JudikaturJustizBsw74440/17

Bsw74440/17 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Juni 2020

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache P. N. gg. Deutschland, Urteil vom 11.6.2020, Bsw. 74440/17.

Spruch

Art. 8 EMRK - Speicherung erkennungsdienstlicher Daten in einer Datenbank der Polizei.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Polizeidirektion Dresden ordnete am 18.8.2011 gestützt auf § 81b StPO eine erkennungsdienstliche Behandlung des Bf. an. (Anm: § 81b StPO: »Soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens oder für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist, dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden.«) Diese umfasste insbesondere die Aufnahme von Detailbildern des Gesichts und des Körpers (z.B. von möglichen Tätowierungen) sowie eines Ganzkörperbilds, die Abnahme der Finger- und Handflächenabdrücke sowie die Anfertigung einer Personenbeschreibung. Wie die Polizeidirektion feststellte, war im Juni 2011 ein Strafverfahren wegen des Verdachts des Handels mit gestohlenen Gegenständen gegen den Bf. eingeleitet worden, außerdem sei er aufgrund zahlreicher Verurteilungen sowie eingestellter Strafverfahren als Wiederholungstäter anzusehen. Es sei daher davon auszugehen, dass der Bf. in Zukunft wahrscheinlich ähnliche Straftaten begehen oder solcher Taten verdächtigt werden könne. Die erkennungsdienstliche Behandlung würde daher Ermittlungen betreffend künftige Delikte erleichtern, weil der Bf. einfacher als Täter bestätigt oder ausgeschlossen werden könne.

Der gegen diesen Bescheid erhobene Widerspruch wurde am 24.8.2011 von der Polizeidirektion abgewiesen. Das Strafverfahren gegen den Bf. wurde am 4.6.2012 eingestellt, da keine ausreichenden Beweise vorlagen, die eine Anklage gerechtfertigt hätten.

Eine vom Bf. eingebrachte Klage gegen den Widerspruchsbescheid der Polizeidirektion Dresden wurde vom Verwaltungsgericht Dresden am 16.3.2015 abgewiesen. Das Gericht stellte fest, dass zum Zeitpunkt der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung, wie von § 81b StPO gefordert, ein Strafverfahren gegen den Bf. anhängig gewesen war. Angesichts der zahlreichen Strafverfahren, die in den vorangegangenen Jahren gegen den Bf. geführt worden waren und zum Teil zu Verurteilungen geführt hatten, war die Polizeidirektion zu Recht von Gründen für die Annahme ausgegangen, der Bf. würde künftig der Begehung einer Straftat verdächtigt werden.

Der Antrag des Bf., die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, wurde am 7.10.2016 vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht abgelehnt. Am 30.3.2017 erfolgte die erkennungsdienstliche Behandlung.

Die vom Bf. erhobene Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG nicht zur Behandlung angenommen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch die erkennungsdienstliche Behandlung zum Zweck der Aufbewahrung und Verwendung der dadurch erlangten Daten.

Zulässigkeit

(32) Die Regierung brachte vor, der Bf. habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht […] erschöpft. Erstens [...] wäre die Verfassungsbeschwerde [...] nicht gegen das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts gerichtet gewesen. [...]

(33) Zweitens vertrat die Regierung die Ansicht, die Verfassungsbeschwerde hätte nicht den formalen Anforderungen und Fristen des innerstaatlichen Rechts entsprochen. [...]

(37) [...] Der Bf. schilderte in seiner Verfassungsbeschwerde die Verfahren vor der Polizeidirektion und den Verwaltungsgerichten. Es ist unbestritten, dass er sich in seinem Vorbringen vor dem BVerfG auch über die Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts beschwerte. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Entscheidung aus Gründen, die dem GH nicht bekannt sind, in der Einleitung der Entscheidung des BVerfG nicht genannt wurde, brachte der Bf. somit seine Beschwerde gegen diese Entscheidung, die er auch vor dem GH bekämpft, vor das BVerfG. [...]

