JudikaturJustizBsw72939/16

Bsw72939/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. Dezember 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache I. L. gg. die Schweiz, Urteil vom 3.12.2019, Bsw. 72939/16.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK - Fehlende gesetzliche Grundlage für Sicherungshaft.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 25.000,– für immateriellen Schaden; € 4.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Mit Urteil vom 9.2.2011 des Regionalgerichts Berner Jura-Seeland (im Folgenden: Regionalgericht) wurde der Bf. unter anderem wegen einfacher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt, deren Vollzug zugunsten einer stationären therapeutischen Maßnahme iSv. Art. 59 StGB aufgeschoben wurde. Mit Urteil vom 24.6.2011 bestätigte das Obergericht des Kantons Bern diesen Schuldspruch im Wesentlichen. Am 24.5.2016 beantragte die »Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug« des Amts für Justizvollzug des Kantons Bern beim Regionalgericht gemäß Art. 59 Abs. 4 StGB (Anm: Diese Bestimmung lautet: »Der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug beträgt in der Regel höchstens fünf Jahre. Sind die Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben und ist zu erwarten, durch die Fortführung der Maßnahme lasse sich der Gefahr weiterer mit der psychischen Störung des Täters in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen begegnen, so kann das Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde die Verlängerung der Maßnahme um jeweils höchstens fünf Jahre anordnen.«)die Verlängerung der stationären therapeutischen Maßnahme um fünf Jahre. Da eine Entscheidung über diesen Antrag nicht fristgerecht, also nicht noch vor Ablauf der Fünfjahresfrist, getroffen werden konnte, ordnete das Regionale Zwangsmaßnahmengericht Berner Jura-Seeland am 13.6.2016 auf Antrag des Regionalgerichts die Verhängung der Sicherungshaft bis zum 23.9.2016 an. Eine dagegen erhobene Beschwerde des Bf. beim Obergericht des Kantons Bern blieb erfolglos. Er rief daraufhin das Bundesgericht an.

Mit Urteil vom 16.8.2016 wies Letzteres die Beschwerde ab. Was die vom Bf. gerügte fehlende gesetzliche Grundlage für die Sicherungshaft betraf, hielt es fest, dass die Verlängerung der stationären Maßnahme einen »selbständigen nachträglichen Entscheid« iSd. Art. 363 ff. StPO (Anm: Gemäß Art. 363 Abs. 1 StPO trifft jenes Gericht, welches das erstinstanzliche Urteil gefällt hat, auch die einer gerichtlichen Behörde übertragenen selbständigen nachträglichen Entscheide, sofern Bund oder Kantone nichts anderes bestimmen.) darstellen würde. Diese Bestimmungen enthielten keine besondere Regelung für die Anordnung und Fortsetzung von Sicherungshaft bei selbständigen nachträglichen Verfahren, sodass darauf nach ständiger Rechtsprechung die Art. 221 StPO (Anm: Diese Bestimmung regelt die Voraussetzungen, unter denen die Untersuchungs- bzw. Sicherungshaft verhängt werden darf.) und Art. 229 ff. StPO (Anm: Mit den genannten Bestimmungen wird die Anordnung der und die Entlassung aus der Sicherungshaft näher geregelt.) analog anwendbar wären. Das vom Bf. angeführte Urteil des EGMR im Fall Borer/CH sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da sich dieses nicht auf die damals noch nicht in Kraft stehende Schweizerische StPO, sondern auf die StPO des Kantons Basel-Stadt bezogen habe. Nach nationalem Recht seien daher die Voraussetzungen für die Sicherungshaft im vorliegenden Fall erfüllt.

