelte, hätte seine Aussage bei der ersten polizeilichen Befragung jedenfalls gewisse Bedenken entstehen lassen müssen. Insbesondere behauptete er, dass die Tür von außen verschlossen gewesen wäre und er geglaubt hätte, dass die Anlage bewacht wurde; dass er für seine Arbeit nicht bezahlt worden wäre; und dass er getötet werden hätte können, wenn er aufgehört hätte zu arbeiten. Dennoch erfolgte keine Weiterleitung an eine Competent Authority. Stattdessen wurde er angeklagt [...].

(176) Am 30.4.2009 [...] gab er sein Geburtsjahr mit 1992 an. Von diesem Zeitpunkt an wurde akzeptiert, dass er 17 Jahre alt war. Angesichts dessen, was über die Situation von vietnamesischen Jugendlichen bekannt war, die als Anbauer auf Cannabisplantagen arbeiteten, befindet der GH, dass dem CPS spätestens ab diesem Zeitpunkt die Existenz von Umständen bewusst sein hätte müssen, die einen ernstzunehmenden Verdacht entstehen ließen, dass er Menschenhandel unterworfen worden war. Allerdings wurde er – obwohl das CPS am 1.6.2009 eine Aktenprüfung vornahm, bei der es zum Schluss kam, dass er in das Vereinigte Königreich geschmuggelt worden war [...] – erst [...] im November desselben Jahres von der Competent Authority beurteilt.

(177) Zwischenzeitlich bekannte sich der ZweitBf. im Hinblick auf die Straftat, derer er angeklagt war, für schuldig. [...]

(178) Am 28.6.2011 überprüfte [...] das CPS den Fall des ZweitBf. im Lichte der Schlussfolgerungen der National Society for the Prevention of Cruelty to Children – National Child Trafficking Advice and Information Line (Nationale Gesellschaft zur Vorbeugung gegen Kindesmisshandlung – Nationale Beratung in Bezug auf Kinderhandel und Information; im Folgenden: »NSPCC-NCTAIL«) und der Competent Authority. Unter Berücksichtigung gewisser Widersprüche in seiner Aussage und der Umstände, dass er fliehen hätte können, mit etwas Geld aufgefunden worden wäre und keine physischen Verletzungen aufgewiesen hätte, kam es zum Schluss, dass es sich bei ihm um kein Opfer von Menschenhandel gehandelt hätte. [...] Das CPS [...] scheint nicht erklärt zu haben, warum [...] es gerechtfertigt war, zu einem anderen Schluss zu kommen. [...]

(179) Bei der Abweisung der Berufung des ZweitBf. stellte das Berufungsgericht fest, dass [...] es keine Beweise gegeben hätte, die nahelegten, dass er durch Menschenhandel in das Vereinigte Königreich gelangt war.

(180) [...] Diese Feststellung ist schwer mit den Leitlinien zu vereinbaren, welche das CPS selbst im Februar 2009 veröffentlicht hat und wonach Menschenhandel unterworfene Kinder sich sträuben können, die Umstände ihrer Ausbeutung offenzulegen, und folglich Staatsanwälte mit dieser Möglichkeit rechnen hätten müssen. Eine ähnliche Anleitung wurde vom Berufungsgericht im Fall R. gg O. ausgegeben [...].

(181) Diesbezüglich hat der GH bereits festgehalten, dass von dem Zeitpunkt an, an dem der ZweitBf. entdeckt wurde, gewisse Aspekte seiner Aussage Bedenken hervorrufen hätten müssen, dass er Opfer von Menschenhandel gewesen sein könnte. Diese Bedenken hätten sich verstärken müssen, als offenkundig wurde, dass er noch minderjährig war. Ab dort traf den Staat eine positive Verpflichtung, operative Maßnahmen zu setzen, um den ZweitBf. zu schützen. Stattdessen wurde es erlaubt, dass das Strafverfahren fortgesetzt wurde. Dabei bekannte sich der ZweitBf. auf Anraten seines rechtlichen Vertreters für schuldig. Obwohl er in der Folge sowohl von der NSPCC-NCTAIL als auch der Competent Authority als Opfer von Menschenhandel anerkannt wurde, widersprach das CPS dieser Beurteilung ohne klare Begründung für seine Entscheidung [...]. Das Berufungsgericht stellte, gestützt auf dieselben Gründe, fest, dass die Entscheidung zur strafrechtlichen Verfolgung keinen Verfahrensmissbrauch darstellte.

