JudikaturJustizBsw59006/18

Bsw59006/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
08. Dezember 2020

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache M. M. gg. die Schweiz, Urteil vom 8.12.2020, Bsw. 59006/20.

Spruch

Art. 8 EMRK - Ausweisung eines in der Schweiz geborenen und aufgewachsenen Sexualstraftäters auf befristete Zeit.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist spanischer Staatsangehöriger und wurde 1980 in der Schweiz geboren. Bis zu seiner Ausweisung nach Spanien verfügte er über eine Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz.

Anfang 2018 wurde der Bf. vom Polizeigericht X. des zweifachen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und des Konsums von Rauschgift schuldig gesprochen. Das Gericht stufte seine Schuld ungeachtet des Konsums von Drogen und Alkohol am Tag der Tatbegehung als bedeutend ein, hätte man doch auf seinem Mobiltelefon Fotos von jungen Mädchen und Hinweise vorgefunden, dass er Nachforschungen pädophilen Charakters angestellt hätte. Es verhängte eine Geldstrafe und eine zwölfmonatige Freiheitsstrafe über den Bf. , welche für eine Probezeit von drei Jahren unter der Bedingung nachgesehen wurde, dass er sich einer therapeutischen Behandlung in einem Präventionszentrum unterziehe und sich um eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft bemühe. Eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot wurde nicht in Betracht gezogen. (Anm: Gemäß Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB sind Ausländer unabhängig von der Höhe der Strafe, die sie für die Begehung sexueller Handlungen an Kindern erhalten haben, für die Dauer von fünf bis fünfzehn Jahre aus der Schweiz auszuweisen. Gemäß Art. 66a Abs. 2 leg. cit. kann das zuständige Gericht jedoch ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind.)

Mit Urteil vom 12.6.2018 gab die strafrechtliche Abteilung des zuständigen Kantonsgerichts einem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft Folge und änderte das erstinstanzliche Urteil dahingehend ab, dass der Bf. für die Dauer von fünf Jahren außer Landes zu verweisen sei.

Der Bf. erhob dagegen Beschwerde an das Bundesgericht, welches diese mit folgender Begründung abwies (Auszug): »[...] Was die Frage der Anwendung des Art. 66a Abs. 2 StGB betrifft, ist anzumerken, dass es sich dabei um eine Kann-Bestimmung in dem Sinne handelt, dass der Richter nicht auf eine Ausweisung verzichten muss, sondern diese anordnen kann, sofern die in der Bestimmung festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Nur wenn feststeht, dass die Landesverweisung einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde, ist in einem zweiten Schritt das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz dem öffentlichen Interesse an einem Verlassen des Landes gegenüberzustellen. [...] Nach durchgeführter Interessenabwägung kommt das Bundesgericht zu dem Ergebnis, dass die Härtefallklausel im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangt. Mit Blick auf die nicht besonders gut gelungene Integration des Bf. in der Schweiz, das Fehlen sozialer und familiärer Bindungen bzw. einer beruflichen Ausbildung dort, sein offenkundiges Desinteresse, sich an die Schweizer Rechtsordnung zu halten, die dürftigen Aussichten einer sozialen Wiedereingliederung in die Gesellschaft, die Schwere der Straftat und das Bestehen eines Rückfallrisikos übersteigt das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung sein persönliches Interesse an einen Verbleib in der Schweiz. Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass die Integration des Bf. in Spanien angesichts seiner schlechten Spanischkenntnisse und des Fehlens naher Angehöriger nicht einfach sein wird.«

Der Bf. verließ die Schweiz Mitte Juli 2019 Richtung Spanien.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete, die Anordnung seiner Außerlandesschaffung bzw. die Auferlegung eines Aufenthaltsverbots für die Schweiz als Folge seiner strafrechtlichen Verurteilung hätten sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK verletzt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Zulässigkeit

(33) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund […] unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

In der Sache

(45) Im vorliegenden Fall liegt unstrittig ein Eingriff [...] in das Privatleben des Bf. vor.

(47) Von den Parteien wird nicht bestritten, dass die Ausweisung des Bf. und die Verhängung eines Aufenthaltsverbots für die Schweiz für die Dauer von fünf Jahren vom StGB vorgesehen waren.