(38) Was die Einhaltung der formalen Anforderungen und Fristen des innerstaatlichen Rechts betrifft, stellt der GH fest, dass das BVerfG seine Ablehnung der Behandlung der Beschwerde nicht begründete. Insbesondere gab es nicht an, dass diese auf einem Versäumnis beruht hätte, formale Anforderungen zu erfüllen. Unter diesen Umständen kann der GH nicht darüber spekulieren, warum das BVerfG entschied, die Beschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, und ob es diese in der Sache beurteilt hat oder nicht.

(39) Der Bf. hat daher die innerstaatlichen Rechtsbehelfe iSv. Art. 35 Abs. 1 EMRK erschöpft.

(40) Wie der GH weiters feststellt, ist die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund [...] unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Zum Vorliegen eines Eingriffs

(56) [...] Die Aufnahme eines Fotos einer Person und dessen Speicherung in einer polizeilichen Datenbank mit der Möglichkeit einer automatischen Verarbeitung begründet einen Eingriff in das […] Recht auf Achtung des Privatlebens.

(57) Die Abnahme von Fingerabdrücken einer identifizierten oder identifizierbaren Person und deren Speicherung durch die Behörden stellt ebenfalls einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens dar.

(58) Gleichermaßen ist die Aufbewahrung von Informationen, die sich auf das Privatleben einer Person beziehen, wie etwa Kontaktdaten einer verurteilten Person, ein Eingriff in dieses Recht.

(59) Im vorliegenden Fall ordnete die Polizei an, den Bf. für die polizeilichen Akten zu fotografieren, seine Finger- und Handflächenabdrücke zu nehmen und eine Personenbeschreibung zu erstellen. Dies diente Zwecken der zukünftigen Identifizierung. Die Anordnung wurde später umgesetzt. Der GH sieht darin [...] einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung des Privatlebens. [...]

(60) Der GH bemerkt insbesondere, dass die Abnahme von Handflächenabdrücken eine Maßnahme darstellt, die sowohl hinsichtlich ihrer Intensität als auch der künftigen Verwendung der erlangten Daten der Abnahme von Fingerabdrücken sehr ähnlich ist. Daher müssen dieselben Überlegungen gelten. Die äußerliche Beschreibung des Bf. und ihre Aufnahme in die polizeilichen Aufzeichnungen für Zwecke der künftigen Identifizierung muss als vergleichbar mit der Aufnahme eines Fotos angesehen werden, wenngleich sie weniger eingriffsintensiv ist. Da der GH allerdings in der Vergangenheit selbst die Speicherung von Kontaktdaten eines verurteilten Straftäters durch eine Behörde als Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens angesehen hat, ist Art. 8 EMRK gleichermaßen auf die äußerliche Beschreibung des Bf. und deren Aufnahme in die polizeilichen Aufzeichnungen anwendbar.

Zur Rechtfertigung des Eingriffs

Zur gesetzlichen Grundlage

(64) Der Bescheid, mit dem die erkennungsdienstliche Behandlung des Bf. angeordnet wurde, beruhte auf § 81b StPO [...]. Diese zugängliche Bestimmung zählt mit einem hohen Grad an Präzision die Art der erkennungsdienstlichen Daten auf, die erhoben werden dürfen – Fotos und Fingerabdrücke, Messungen und andere ähnliche Daten. Es muss als vorhersehbar angesehen werden, dass die Daten, um die es hier geht [...], in den Bereich der nach dieser Bestimmung erlaubten Maßnahmen fallen.

(65) Was die Umstände betrifft, unter denen solche Daten von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden, erhoben werden dürfen, sieht die zweite Alternative von § 81b StPO vor, dass dies zulässig ist, soweit es »für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist«. Während dieser Wortlaut vergleichsweise weit ist, haben die Obersten Verwaltungsgerichte die Bedeutung dieser Bestimmung in ihrer Rechtsprechung klargestellt und eindeutig umschrieben. Nach dieser Judikatur müssen die Behörden eine individuelle Einschätzung dahingehend vornehmen, ob es wahrscheinlich ist, dass das erkennungsdienstliche Material in künftigen Ermittlungen gegen diese Person nützlich sein würde. Die Behörden müssen dabei unter anderem die Art und Schwere der Straftat, deren Begehung die betroffene Person verdächtigt wird, deren Persönlichkeit und die Art und Häufigkeit früherer Straftaten berücksichtigen.