(182) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass der Staat seine Pflicht unter Art. 4 EMRK nicht erfüllt hat, operative Maßnahmen zu setzen, um den ZweitBf. zunächst als potentielles und später als von der Competent Authority anerkanntes Opfer von Menschenhandel zu schützen.

(183) Daher stellt er fest, dass eine Verletzung von Art. 4 EMRK erfolgt ist (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(186) Der GH hält fest, dass die Rügen der Bf. unter Art. 6 EMRK weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund [...] unzulässig sind. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Warf das Versäumnis zu ermitteln, ob die Bf. Opfer von Menschenhandel waren, bevor sie wegen Drogendelikten angeklagt und verurteilt wurden, eine Frage unter Art. 6 EMRK auf?

(195) [...] Die Fairness des Verfahrens verlangt, dass ein Beschuldigter in der Lage sein muss, die ganze Bandbreite an Diensten in Anspruch zu nehmen, die mit konkretem rechtlichen Beistand verbunden sind. In diesem Zusammenhang muss der Anwalt die grundlegenden Aspekte der Verteidigung dieser Person umfassend sicherstellen können [...].

(196) Obwohl Opfer von Menschenhandel nicht vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt sind, kann der Status eines Individuums als Opfer von Menschenhandel auch beeinflussen, ob es ausreichende Beweise für eine Strafverfolgung gibt und ob es im öffentlichen Interesse liegt, eine solche durchzuführen. Beweise betreffend den Status eines Beschuldigten als Opfer von Menschenhandel sind daher ein »grundlegender Aspekt« der Verteidigung [...].

(197) Im vorliegenden Fall trifft es zu, dass die Vertreter der Bf. diese selbst an den National Referral Mechanism verweisen hätten können. Beide Bf. wurden von Beginn an rechtlich vertreten – ein Faktor, den der GH allgemein als wichtige Garantie gegen Unfairness im Verfahren ansieht. Der ZweitBf. wurde staatlich unterstützt und [...] es ist wahrscheinlich, dass der ErstBf. zumindest ursprünglich ebenfalls in den Genuss von Verfahrenshilfe kam. Trotzdem scheinen die Vertreter der Bf. in beiden Fällen die Möglichkeit ohne Weiteres ausgeschlossen zu haben, wonach diese Opfer von Menschenhandel sein könnten. [...]

(198) Während Strafverteidiger unzweifelhaft wachsam gegenüber Anzeichen für Menschenhandel sein sollten, kann ihr Versäumnis, solche Anzeichen zu erkennen oder deswegen zu handeln, dennoch für sich den Staat und seine Akteure nicht von ihrer diesbezüglichen Verantwortung befreien. Wie bereits festgehalten, wurde zumindest einer der Bf. staatlich unterstützt, und der GH hat bereits festgestellt – wenn auch im Kontext von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK –, dass die zuständigen nationalen Behörden intervenieren müssen, wenn es im Hinblick auf die Leistung einer wirksamen Vertretung zu einem offenkundigen Versäumnis durch einen Verfahrenshilfeanwalt kommt. Auch wenn sich keiner der Bf. auf diesen Artikel berufen hat, geht aus dieser Rechtsprechungslinie klar hervor, dass der Staat sich nicht hinter den Fehlern von Verfahrenshilfeanwälten verstecken kann, wenn diese Fehler auf ein »offenkundiges Versäumnis, eine wirksame Vertretung zu leisten«, hinauslaufen.