(48) Angesichts mehrfacher Verstöße gegen das StGB, die [...] zu vier strafrechtlichen Verurteilungen führten, kann auch der Bf. nicht bestreiten, dass der von ihm gerügte Eingriff mit der Konvention vereinbare Ziele, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, verfolgte.

[Zu prüfen ist daher, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.]

Allgemeine Grundsätze

Nach der gefestigten Rechtsprechung des GH sind in Fällen, in denen es sich bei der auszuweisenden Person um einen Erwachsenen ohne Kinder handelt, der sich in erster Linie auf seine Integration im Gaststaat beruft, folgende Kriterien zu berücksichtigen: der Charakter und die Schwere der von ihm begangenen Straftat; die Aufenthaltsdauer [...]; die Zeit, die seit dem Rechtsbruch vergangen ist und das Verhalten des Bf. während dieses Zeitraums; die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gast- und zum Zielstaat.

(52) [...] Für den Fall, dass ein Einwanderer sein gesamtes Leben im Aufenthaltsstaat verbracht hat, müssen stichhaltige Gründe vorgebracht werden, um seine Ausweisung zu rechtfertigen. Dies hat insbesondere dann zu gelten, wenn der Betroffene die zur Abschiebeentscheidung führenden Straftaten während seiner Jugend begangen hat. Die Würdigung der relevanten Fakten [durch die innerstaatlichen Gerichte] muss ein »akzeptables« Niveau aufweisen.

(54) [Was den vorliegenden Fall angeht,] ist seitens des GH vorab klarzustellen, dass [...] Art. 66a StGB [...] ungeachtet der Überschrift »Obligatorische Landesverweisung« nicht einen automatischen Ausweisungsmechanismus betreffend straffällig gewordene Ausländer eingeführt hat, ohne eine richterliche Kontrolle der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme vorzusehen. Dies wäre ansonsten unvereinbar mit Art. 8 EMRK. Der GH hält ebenfalls fest, dass die vom Bundesgericht vorgenommene Interpretation zur in Art. 66a Abs. 2 StGB enthaltenen Härtefallklausel a priori eine konventionskonforme Anwendung gestattet. Laut dem zweiten Satz der zuletzt genannten Bestimmung hat der Richter bei der Interessenabwägung »der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind«. Der GH wird nun gemäß den von ihm entwickelten Kriterien eine Einzelfallprüfung vornehmen.

(55) Zur Schwere der vom Bf. begangenen Straftaten ist vorerst zu vermerken, dass [...] diese von ihm 2018 begangen wurden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem er erwiesenermaßen kein Jugendlicher mehr war.

(56) Die ausgesprochene Strafe (12 Monate bedingt bei einer dreijährigen Bewährungsfrist) war relativ milde. [...] Das über den Bf. verhängte Aufenthaltsverbot belief sich lediglich auf eine Dauer von fünf Jahren und war die mildeste Sanktion, die unter Art. 66a StGB angeordnet werden konnte.

(57) Der Bf. hat sein gesamtes Leben in der Schweiz verbracht. Der GH muss sich daher vergewissern, ob die innerstaatlichen Gerichte stichhaltige Gründe zur Rechtfertigung der Ausweisung vorgebracht haben.

(58) Im vorliegenden Fall wurde vom Bundesgericht der Tatsache Augenmerk geschenkt, dass die in Frage stehenden Delikte schwerwiegend waren und der Bf. einem besonders gewichtigen Schutzgut, nämlich der sexuellen Integrität einer Minderjährigen, Schaden zugefügt und damit die Sicherheit und öffentliche Ordnung in der Schweiz ernsthaft beeinträchtigt hatte. Das Bundesgericht hielt auch fest, dass der Bf. eine gewisse Missachtung der Schweizer Rechtsordnung an den Tag gelegt hatte, war er doch in der Vergangenheit bereits drei Mal strafrechtlich verurteilt worden. Ferner wurde das Rückfallsrisiko einer Bewertung unterzogen, indem das Interesse des Bf. an vorpubertären Mädchen berücksichtigt wurde, welches sich insbesondere anhand der zahlreichen Fotos von zehn- bis zwölfjährigen Mädchen belegen ließ, die auf seinem Mobiltelefon gefunden wurden, wie auch durch die mit diesem Gerät durchgeführten Recherchen pädophiler Natur [...].