Der Bf. wurde am 20.6.2019 unter Festlegung einer Probezeit von zwei Jahren vorläufig aus der stationären therapeutischen Maßnahme entlassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), da die vom Regionalen Zwangsmaßnahmengericht Berner Jura-Seeland am 13.6.2016 angeordnete Sicherungshaft keine gesetzliche Grundlage gehabt habe.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

(35) Der GH stellt fest, dass die vorliegende Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Wiederholung der einschlägigen Prinzipien

(38) Der GH erinnert daran, dass Art. 5 Abs. 1 EMRK dann Beachtung geschenkt wird, wenn die Anhaltung »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« erfolgt und »rechtmäßig« ist. [...]

(40) Was das Kriterium der von der Konvention festgelegten »Rechtmäßigkeit« angeht, möchte der GH herausstreichen, dass es entscheidend ist, dass das innerstaatliche Recht die Voraussetzungen einer Anhaltung klar definiert und seine Anwendung [für den Rechtsunterworfenen] vorhersehbar ist.

(41) In dieser Hinsicht [...] ist die Praxis, eine Person ohne Vorhandensein einer spezifischen Rechtsgrundlage anzuhalten, unvereinbar mit den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Schutzes gegen Willkür, welche grundlegende Elemente sowohl der Konvention als auch eines Rechtsstaates darstellen.

(42) Schließlich ist festzuhalten, dass gemäß der Rechtsprechung des GH die in den lit. a – f des Art. 5 Abs. 1 EMRK vorgesehenen Gründe für die Anhaltung erschöpfend und eng auszulegen sind.

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Anwendung der zuvor erwähnten Prinzipien

(44) Was den Streitgegenstand betrifft, ist zu vermerken, dass der Bf. in seiner Beschwerde ausschließlich das Fehlen einer geeigneten Rechtsgrundlage rügt, welche als Rechtfertigung für die Verhängung der Sicherungshaft von 13.6.2016 bis 23.9.2016 dienen könnte.

(45) Der GH hält vorerst fest, dass die Anordnung der Sicherungshaft nicht notwendig gewesen wäre, wenn die Entscheidung, mit der die Verlängerung der stationären Maßnahme angeordnet wurde, rechtzeitig erfolgt wäre, mit anderen Worten vor Ablauf der von Art. 59 Abs. 4 StGB vorgesehenen Frist von fünf Jahren.

(46) Jedenfalls ist seitens des GH anzumerken, dass die Einhaltung der besagten Frist in der Praxis nicht immer möglich war – zum Beispiel weil die Erstellung einer psychiatrischen Expertise aufgrund der Komplexität des Falls mehr Zeit erforderte. Es kann daher – wie im vorliegenden Fall – in der Zeit zwischen dem Ablauf der Frist von fünf Jahren bis zum Wirksamwerden der Verlängerungsentscheidung zu einem »Zeitfenster« kommen. Während dieser Übergangszeit bleibt der Verurteilte vor allem dann in Haft, wenn ein ernster Grund zur Annahme besteht, er werde erneut ein Verbrechen oder eine schwere Straftat begehen, worauf wiederum mit der Verhängung einer Haftstrafe zu reagieren wäre.

(47) Unbestritten ist jedenfalls, dass im schweizerischen Strafrecht keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für diese Form der Anhaltung existiert.

(48) In diesem Zusammenhang ist an den Fall Laumont/F zu erinnern, wo der GH zu dem Schluss kam, dass der Verbleib einer Person in Haft ungeachtet des Nichtvorliegens einer speziellen gesetzlichen Grundlage keine Verletzung von Art. 5 EMRK darstellte, weil es sich dabei um eine »gefestigte Rechtsprechung« gehandelt hatte. Diese beruhte auf der Auslegung zweier Rechtsbestimmungen und wurde von den französischen Gerichten bereits seit ungefähr 15 Jahren angewendet (vgl. Rn. 27 und 51 des zitierten Urteils).

(49) Die Regierung unterstrich in ihren Vorbringen, dass das Bundesgericht eine konstante Rechtsprechung etabliert habe, welche das Fehlen einer speziellen gesetzlichen Grundlage geheilt habe.