(199) In den vorliegenden Fällen ist es allerdings nicht nötig zu entscheiden, ob die erwähnten Fehler der rechtlichen Vertreter der Bf. diese hohe Schwelle erreichten. Im Kontext von Art. 4 EMRK unterliegt der Staat einer positiven Verpflichtung, Opfer von Menschenhandel zu schützen und Situationen potentiellen Menschenhandels zu untersuchen. Diese positive Verpflichtung wird durch das Vorliegen von Umständen ausgelöst, die einen ernstzunehmenden Verdacht entstehen lassen, dass ein Individuum Menschenhandel unterworfen wurde, und nicht durch eine Beschwerde durch das potentielle Opfer oder in dessen Namen. Der Staat kann sich daher nicht auf irgendwelche Fehler eines rechtlichen Vertreters oder eines – insbesondere minderjährigen – Beschuldigten stützen, der Polizei oder seinem rechtlichen Vertreter mitzuteilen, dass er Opfer von Menschenhandel war. Wie die Leitlinien des CPS selbst festhalten, handelt es sich bei Opfern von Kinderhandel um eine besonders verwundbare Gruppe und es kann ihnen nicht bewusst sein, dass sie Menschenhandel unterworfen wurden, oder sie können zu viel Angst haben, um den Behörden diese Information bekanntzugeben. Daher kann von ihnen nicht verlangt werden, sich selbst als Opfer zu identifizieren, und sie können nicht dafür bestraft werden, dies nicht getan zu haben.

(200) Der GH hat bereits festgestellt, dass das Versäumnis der Behörden, eine rechtzeitige Beurteilung dahingehend vorzunehmen, ob die Bf. tatsächlich Menschenhandel unterworfen worden waren, eine Verletzung ihrer positiven Verpflichtungen gemäß Art. 4 EMRK bewirkt hat (siehe oben Rn. 174 und 183). Im Rahmen von Art. 6 EMRK stellt er fest, dass das Fehlen einer solchen Beurteilung die Behörden daran hinderte, Beweise sicherzustellen, welche einen grundlegenden Aspekt der Verteidigung darstellen konnten.

Verzichteten die Bf. auf ihre Rechte unter Art. 6 EMRK?

(201) [...] Ein Verzicht [auf die Garantien unter Art. 6 EMRK] muss [...] für seine Wirksamkeit auf unmissverständliche Weise nachgewiesen werden, er darf keinem wichtigen öffentlichen Interesse zuwiderlaufen und muss von Mindestgarantien begleitet werden, die seiner Bedeutung angemessen sind. Im Zusammenhang mit einem außergerichtlichen Deal zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem hat der GH festgehalten, dass ein Bf. durch die Nichtbestreitung einer strafrechtlichen Anklage auf sein Recht verzichten kann, dass sein Fall in der Sache selbst untersucht wird. Eine Entscheidung zur Annahme eines solchen Deals muss jedoch die folgenden Bedingungen erfüllen: (a) die Abmachung muss in voller Kenntnis der Umstände des Falles und der rechtlichen Konsequenzen und vollkommen freiwillig akzeptiert werden; (b) der Inhalt der Abmachung und die Fairness der Art und Weise, wie sie zwischen den Parteien erreicht wurde, muss einer ausreichenden gerichtlichen Überprüfung unterworfen sein.

(202) In den vorliegenden Fällen waren die Schuldeingeständnisse der Bf. ohne Zweifel »unmissverständlich«. Da Letztere rechtlich vertreten waren, wurde ihnen fast sicher bewusst gemacht, dass es keine Untersuchung ihrer Fälle in der Sache geben würde, wenn sie sich schuldig bekannten. Ohne Beurteilung, ob sie Menschenhandel unterworfen worden waren und ob dieser Umstand gegebenenfalls irgendeine Auswirkung auf ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit haben konnte, wurden diese Eingeständnisse jedoch nicht »in voller Kenntnis der Sachlage« abgegeben. Angesichts dessen, dass Menschenhandel die Menschenwürde und die grundlegenden Freiheiten ihrer Opfer bedroht und nicht mit einer demokratischen Gesellschaft und den in der Konvention dargelegten Werten vereinbar ist, wäre ohne eine solche Beurteilung jeder Verzicht auf Rechte durch die Bf. dem wichtigen öffentlichen Interesse an der Bekämpfung des Menschenhandels und des Schutzes seiner Opfer entgegengelaufen.