(66) § 81b StPO, zweite Alternative, gab daher [...] in seiner Auslegung durch die nationalen Höchstgerichte mit ausreichender Klarheit den Umfang des Ermessens, das diese Bestimmung den Behörden einräumte, und die Art von dessen Ausübung an. Somit war [die Bestimmung] angemessen vorhersehbar.

(67) Wie der GH weiters feststellt, behauptete der Bf. nicht, dass es § 81b StPO, zweite Alternative, iVm. § 481 Abs. 1 und § 484 Abs. 4 StPO (Anm: Gemäß § 481 Abs. 1 und § 484 Abs. 4 StPO dürfen personenbezogene Daten, die aus Strafverfahren stammen oder für Zwecke künftiger Strafverfahren von der Polizei gespeichert sind, von den Polizeibehörden nach Maßgabe der Polizeigesetze der Länder verwendet werden.) und iVm. § 43 Abs. 2 und 3 des Sächsischen Polizeigesetzes (Anm: § 43 des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen enthält nähere Bestimmungen über die Speicherung und Verwendung von Daten und sieht unter anderem vor, dass diese zu löschen sind, sobald ihre Speicherung nicht länger notwendig ist.) sowie Punkt 5 der einschlägigen Richtlinie des Innenministeriums (Anm: Die Richtlinie des Sächsischen Staatsministeriums des Inneren für die Führung kriminalpolizeilicher personenbezogener Sammlungen in den Polizeidienststellen des Freistaates Sachsen vom 1.1.2007 bestimmt ebenfalls, dass Daten gelöscht werden müssen, wenn sie nicht länger für polizeiliche Zwecke erforderlich oder wenn die gesetzlichen Höchstfristen abgelaufen sind.) an Präzision hinsichtlich der Bedingungen für die Speicherung, Verwendung und Löschung der erlangten erkennungsdienstlichen Daten mangeln lässt. Ob diese Bestimmung ausreichende Garantien gegen Missbrauch vorsah, kann [...] angemessener im breiteren Kontext der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft geprüft werden.

Zum legitimen Ziel

(68) Die Sammlung erkennungsdienstlicher Daten von Personen wie dem Bf. diente der Verhütung von Straftaten sowie dem Schutz der Rechte anderer, nämlich der Erleichterung der Aufklärung künftiger Straftaten. Sie verfolgte somit legitime Ziele iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK.

Zur Verhältnismäßigkeit des Eingriffs

(72) Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit [...] der Sammlung personenbezogener Daten im Kontext von Strafverfahren und ihrer anschließenden Speicherung hat sich der GH in seiner Rechtsprechung insbesondere auf die folgenden Elemente bezogen. Er hat darauf abgestellt, ob und wie die innerstaatlichen Behörden bei der Entscheidung über die Datenspeicherung die Art und Schwere der fraglichen Straftaten berücksichtigt haben. Er hat weiters geprüft, ob diese Behörden [...] die Tatsache beachtet hatten, dass die betroffene Person in weiterer Folge nicht verurteilt wurde.

(73) Zudem hat der GH den Grad des tatsächlichen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens berücksichtigt. [...] Als relevant wurde auch eine zeitliche Beschränkung der Aufbewahrung der Daten und deren Dauer erachtet.

(74) Ein weiteres relevantes Element der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit [...] durch den GH war eine unabhängige Überprüfung der Notwendigkeit einer weiteren Speicherung der fraglichen Daten [...]. Schließlich vergewisserte sich der GH auch [...], ob es ausreichende Garantien gegen Missbrauch gab. [...]

(76) Bei der Beurteilung, ob die umstrittene Sammlung und Speicherung erkennungsdienstlicher Daten [...] verhältnismäßig war, bemerkt der GH zunächst, dass die Polizei und die innerstaatlichen Gerichte [...]die Art und Schwere der zuvor vom Bf. begangenen Straftaten berücksichtigen mussten.