(50) Im vorliegenden Fall ist festzuhalten, dass sich unter den von der Regierung zitierten Grundsatzurteilen [des Bundesgerichts] zwei Rechtssachen finden, welche die »nachträgliche Verwahrung« eines Verurteilten gemäß § 65 Abs. 2 StGB betrafen. Eine weitere Rechtssache bezog sich auf die Reichweite einer stationären therapeutischen Maßnahme bzw. deren Änderung in eine Verwahrung gemäß Art. 62c StGB.

(51) Der GH ist der Ansicht, dass die angeführten Urteile des Bundesgerichts nicht dieselbe Situation wie der vorliegende Fall betrafen, in dem es um die Verlängerung einer stationären therapeutischen Maßnahme ging. Was das Strafprozessrechtsregime angeht, bleibt nur ein einziges Grundsatzurteil übrig, welches auf die vorliegende Situation Anwendung finden könnte. (Anm: BG 18.4.2013, BGE 139 IV 175: In diesem Fall ging es ebenfalls um die nachträgliche Verlängerung einer stationären therapeutischen Maßnahme. Das Bundesgericht kam zu dem Ergebnis, dass die zwischenzeitliche Anordnung der Haft aus Sicherheitsgründen aufgrund Ablaufs der in Art. 59 Abs. 4 StGB festgelegten Frist vor Rechtsgültigkeit der Verlängerungsentscheidung auf den Art. 229-233 StPO iVm. Art. 220 Abs. 2 StPO beruht hatte (letztere Bestimmungen regeln die näheren Voraussetzungen der Untersuchungs- und »Sicherheitshaft«).)

(52) In dieser Hinsicht hat der GH bereits im Fall Weber/CH die Ansicht vertreten, dass ein einzelner gerichtlicher Präzedenzfall keine ausreichende präzise Rechtsgrundlage darzustellen vermag und daher mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar wäre (vgl. Rn. 41 des zuvor zitierten Urteils). Im Fall Borer/CH kam er außerdem zu dem Schluss, dass vier Präzedenzfälle des Bundesgerichts, die zwar vergleichbare, aber nicht identische Situationen betrafen, keine gültige rechtliche Basis für die Anhaltung des Bf. darzustellen vermochten.

(53) Im vorliegenden Fall kann daher keine Rede von einer gefestigten Rechtsprechung sein, was umso mehr angesichts der Tatsache gelten muss, dass das Bundesgericht selbst in zahlreichen Urteilen bekräftigt hat, [...] dass auf dem Gebiet der Sicherungshaft im Fall von selbständigen nachträglichen Verfahren klare gesetzliche Regelungen verabschiedet werden müssten.

(54) Angesichts des Vorgesagten kann die Frage, ob im vorliegenden Fall das Kriterium der lang bestehenden Rechtsprechung erfüllt ist, offen gelassen werden.

(55) Mit Blick auf den ernsten Eingriff in die persönliche Freiheit des Bf. und die Notwendigkeit der strikten Auslegung der für eine rechtmäßige Haft erforderlichen Voraussetzungen kann daher die vorliegend erfolgte Anwendung einer materiellen Rechtsbestimmung [Art. 221 StPO] per Analogie oder per Verweis nicht toleriert werden.

(56) Der GH möchte vermerken, dass der Schweizer Gesetzgeber sich derzeit bemüht, diese Rechtslücke [...] zu schließen.

(57) Diese Elemente sind für den GH ausreichend, um zum Schluß zu kommen, dass die [relevante] Bundesgesetzgebung nicht die Kriterien der »Rechtmäßigkeit« iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK erfüllte.

(58) Somit liegt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 25.000,– für immateriellen Schaden; € 4.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Laumont/F v. 8.11.2001

Weber/CH v. 26.7.2007 = NL 2007, 204

Borer/CH v. 10.6.2010

T. B./CH v. 30.4.2019 = NLMR 2019, 125

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.12.2019, Bsw. 72939/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 488) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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