(203) Es trifft zwar zu, dass der Richter dem ErstBf. nach Erlangung der abschließenden Entscheidung Gelegenheit gab, von seinem Eingeständnis abzugehen, und der ErstBf. sich dazu entschied, dies nicht zu tun. Diese Entscheidung traf er auf Anraten seines rechtlichen Vertreters, der ihm sagte, dass das CPS die Anklage auch dann nicht zurückziehen würde, wenn ein solcher Antrag erfolgreich wäre. Ihm wurde auch mitgeteilt, dass eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung zur Strafverfolgung wenig Erfolgsaussicht haben würde. Nach Ansicht des GH kann nicht angenommen werden, dass der ErstBf., bei dem es sich um einen festgenommenen Minderjährigen handelte, der in einem ausländischen Strafrechtssystem verfolgt wurde und sich bereits einer Straftat für schuldig bekannt hatte, ohne dass dies einen Verzicht auf seine Rechte nach Art. 6 EMRK dargestellt hätte, auf diese Rechte in der Folge verzichtete, indem er sich entschied, keine Anträge zu verfolgen, die im Widerspruch zum eindringlichen Rat seines rechtlichen Vertreters standen.

(204) Der GH befindet daher nicht, dass die Bf. auf ihre Rechte unter Art. 6 Abs. 1 EMRK verzichteten.

Wurde die Fairness des Verfahrens insgesamt beeinträchtigt?

(206) In diesem Zusammenhang beobachtet der GH, dass das CPS, – obwohl die Bf. sich im Hinblick auf die angeklagten Straftaten für schuldig bekannt hatten – dennoch seine Entscheidung über ihre strafrechtliche Verfolgung überprüfte, nachdem die Competent Authority sie als Opfer von Menschenhandel anerkannt hatte. Zudem wurde beiden in der Folge gestattet, eine Berufung [...] zu erheben. Der Fall des ErstBf. wurde an das Berufungsgericht zurückverwiesen [...].

(207) Wie der GH bereits festgehalten hat, waren die vom CPS angeführten Gründe, um der Competent Authority zu widersprechen, im Hinblick auf beide Bf. völlig unangemessen. Soweit irgendwelche Gründe angeführt wurden, standen sie nicht im Einklang mit der Definition von Menschenhandel laut dem Palermo-Protokoll und dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (siehe oben Rn. 170, 172, 177-181).

(208) Zudem war das Berufungsgericht bei beiden Gelegenheiten primär mit der Frage beschäftigt, ob es einen Missbrauch des staatsanwaltlichen Ermessens gegeben hatte, der bewirkte, dass die Entscheidung zur Durchführung einer strafrechtlichen Verfolgung einen Verfahrensmissbrauch darstellte. Bei der Abweisung der Berufungen der Bf. stützte es sich auf dieselben Gründe, die vom CPS vorgebracht worden waren und die der GH bereits als mit der völkerrechtlichen Definition von Menschenhandel unvereinbar befunden hat (siehe oben Rn. 170, 172, 177-181). Obwohl die Bf. sich auf Art. 4 EMRK beriefen, prüfte das Berufungsgericht ihre Fälle nicht durch das Prisma der positiven Verpflichtungen des Staates unter diesem Artikel. Ganz im Gegenteil begnügte sich das Berufungsgericht mit einer relativ eingeschränkten Überprüfung. [...] Nach Ansicht des GH würde ein solcher Ansatz Opfer von Menschenhandel tatsächlich dafür bestrafen, dass sie sich ursprünglich nicht als solche identifiziert haben, und es den Behörden erlauben, sich auf ihr eigenes Versäumnis zu stützen, ihrer Pflicht gemäß Art. 4 EMRK nachzukommen, operative Maßnahmen zu setzen, um die Opfer zu schützen. Folglich befindet der GH nicht, dass das Berufungsverfahren die Mängel in den Verfahren heilte, die zur Anklage und letztendlichen Verurteilung der Bf. führten.

(209) Die vorangehenden Überlegungen reichen dem GH aus um zum Schluss zu kommen, dass die Verfahren im Hinblick auf beide Bf. insgesamt betrachtet nicht als »fair« angesehen werden konnten.

(210) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 25.000,– an jeden der Bf. für immateriellen Schaden; € 20.000,– an jeden der Bf. für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Rantsev/CY und RUS v. 7.1.2010 = NLMR 2010, 20

Söderman/S v. 12.11.2013 (GK) = NLMR 2013, 413

Natsvlishvili und Togonidze/GE v. 29.4.2014

Dvorski/HR v. 20.10.2015 (GK) = NLMR 2015, 412

Chowdury u.a./GR v. 30.3.2017 = NLMR 2017, 132

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.2.2021, Bsw. 77587/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 56) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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