(59) Ferner ist festzuhalten, dass das Polizeigericht dem Bf. einen erhöhten Schuldgrad bescheinigte und darauf verzichtete, aufgrund seines Konsums von Alkohol und Drogen am Tag der Deliktsbegehung auf eine Verminderung seiner strafrechtlichen Verantwortung zu schließen. Der Bf. hat für die an der Minderjährigen begangene Handlung keine andere Erklärung geliefert, als dass er zum Tatzeitpunkt Drogen und Alkohol konsumiert hätte. Laut Einschätzung der innerstaatlichen Behörden schien er nicht ernsthaften Willens zu sein, die Mechanismen zu identifizieren, die ihn zu dieser Tat getrieben hatten, und sich einer Strategie zu bedienen, um mit derartigen Risikosituationen umzugehen.

(60) Der GH stellt fest, dass der Bf. der zweifachen Begehung sexueller Handlungen an Minderjährigen schuldig erkannt wurde. Man kann daher entgegen seinem Vorbringen nicht von einem »isolierten Einzelfall« ausgehen. [...]

(61) Was die nach der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des Bf. während dieses Zeitraums angeht, hat das Bundesgericht [...] konstatiert, dass sich dieser seither wohlverhalten hat. Aus einem Bericht des Amtes für Justizvollzug vom 27.4.2018 geht hervor, dass der Bf. die vereinbarten Gesprächstermine einhielt, sich im Hinblick auf berufliche Aktivitäten engagierte, sich regelmäßig beim Präventionszentrum meldete und überhaupt von adäquaten Rahmenbedingungen zu profitieren schien, die ihm eine positive Entwicklung garantieren sollten, wenngleich er noch weitere Anstrengungen unternehmen musste.

(62) [...] Dennoch hat das Bundesgericht die Wiedereingliederungsaussichten des Bf. in die Gesellschaft eher als dürftig eingeschätzt und die Ansicht vertreten, dass seine Aktivitäten [...] [in diese Richtung] auf keinen wie immer gearteten Wunsch nach einer Integration in der Schweiz hinweisen würden.

(64) Zur Familiensituation des Bf. ist zu sagen, dass dieser die diesbezüglichen Feststellungen der nationalen Gerichte nicht in Zweifel gezogen hat. Demnach ist er volljährig (geboren 1980), Junggeselle, hat keine Kinder und lebt alleine. Sein Vater ist verstorben. Seine Mutter lebt in der Schweiz, jedoch unterhält der Bf. weder zu ihr noch zu anderen Familienangehörigen Beziehungen.

(65) Der GH weist darauf hin, dass sich der Bf. dem Bundesgericht zufolge auf keinerlei soziale, kulturelle, familiäre oder berufliche Verbindungen zu berufen vermochte. [...]

(67) Was die Festigkeit seiner Bindungen zu Spanien anbelangt, haben die Schweizer Behörden erhoben, dass der Bf. gewisse Kenntnisse der spanischen Sprache aufweist und in diesem Land entfernte Verwandte hat. Nach Ansicht des GH wird durch diese Feststellungen das Vorbringen des Bf. erheblich relativiert [,wonach er keine Kontakte zu seinem Herkunftsstaat habe, er kein Spanisch spreche und dort niemanden kenne.]

(68) [...] Der Bf. hat auch zu keiner Zeit vor den nationalen Stellen von medizinischen Problemen berichtet, welche ein Hindernis für seine Außerlandesschaffung darstellen könnten.

(69) Zusammenfassend gesagt haben die Kantonsgerichte und das Bundesgericht eine ernsthafte Prüfung der persönlichen Situation des Bf. und der unterschiedlichen auf dem Spiel stehenden Interessen durchgeführt. Sie verfügten daher über sehr solide Argumente zur Rechtfertigung der Entfernung des Bf. vom Schweizer Staatsgebiet für eine begrenzte Zeit. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass der Eingriff verhältnismäßig zum gesetzlich verfolgten Ziel und somit in einer demokratischen Gesellschaft iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig war.

(70) Es hat daher keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Üner/NL v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 251

Emre/CH v. 22.5.2008 = NL 2008, 145

Maslov/A v. 23.6.2008 (GK) = NL 2008, 157

Saber und Boughassal/E v. 18.12.2018

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.12.2020, Bsw. 59006/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 487) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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