(77) Nach der Rechtsprechung der Obersten Verwaltungsgerichte mussten die Gerichte in einer individuellen Einschätzung, ob es wahrscheinlich war, dass der Bf. in der Zukunft erneut der Begehung einer Straftat verdächtigt werden würde, die Art, Schwere und Zahl der Delikte berücksichtigen, wegen derer er früher verurteilt worden war. Sie hielten fest, dass er in einer etwa 15 bis 30 Jahre zurückreichenden Zeitspanne 13 Mal wegen Straftaten wie Diebstahl, Betrug, Verkehrs- und Kridadelikten verurteilt worden war. Er war zu Geldstrafen, bei fünf Gelegenheiten aber auch zu Freiheitsstrafen zwischen zwei Monaten und zweieinhalb Jahren verurteilt worden. Seither war die Zahl der Verurteilungen erheblich zurückgegangen; der Bf. war 2010 wegen falscher Verdächtigung und 2013 wegen Beleidigung zu Geldstrafen verurteilt worden.

(78) Die innerstaatlichen Behörden berücksichtigten außerdem mehrere Ermittlungsverfahren wegen Straftaten wie Körperverletzung, Sachbeschädigung und Betrug, die in den Jahren vor der Anordnung eingestellt worden waren, maßen diesen Verfahren jedoch weniger Gewicht bei. Sie waren entweder nach Zahlung eines Geldbetrags, wegen der Geringfügigkeit des Delikts oder wegen unzureichender Beweise, die eine Anklage gerechtfertigt hätten, eingestellt worden, ohne dass nach Ansicht der innerstaatlichen Gerichte die Unschuld des Bf. erwiesen worden wäre [...].

(79) Wie die innerstaatlichen Behörden betonten, wurden diese letzten Verfahren in ihrer präventiven Einschätzung herangezogen, ob es wahrscheinlich war, dass der Bf. in der Zukunft wegen einer Straftat verdächtigt würde. Der GH kann daher akzeptieren, dass diese eingestellten Verfahren, von denen keines mit der Feststellung [...] endete, der Bf. sei unschuldig gewesen, und bei denen nichts auf eine willkürliche Einleitung hinweist, bei dieser Einschätzung – in einem sehr beschränkten Ausmaß – ebenfalls relevant waren.

(81) Angesichts dieser Elemente muss der GH, während er anerkennt, dass der Bf. nicht wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt wurde, die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte zur Kenntnis nehmen, wonach er bei zahlreichen Gelegenheiten verurteilt wurde und einige seiner Straftaten ausreichend schwerwiegend für die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe waren. Außerdem mussten wiederholt strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn eingeleitet werden, davon einige in den der Erhebung der erkennungsdienstlichen Daten vorangegangenen Jahren.

(82) Zur Frage, ob die innerstaatlichen Behörden die Tatsache berücksichtigt haben, dass der Bf. in weiterer Folge in dem Verfahren [...], in dessen Kontext die Anordnung der Erhebung seiner Daten erfolgt war, nicht verurteilt wurde, bemerkt der GH, dass der Ausgang dieses Verfahrens nach innerstaatlichem Recht nicht relevant für die Entscheidung über die Erhebung und Speicherung der Daten des Bf. war. Eine Anordnung zur Erhebung erkennungsdienstlicher Daten nach der zweiten Alternative des § 81b StPO konnte nur gegen eine Person ergehen, die zur Zeit der Anordnung im Verdacht stand, eine Straftat begangen zu haben. [...] Der folgende Ausgang des Verfahrens war allerdings nicht ausschlaggebend für die individuelle Einschätzung, ob es insbesondere angesichts der früheren Ermittlungsverfahren gegen den Bf. wahrscheinlich war, dass er in Zukunft einer Straftat verdächtigt werden würde, deren Aufklärung durch die von ihm erhobenen erkennungsdienstlichen Daten erleichtert würde.

(83) [...] In dieser Hinsicht unterscheidet sich der vorliegende Fall von Fällen wie S. und Marper/GB oder M. K./F. In diesen beiden Fällen wurden die Verfahren, die zur Anordnung der Erhebung erkennungsdienstlicher Daten geführt hatten, gleichermaßen eingestellt oder die Bf. [...] freigesprochen. Anders als im vorliegenden Fall hatte es jedoch keine früheren Verurteilungen gegeben, die bei der Entscheidung, die fraglichen Daten zu sammeln, berücksichtigt wurden.

