JudikaturJustizBsw61178/14

Bsw61178/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. April 2020

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache ATV Zrt gg. Ungarn, Urteil vom 28.4.2020, Bsw. 61178/14.

Spruch

Art. 10 EMRK - Untersagung der Bezeichnung einer Partei als "rechtsextrem" durch Nachrichtensprecher.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung ist für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung; € 6.550,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das bf. Unternehmen ist Eigentümerin des unabhängigen Fernsehsenders »ATV« mit Sitz in Budapest. In der täglich ausgestrahlten Nachrichtensendung werden die Beiträge von einem Sprecher angesagt und anschließend von unterschiedlichen Reportern präsentiert.

Am 26.11.2012 sagte ein Abgeordneter der Jobbik-Partei in einer Plenarsitzung des Parlaments, »es ist Zeit, dass wir eine Einschätzung vornehmen, wie viele Personen jüdischer Herkunft ein Risiko für die nationale Sicherheit darstellen, insbesondere als Mitglieder des Parlaments und der Regierung«. Drei Tage später berichtete ATV in seiner Nachrichtensendung über eine von mehreren Parteien in Reaktion auf diese Äußerung geplante Demonstration gegen Jobbik. Der Nachrichtensprecher kündigte den Beitrag mit der Äußerung an, dass »sich am Sonntag eine noch nie dagewesene Allianz gegen die voreingenommenen Bemerkungen der extremen Rechten im Parlament bilden würde«.

Aufgrund einer von Jobbik erhobenen Beschwerde untersagte die Medienbehörde dem bf. Unternehmen die Wiederholung dieser Äußerung wegen Verstoßes gegen § 12 Abs. 3 und Abs. 4 Mediengesetz. Nach diesen Bestimmungen dürfen Nachrichtensprecher den ausgestrahlten politischen Nachrichten keine »Meinung oder wertende Erklärung« hinzufügen. Jede derartige Äußerung muss in einer Form erfolgen, die sich von jener der Nachrichten selbst unterscheidet, ihren Charakter als Meinungsäußerung angeben und ihren Urheber nennen. Die Medienbehörde begründete ihre Entscheidung damit, dass die Äußerung »extreme Rechte im Parlament« über eine Tatsachenbehauptung hinausgehe und eine Meinungsäußerung darstelle. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde von der Medienbehörde zweiter Instanz abgewiesen. Das daraufhin vom bf. Unternehmen angerufene Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest behob diese Entscheidung und verwies die Rechtssache an die Medienbehörde zweiter Instanz zurück. Die Bezeichnung als »extreme Rechte« sei nicht als Ausdruck einer Meinung über die Partei zu verstehen, sondern als simple Beschreibung, da es sich um einen in Politik und Wissenschaft gebräuchlichen Begriff handle. Die von Jobbik angerufene Kúria behob dieses Urteil am 16.4.2014 und bestätigte die Entscheidung der Medienbehörde zweiter Instanz. Sie betrachtete den Begriff »extreme Rechte« als Meinungsäußerung, da er Gegenstand einer politischen und gesellschaftlichen Debatte sei. Die dagegen von ATV Zrt erhobene Beschwerde wurde am 6.12.2016 vom Verfassungsgericht abgewiesen. In der Begründung wurde ausgeführt, das Mediengesetz verbiete Meinungsäußerungen nicht und verlange auch keine Tatsachengrundlage für diese. § 12 Mediengesetz nehme eine Abwägung vor zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht der Öffentlichkeit auf ausgewogene und sachliche Information. Es beschränke die Meinungsäußerungsfreiheit nur minimal, indem es eine klare Unterscheidung zwischen Meinungen und Nachrichteninhalten und eine Kennzeichnung verlange.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Das bf. Unternehmen behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zulässigkeit

(18) […] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(29) Das Vorliegen eines Eingriffs in das Recht des bf. Unternehmens auf freie Meinungsäußerung […] durch die umstrittene Unterlassungsanordnung steht außer Streit […].