(84) Bei seiner Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der umstrittenen Maßnahme erachtet es der GH als weiteres wichtiges Element, dass die Erhebung und Aufbewahrung der erkennungsdienstlichen Daten, um die es hier geht – Fotos, Finger- und Handflächenabdrücke sowie eine Personenbeschreibung – einen weniger stark in das Recht des Bf. auf Achtung des Privatlebens eindringenden Eingriff darstellen als etwa die Sammlung von Zellproben und die Speicherung von DNA-Profilen, die erheblich mehr sensible Informationen enthalten.

(85) Was die Dauer der Speicherung der [...] Daten betrifft, bemerkt der GH, dass das innerstaatliche Recht [...] spezifische Fristen zur Überprüfung der fortbestehenden Notwendigkeit der weiteren Aufbewahrung der Daten vorsieht. Daten müssen gelöscht werden, wenn sie für die Ermittlungstätigkeit der Polizei nicht länger notwendig sind. Die Zwecke der Speicherung sowie die Art und Bedeutung des Grundes für die Aufbewahrung müssen bei dieser Einschätzung berücksichtigt werden. In Fällen wie jenem des Bf. [...] sind personenbezogene Daten in der Regel nach fünf Jahren zu löschen. [...] Der Bf. könnte daher eine Löschung seiner Daten aus dem polizeilichen Register erreichen, wenn sein Verhalten zeigt, dass die Daten nicht länger benötigt werden.

(86) Wie der GH bemerkt, unterscheidet sich der vorliegende Fall somit auch in dieser Hinsicht von Fällen wie S. und Marper/GB und Gaughran/GB , die eine unbeschränkte Speicherung von Daten betrafen, oder M. K./F, wo festgestellt wurde, dass die Daten in der Praxis 25 Jahre lang aufbewahrt werden.

(88) Aus den obigen Überlegungen geht auch hervor, dass die Möglichkeit einer Überprüfung der Notwendigkeit der weiteren Aufbewahrung der umstrittenen Daten besteht, die durch die Polizeibehörden vorgenommen wird und einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts und die Begründung des Urteils des Verwaltungsgerichts zeigen klar, dass diese Daten – in der Regel fünf Jahre nach ihrer Speicherung – zu löschen sind, wenn es in dieser Zeit kein neues strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Bf. gibt. Das bloße Interesse der Ermittlungsbehörden an einer Datenbank mit einer großen Zahl an Einträgen ist daher nicht ausreichend, um die Aufbewahrung der Daten zu rechtfertigen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Überprüfung in der Praxis die Löschung der erkennungsdienstlichen Daten nicht erlaubt, wenn diese nicht länger für den Zweck benötigt werden, für den sie erhoben worden sind.

(89) [...] Nichts deutet auf einen unzureichenden Schutz der von der Polizei gespeicherten erkennungsdienstlichen Daten des Bf. vor Missbrauch wie unerlaubtem Zugang oder Verbreitung hin [...].

(90) Der GH [...] gelangt zu dem Schluss, dass die von den nationalen Behörden zur Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens [...] vorgebrachten Gründe relevant und ausreichend waren. Die Sammlung und Aufbewahrung der Daten im vorliegenden Fall [...] fiel daher in den Ermessensspielraum des belangten Staats. Die angefochtene Maßnahme stellte somit einen verhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens dar [...] und war daher gerechtfertigt [...].

(91) Folglich hat keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Malone/GB v. 2.8.1984 = EuGRZ 1985, 17

Rotaru/RO v. 4.5.2000 (GK) = NL 2000, 96 = ÖJZ 2001, 74

S. und Marper/GB v. 4.12.2008 (GK) = NL 2008, 356 = EuGRZ 2009, 299

Gardel/F v. 17.12.2009

M. K./F v. 18.4.2013

Gaughran/GB v. 13.2.2020 = NLMR 2020, 37

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.6.2020, Bsw. 74440/17, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 213) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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