(30) Ein solcher Eingriff muss »gesetzlich vorgesehen« sein, eines der legitimen Ziele […] verfolgen und »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« sein.

(31) Im vorliegenden Fall gehen die Ansichten der Parteien darüber auseinander, ob der Eingriff […] gesetzlich vorgesehen war. Das bf. Unternehmen brachte vor, die Auslegung des Begriffs »extreme Rechte« als Meinung und nicht als Tatsachenbehauptung durch die innerstaatlichen Gerichte und die daraus resultierende Untersagung seiner Verwendung in einer Nachrichtensendung aufgrund von § 12 Mediengesetz wäre nicht vorhersehbar gewesen.

(33) […] § 12 Mediengesetz, der als Grundlage für die Einschränkung der Aktivitäten des bf. Unternehmens herangezogen wurde, besagt, dass Moderatoren, Nachrichtensprecher oder Korrespondenten politischen Nachrichten keine Meinung oder wertende Erklärung hinzufügen dürfen.

(34) […] Nach Ansicht der Venedig-Kommission können »Tatsachen« nicht immer eindeutig von »Meinungen« abgegrenzt werden und die Unbestimmtheit der in einem Gesetz verwendeten Begriffe darf die einschlägigen Bestimmungen nicht in ein Werkzeug zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung verwandeln, selbst wenn das Gesetz ursprünglich dazu gedacht war, neutrale Nachrichtenberichterstattung zu fördern. Dennoch erachtet es der GH im vorliegenden Fall nicht als notwendig zu entscheiden, ob die obigen Überlegungen für sich als Grundlage für die Feststellung einer Verletzung von Art. 10 EMRK ausreichen.

(35) […] Die zentrale Frage ist in diesem Fall nicht, ob § 12 Mediengesetz grundsätzlich ausreichend vorhersehbar ist, insbesondere hinsichtlich der Verwendung des Begriffs »Meinung«, sondern ob das bf. Unternehmen bei der Veröffentlichung der den Begriff »extreme Rechte« enthaltenden Äußerung – falls nötig nach Einholung angemessenen rechtlichen Rats – wusste oder wissen hätte müssen, dass der Ausdruck unter den gegebenen Umständen eine »Meinung« darstellen würde.

(36) […] Die bloße Tatsache, dass der Fall des bf. Unternehmens der erste seiner Art war, macht für sich allein die Auslegung des Gesetzes noch nicht unvorhersehbar, da jede rechtliche Norm eines Tages zum ersten Mal angewendet werden muss.

(37) Nach Ansicht des GH steht die Frage, ob der Zugang der innerstaatlichen Gerichte vernünftigerweise erwartet werden konnte, in engem Zusammenhang mit der Frage, ob es in einer demokratischen Gesellschaft unter den Umständen des vorliegenden Falls und im Lichte des damit verfolgten legitimen Ziels notwendig war, den Begriff »extreme Rechte« in einer Nachrichtensendung zu untersagen. Der GH erachtet es daher nicht für geboten zu entscheiden, ob § 12 Mediengesetz in abstracto eine vorhersehbare Rechtsgrundlage für den in Beschwerde gezogenen Eingriff darstellen konnte. Er wird daher mit der Prüfung der Rechtssache fortfahren und sich den Fragen zuwenden, ob der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte und einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach.

Zum legitimen Ziel

(39) [...] Die fragliche Maßnahme zielte darauf ab, das Recht der Zuseher auf eine ausgewogene und unvoreingenommene Berichterstattung über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse in Nachrichtensendungen zu gewährleisten. Damit diente sie dem Ziel des »Schutzes der Rechte anderer«.

Zur Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(44) [...] Viele der Argumente der Parteien drehen sich […] um die Einschätzung, ob der Begriff »extreme Rechte« eine Tatsachenfeststellung oder eine Meinung ist. [...]

(45) Um festzustellen, ob der Eingriff im vorliegenden Fall notwendig war, muss der GH unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falls und des Ziels der in § 12 Mediengesetz vorgesehenen Einschränkung prüfen, ob das bf. Unternehmen vorhersehen konnte, dass die Gerichte die umstrittenen Begriffe als »Meinung« kategorisieren würden.

(46) Obwohl der Begriff der »Meinung« in § 12 Mediengesetz sehr weit zu sein scheint und alle Arten von Adjektiven umfassen kann […], war das Ziel des Verbots der Äußerung von Meinungen eindeutig der Schutz der demokratischen öffentlichen Meinung vor unangemessenem Einfluss durch Medienbetreiber. Damit diente es dem Interesse an der Verbreitung objektiver Informationen. Angesichts des Fehlens einer Legaldefinition hatte die gerichtliche Überprüfung jeder nach § 12 Mediengesetz ergriffenen Maßnahme die Aufgabe, eine ausreichend spezifische Interpretation dieser Bestimmung zu entwickeln, um genau dieses Risiko einer Verzerrung anzusprechen, dem der Staat entgegentreten wollte. Es war daher Sache der innerstaatlichen Gerichte, den Begriff »Meinung« in einer Art zu interpretieren, die das Ziel der Einschränkung berücksichtigte und sowohl das Recht des Publikums auf eine ausgewogene und unparteiische Berichterstattung über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse gewährleistete als auch das Recht der Medien, Informationen und Ideen zu verbreiten. Mit anderen Worten waren die innerstaatlichen Gerichte wegen der fehlenden Präzision der Gesetzgebung angehalten sicherzustellen, dass die umstrittene Bestimmung nur Äußerungen betraf, die wahrscheinlich eine ausgewogene Berichterstattung […] stören würden und die in vertretbarer Weise eingeschränkt werden konnten, und dass sie sich nicht zu einem Werkzeug zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung entwickelte, indem sie von Art. 10 EMRK geschützte Aktivitäten und Ideen umfasste.

(47) Was die im vorliegenden Fall erfolgte gerichtliche Überprüfung betrifft, bemerkt der GH, dass die innerstaatlichen Gerichte im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Analyseelemente vorschlugen, um über die Art des umstrittenen Ausdrucks zu entscheiden. Das Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest qualifizierte die Äußerung des Nachrichtensprechers als Tatsachenbehauptung, wobei es betonte, dass der Begriff »extreme Rechte« eine gewisse Bandbreite von politischen Ideologien beschreiben könne, die angemessene Terminologie jedoch eine Angelegenheit der gesellschaftlichen und politischen Debatte sei. […] Im Gegensatz dazu erachtete es die als zweite Instanz agierende Kúria bei der Einschätzung der umstrittenen Äußerung als Werturteil als relevant, dass sich Jobbik selbst nicht als Partei mit einem rechtsextremen Standpunkt betrachte. Das Verfassungsgericht schließlich stellte zur Erklärung des Unterschieds zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungen fest, dass ein Adjektiv als Tatsachenbehauptung eingeordnet werden könne, wenn es in der Gesellschaft zweifelsfrei anerkannt wäre. Der Begriff »extreme Rechte« wäre ein umstrittener Begriff, der weder in den Politikwissenschaften noch in der Umgangssprache eindeutig definiert sei. Daher stelle er eine subjektive Meinung dar. Dem Verfassungsgericht zufolge war er Ausdruck der persönlichen Ansicht der Organisatoren der Demonstration gegen Jobbik, von welcher sich zu distanzieren der Nachrichtensprecher verabsäumt hätte.

(48) Der GH nimmt die Vielzahl an Zugängen zur Kenntnis, die von den innerstaatlichen Gerichten bei der Bestimmung der Art der umstrittenen Äußerung angewendet wurden. Er bemerkt zudem, dass die Regierung auch nicht das Bestehen einer gemeinsamen Praxis nachgewiesen hat. Dieser Zustand lässt daran zweifeln, dass die Interpretation durch die höherrangigen innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Fall – nämlich, dass eine Äußerung, die den Begriff »extreme Rechte« enthält, eine Meinung darstellt – vernünftigerweise vorhergesehen hätte werden können.

(49) Vor allem gibt es keinen Hinweis darauf, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Beurteilung der Art des umstrittenen Begriffs versucht hätten, den Zweck der Gesetzgebung zu berücksichtigen, der darin bestand, eine ausgewogene Nachrichtenberichterstattung zu fördern. Obwohl das Verfassungsgericht auf das Recht der Öffentlichkeit auf sachliche und unvoreingenommene Informationen verwies, stellte es in seiner Entscheidung einfach fest, dass die öffentliche Meinung durch die Verwendung eines Adjektivs beeinflusst werden könnte, ohne darzulegen, ob der fragliche spezifische Begriff unter den gegebenen Umständen geeignet war, die ausgewogene Darstellung einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse zu beeinträchtigen.

(50) Der GH berücksichtigt das Argument des bf. Unternehmens […], wonach es dem Publikum ausreichend vertraut war, die Bezeichnung von Jobbik als »rechtsextreme« Partei zu hören. Es habe sich um eine in Bezug auf Jobbik in den Medien, dem wissenschaftlichen Diskurs und der Umgangssprache allgemein anerkannte Kategorie gehandelt. Der GH erachtet auch das […] allgemeinere Argument des bf. Unternehmens als gewichtig, wonach politische Parteien regelmäßig mit Adjektiven bezeichnet werden (grüne Partei, konservativ, usw.), die sich bloß auf deren politische Ziele und Programme beziehen und weder Meinungen noch Werturteile über sie darstellen würden, die beim Publikum eine Voreingenommenheit hervorrufen könnten.

(51) Das bf. Unternehmen stützte sich auch […] darauf, dass der umstrittene Begriff im Zusammenhang mit einer Demonstration gebraucht wurde, deren Anlass eine antisemitische Bemerkung eines Jobbik-Mitglieds war. Unter diesen Umständen waren solche Sachverhaltselemente nach Ansicht des GH relevant für die Behauptung, dass der Begriff »rechtsextrem« weder eine moralische Einschätzung des Verhaltens einer Person noch eine persönliche Empfindung des Sprechers betraf, sondern die Position einer Partei innerhalb des politischen Spektrums im Allgemeinen und im Parlament im Besonderen. Trotzdem berücksichtigten die innerstaatlichen Gerichte nicht das Umfeld der Informationen, die den Gegenstand der Berichterstattung bildeten. Stattdessen stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Bestimmungen des Mediengesetzes keine Tatsachengrundlage für eine Meinungsäußerung verlangen würden, womit es implizit jede auf der Wahrheit und sachlichen Richtigkeit des verwendeten Begriffs beruhende Verteidigung des bf. Unternehmens als irrelevant erachtete.

(52) Angesichts der divergierenden Ansätze der innerstaatlichen Gerichte zur Unterscheidung von Fakten und Meinungen, des Ziels der einschlägigen Bestimmungen des Mediengesetzes und der Umstände des vorliegenden Falls konnte das bf. Unternehmen nach Ansicht des GH nicht vorhersehen, dass der Begriff »rechtsextrem« als Meinung qualifiziert würde. Genauso wenig konnte es vorhersehen, dass das Verbot seiner Verwendung in einer Nachrichtensendung notwendig wäre, um eine unvoreingenommene Berichterstattung zu schützen.

(53) Daher begründete die dem bf. Unternehmen auferlegte Einschränkung bei der Verwendung des umstrittenen Begriffs einen unverhältnismäßigen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung, der in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war.

(55) Folglich hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung ist für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung; € 6.550,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Centro Europa 7 S.r.l. und Di Stefano/I v. 7.6.2012 (GK) = NLMR 2012, 176

Bédat/CH v. 29.3.2016 (GK) = NLMR 2016, 152

Karácsony u.a./H v. 17.5.2016 (GK) = NLMR 2016, 259

Sekmadienis Ltd./LT v. 30.1.2018 = NLMR 2018, 60

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.4.2020, Bsw. 61178/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 121) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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